ohne große Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem Hermann und Dorothea, so wie mit den englischen Romanen des Richardson. Es unterscheidet sich aber wieder dadurch daß bey ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen singen immerfort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht wie der Tag selber. Und das In¬ nere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder. Z. B. "Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam, saßen sie auf feinen Rohrstühlen." Da haben Sie gleich die allerliebste Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Er¬ zählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B. von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer Blume balanciren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreyßigsten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebes¬ paaren, die in einem langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genöthigt waren, eine Nacht
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ohne große Leidenſchaft und poetiſchen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem Hermann und Dorothea, ſo wie mit den engliſchen Romanen des Richardſon. Es unterſcheidet ſich aber wieder dadurch daß bey ihnen die aͤußere Natur neben den menſchlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfiſche in den Teichen hoͤrt man immer plaͤtſchern, die Voͤgel auf den Zweigen ſingen immerfort, der Tag iſt immer heiter und ſonnig, die Nacht immer klar; vom Mond iſt viel die Rede, allein er veraͤndert die Landſchaft nicht, ſein Schein iſt ſo helle gedacht wie der Tag ſelber. Und das In¬ nere der Haͤuſer ſo nett und zierlich wie ihre Bilder. Z. B. „Ich hoͤrte die lieblichen Maͤdchen lachen, und als ich ſie zu Geſichte bekam, ſaßen ſie auf feinen Rohrſtuͤhlen.“ Da haben Sie gleich die allerliebſte Situation, denn Rohrſtuͤhle kann man ſich gar nicht ohne die groͤßte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Er¬ zaͤhlung nebenher gehen und gleichſam ſprichwoͤrtlich angewendet werden. Z. B. von einem Maͤdchen, das ſo leicht und zierlich von Fuͤßen war, daß ſie auf einer Blume balanciren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der ſich ſo ſittlich und brav hielt, daß er in ſeinem dreyßigſten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiſer zu reden. Und ferner von Liebes¬ paaren, die in einem langen Umgange ſich ſo enthaltſam bewieſen, daß, als ſie einſt genoͤthigt waren, eine Nacht
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ohne große Leidenſchaft und poetiſchen Schwung und
hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem Hermann und
Dorothea, ſo wie mit den engliſchen Romanen des
Richardſon. Es unterſcheidet ſich aber wieder dadurch
daß bey ihnen die aͤußere Natur neben den menſchlichen
Figuren immer mitlebt. Die Goldfiſche in den Teichen
hoͤrt man immer plaͤtſchern, die Voͤgel auf den Zweigen
ſingen immerfort, der Tag iſt immer heiter und ſonnig,
die Nacht immer klar; vom Mond iſt viel die Rede,
allein er veraͤndert die Landſchaft nicht, ſein Schein
iſt ſo helle gedacht wie der Tag ſelber. Und das In¬
nere der Haͤuſer ſo nett und zierlich wie ihre Bilder.
Z. B. „Ich hoͤrte die lieblichen Maͤdchen lachen, und
als ich ſie zu Geſichte bekam, ſaßen ſie auf feinen
Rohrſtuͤhlen.“ Da haben Sie gleich die allerliebſte
Situation, denn Rohrſtuͤhle kann man ſich gar nicht
ohne die groͤßte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und
nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Er¬
zaͤhlung nebenher gehen und gleichſam ſprichwoͤrtlich
angewendet werden. Z. B. von einem Maͤdchen, das
ſo leicht und zierlich von Fuͤßen war, daß ſie auf einer
Blume balanciren konnte, ohne die Blume zu knicken.
Und von einem jungen Manne, der ſich ſo ſittlich und
brav hielt, daß er in ſeinem dreyßigſten Jahre die Ehre
hatte, mit dem Kaiſer zu reden. Und ferner von Liebes¬
paaren, die in einem langen Umgange ſich ſo enthaltſam
bewieſen, daß, als ſie einſt genoͤthigt waren, eine Nacht
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/343>, abgerufen am 23.11.2024.
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