Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.eines Schornsteinfegers und andere Handwerke dürfe er nicht Die Beurtheilung des vorliegenden Krankheitsfalles hat eines Schornſteinfegers und andere Handwerke duͤrfe er nicht Die Beurtheilung des vorliegenden Krankheitsfalles hat <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0190" n="182"/> eines Schornſteinfegers und andere Handwerke duͤrfe er nicht<lb/> verſchmaͤhen, denn auch Gott ſei Menſch geweſen, und habe<lb/> Alles durchgemacht, ehe er vollkommen geworden ſei, und da<lb/> er, E., ſein Nachfolger werden ſolle, ſo muͤſſe er ihm auch<lb/> hierin nachahmen. Im Uebrigen war ſein Betragen ruhig,<lb/> friedlich, folgſam, und nur einmal wurde er ungehalten, als<lb/> man ihm den langgewachſenen Bart abſchor, durch welchen<lb/> er ſich ein wuͤrdevolles Anſehn geben wollte, und dem er eine<lb/> gewiſſe Zugkraft zuſchrieb.</p><lb/> <p>Die Beurtheilung des vorliegenden Krankheitsfalles hat<lb/> beſonders Ruͤckſicht auf zwei urſachliche Bedingungen zu neh¬<lb/> men, durch deren Zuſammentreffen demſelben ſehr wahrſchein¬<lb/> lich der Charakter der Unheilbarkeit mitgetheilt worden iſt.<lb/> Zuvoͤrderſt iſt E. durch die ſchwaͤrmeriſche Ueberſpannung ſeiner<lb/> Froͤmmigkeit ſeit fruͤher Jugend einer naturgemaͤßen Entwicke¬<lb/> lung des Geiſtes gaͤnzlich verluſtig gegangen; er lernte es nie,<lb/> ſich in die Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe der wirklichen Welt<lb/> hineinzudenken, und blieb in ihr ſo ſehr ein Fremdling, daß<lb/> er ſeine ganze Beſtimmung durch bodenloſe Gruͤbeleien uͤber<lb/> religioͤſe Contemplationen zu erfuͤllen glaubte, woran ſelbſt ſein<lb/> mechaniſcher Fleiß in einem Gewerbe ihn nicht verhindern konnte,<lb/> welches ſeine Reflexion gar nicht in Anſpruch nahm. Durch<lb/> ein hoͤchſt unguͤnſtiges Mißgeſchick wurde er uͤberdies noch meh¬<lb/> rere Jahre hindurch in die unſeeligen Glaubensſtreitigkeiten<lb/> der Wiedertaͤufer verwickelt, in denen er ſich ſo wenig zurecht¬<lb/> zufinden wußte, daß er in dem Kampfe der in ihm aufgereg¬<lb/> ten Glaubenszweifel den Frieden ſeines Gemuͤths einbuͤßte, und<lb/> nur kuͤmmerlichen Troſt in dem Loßreißen von der ihm ſo ver¬<lb/> derblich gewordenen Secte fand. Vielleicht haͤtte er damals<lb/> noch zur Beſonnenheit zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen, aber ſein<lb/> Unſtern wollte, daß er aus uͤbelverſtandener Neigung zur wiſ¬<lb/> ſenſchaftlichen Ausbildung, woran wahrſcheinlich verſteckte Ver¬<lb/> ſtandeseitelkeit einen bedeutenden Antheil hatte, Jahre lang ei¬<lb/> ner planloſen, ja ſinnverwirrenden Lectuͤre ſich ergab, welche<lb/> ſeinen Kopf mit einer Menge von unverdauten Kenntniſſen<lb/> erfuͤllte, und dadurch unmittelbar auf eine Zerruͤttung des<lb/> Denkens hinarbeitete. Unter den mannigfachen Gebrechen ei¬<lb/> nes verbildeten Verſtandes iſt unſtreitig die gaͤnzliche Unter¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [182/0190]
eines Schornſteinfegers und andere Handwerke duͤrfe er nicht
verſchmaͤhen, denn auch Gott ſei Menſch geweſen, und habe
Alles durchgemacht, ehe er vollkommen geworden ſei, und da
er, E., ſein Nachfolger werden ſolle, ſo muͤſſe er ihm auch
hierin nachahmen. Im Uebrigen war ſein Betragen ruhig,
friedlich, folgſam, und nur einmal wurde er ungehalten, als
man ihm den langgewachſenen Bart abſchor, durch welchen
er ſich ein wuͤrdevolles Anſehn geben wollte, und dem er eine
gewiſſe Zugkraft zuſchrieb.
Die Beurtheilung des vorliegenden Krankheitsfalles hat
beſonders Ruͤckſicht auf zwei urſachliche Bedingungen zu neh¬
men, durch deren Zuſammentreffen demſelben ſehr wahrſchein¬
lich der Charakter der Unheilbarkeit mitgetheilt worden iſt.
Zuvoͤrderſt iſt E. durch die ſchwaͤrmeriſche Ueberſpannung ſeiner
Froͤmmigkeit ſeit fruͤher Jugend einer naturgemaͤßen Entwicke¬
lung des Geiſtes gaͤnzlich verluſtig gegangen; er lernte es nie,
ſich in die Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe der wirklichen Welt
hineinzudenken, und blieb in ihr ſo ſehr ein Fremdling, daß
er ſeine ganze Beſtimmung durch bodenloſe Gruͤbeleien uͤber
religioͤſe Contemplationen zu erfuͤllen glaubte, woran ſelbſt ſein
mechaniſcher Fleiß in einem Gewerbe ihn nicht verhindern konnte,
welches ſeine Reflexion gar nicht in Anſpruch nahm. Durch
ein hoͤchſt unguͤnſtiges Mißgeſchick wurde er uͤberdies noch meh¬
rere Jahre hindurch in die unſeeligen Glaubensſtreitigkeiten
der Wiedertaͤufer verwickelt, in denen er ſich ſo wenig zurecht¬
zufinden wußte, daß er in dem Kampfe der in ihm aufgereg¬
ten Glaubenszweifel den Frieden ſeines Gemuͤths einbuͤßte, und
nur kuͤmmerlichen Troſt in dem Loßreißen von der ihm ſo ver¬
derblich gewordenen Secte fand. Vielleicht haͤtte er damals
noch zur Beſonnenheit zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen, aber ſein
Unſtern wollte, daß er aus uͤbelverſtandener Neigung zur wiſ¬
ſenſchaftlichen Ausbildung, woran wahrſcheinlich verſteckte Ver¬
ſtandeseitelkeit einen bedeutenden Antheil hatte, Jahre lang ei¬
ner planloſen, ja ſinnverwirrenden Lectuͤre ſich ergab, welche
ſeinen Kopf mit einer Menge von unverdauten Kenntniſſen
erfuͤllte, und dadurch unmittelbar auf eine Zerruͤttung des
Denkens hinarbeitete. Unter den mannigfachen Gebrechen ei¬
nes verbildeten Verſtandes iſt unſtreitig die gaͤnzliche Unter¬
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