[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. die Auslassung einem Jtaliener so, geschienen haben,als jene seine Lobsatyre, auf ein schönes aber groß- nasichtes Mädchen, die alle Theile ihres Gesichts zum Himmel erhob, und bei Schilderung der Nase ohnmächtig aufhörte. Oder er mußte solche Züge, die sich nicht anders, als durch die Form anschauend machen ließen, schon so schildern, und sich desto mehr an andern reizvollen geistigen Zügen erholen. Jch halte diese Vermischung auch zu sehr nach dem Ge- schmacke der Jtaliener, als daß sie sich durch die vor- stehende Lessingsche Critik diese und dergleichen Schilderungen, von denen ihre Dichter voll sind, würden rauben lassen. Noch minder gilt die Ur- sache a), warum Ariost mit seiner Schilderung Un- recht haben soll: "was für ein Bild geben diese "allgemeinen Formeln? Jn dem Munde eines Zei- "chenmeisters, der seine Schüler auf die Schönhei- "ten des akademischen Modells aufmerksam machen "will, möchten sie noch etwas sagen; denn ein Blick "auf dieses Modell, und sie sehen Stirn, Nase, "Hand u. s. w. Aber bei dem Dichter sehe ich "nichts." Eben als wenn der Dichter die Figu- ren, die er schildert, auch im Kupfer müßte vorste- chen lassen? Wer hat nicht eine Nase, Hand, Stirn gesehen, und wem kostet es Anstrengung, sich eine Stirn, in den besten Schranken, den schönsten Schnitt einer Nase, die schmale Breite einer niedli- chen a) p. 211. Q
Erſtes Waͤldchen. die Auslaſſung einem Jtaliener ſo, geſchienen haben,als jene ſeine Lobſatyre, auf ein ſchoͤnes aber groß- naſichtes Maͤdchen, die alle Theile ihres Geſichts zum Himmel erhob, und bei Schilderung der Naſe ohnmaͤchtig aufhoͤrte. Oder er mußte ſolche Zuͤge, die ſich nicht anders, als durch die Form anſchauend machen ließen, ſchon ſo ſchildern, und ſich deſto mehr an andern reizvollen geiſtigen Zuͤgen erholen. Jch halte dieſe Vermiſchung auch zu ſehr nach dem Ge- ſchmacke der Jtaliener, als daß ſie ſich durch die vor- ſtehende Leſſingſche Critik dieſe und dergleichen Schilderungen, von denen ihre Dichter voll ſind, wuͤrden rauben laſſen. Noch minder gilt die Ur- ſache a), warum Arioſt mit ſeiner Schilderung Un- recht haben ſoll: „was fuͤr ein Bild geben dieſe „allgemeinen Formeln? Jn dem Munde eines Zei- „chenmeiſters, der ſeine Schuͤler auf die Schoͤnhei- „ten des akademiſchen Modells aufmerkſam machen „will, moͤchten ſie noch etwas ſagen; denn ein Blick „auf dieſes Modell, und ſie ſehen Stirn, Naſe, „Hand u. ſ. w. Aber bei dem Dichter ſehe ich „nichts.„ Eben als wenn der Dichter die Figu- ren, die er ſchildert, auch im Kupfer muͤßte vorſte- chen laſſen? Wer hat nicht eine Naſe, Hand, Stirn geſehen, und wem koſtet es Anſtrengung, ſich eine Stirn, in den beſten Schranken, den ſchoͤnſten Schnitt einer Naſe, die ſchmale Breite einer niedli- chen a) p. 211. Q
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Erſtes Waͤldchen.
die Auslaſſung einem Jtaliener ſo, geſchienen haben,
als jene ſeine Lobſatyre, auf ein ſchoͤnes aber groß-
naſichtes Maͤdchen, die alle Theile ihres Geſichts
zum Himmel erhob, und bei Schilderung der Naſe
ohnmaͤchtig aufhoͤrte. Oder er mußte ſolche Zuͤge,
die ſich nicht anders, als durch die Form anſchauend
machen ließen, ſchon ſo ſchildern, und ſich deſto mehr
an andern reizvollen geiſtigen Zuͤgen erholen. Jch
halte dieſe Vermiſchung auch zu ſehr nach dem Ge-
ſchmacke der Jtaliener, als daß ſie ſich durch die vor-
ſtehende Leſſingſche Critik dieſe und dergleichen
Schilderungen, von denen ihre Dichter voll ſind,
wuͤrden rauben laſſen. Noch minder gilt die Ur-
ſache a), warum Arioſt mit ſeiner Schilderung Un-
recht haben ſoll: „was fuͤr ein Bild geben dieſe
„allgemeinen Formeln? Jn dem Munde eines Zei-
„chenmeiſters, der ſeine Schuͤler auf die Schoͤnhei-
„ten des akademiſchen Modells aufmerkſam machen
„will, moͤchten ſie noch etwas ſagen; denn ein Blick
„auf dieſes Modell, und ſie ſehen Stirn, Naſe,
„Hand u. ſ. w. Aber bei dem Dichter ſehe ich
„nichts.„ Eben als wenn der Dichter die Figu-
ren, die er ſchildert, auch im Kupfer muͤßte vorſte-
chen laſſen? Wer hat nicht eine Naſe, Hand, Stirn
geſehen, und wem koſtet es Anſtrengung, ſich eine
Stirn, in den beſten Schranken, den ſchoͤnſten
Schnitt einer Naſe, die ſchmale Breite einer niedli-
chen
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