Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Die weibliche Ehre. Ehre weder fähig noch würdig. Keine Lobsprüche, ichmag sie freywillig erhalten oder auf irgend eine Art erzwingen, sind im Stande, mir den Mangel jener guten Eigenschaften zu ersetzen. Tugend und Unschuld machen meine Ehre aus; und die Mühe, welche ich mir gebe, auch andere zu überzeugen, daß ich tugendhaft und unschuldig bin, dieß ist die edelste, heilsamste Ehrbegierde, wobey meine Vollkommenheit in jeder Betrachtung gewinnen muß. So eine zarte, empfindliche Blume meine Un- Ja, nicht blos das wirkliche Laster, nicht nur meide,
Die weibliche Ehre. Ehre weder fähig noch würdig. Keine Lobſprüche, ichmag ſie freywillig erhalten oder auf irgend eine Art erzwingen, ſind im Stande, mir den Mangel jener guten Eigenſchaften zu erſetzen. Tugend und Unſchuld machen meine Ehre aus; und die Mühe, welche ich mir gebe, auch andere zu überzeugen, daß ich tugendhaft und unſchuldig bin, dieß iſt die edelſte, heilſamſte Ehrbegierde, wobey meine Vollkommenheit in jeder Betrachtung gewinnen muß. So eine zarte, empfindliche Blume meine Un- Ja, nicht blos das wirkliche Laſter, nicht nur meide,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0114" n="102"/><fw place="top" type="header">Die weibliche Ehre.</fw><lb/> Ehre weder fähig noch würdig. Keine Lobſprüche, ich<lb/> mag ſie freywillig erhalten oder auf irgend eine<lb/> Art erzwingen, ſind im Stande, mir den Mangel<lb/> jener guten Eigenſchaften zu erſetzen. Tugend und<lb/> Unſchuld machen meine Ehre aus; und die Mühe,<lb/> welche ich mir gebe, auch andere zu überzeugen, daß<lb/> ich tugendhaft und unſchuldig bin, dieß iſt die edelſte,<lb/> heilſamſte Ehrbegierde, wobey meine Vollkommenheit<lb/> in jeder Betrachtung gewinnen muß.</p><lb/> <p>So eine zarte, empfindliche Blume meine Un-<lb/> ſchuld ſelbſt iſt, ſo zart und empfindlich iſt auch die<lb/> Ehre meines Geſchlechts und meines Standes. So<lb/> leicht jene zerknikt und hinfällig wird, ſo leicht gehet<lb/> auch dieſe verloren. So unerſetzlich jene iſt, ſo we-<lb/> nig vermag ich auch dieſe wieder herzuſtellen, wenn<lb/> ich ſie einmal vernachläſſiget und mich irgend einer<lb/> verdienten Beſchämung Preis gegeben habe. Mit<lb/> je weniger ſtarkem Glanze meine jungfräuliche Ehre<lb/> blenden, je ſanfter und ruhiger ſie blos mir auf mei-<lb/> nem Wege durch ihren beſcheidenen Schimmer leuch-<lb/> ten ſoll, deſto mehr Vorſicht und Behutſamkeit muß<lb/> ich anwenden, um dieſes ſchwache Licht keinem Stur-<lb/> me der Leidenſchaften auszuſetzen, um es nicht auf<lb/> den wilden Irrgängen verbotener Begierden verlöſchen<lb/> zu laſſen.</p><lb/> <p>Ja, nicht blos das wirkliche Laſter, nicht nur<lb/> der Verluſt meiner Unſchuld ſelbſt, auch ſchon ein<lb/> mehr oder weniger gegründeter Schein kann meine<lb/> Ehre und meinen guten Ruf untergraben. In dieſer<lb/> Abſicht iſt es nicht genug, daß ich das Böſe wirklich<lb/> <fw place="bottom" type="catch">meide,</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [102/0114]
Die weibliche Ehre.
Ehre weder fähig noch würdig. Keine Lobſprüche, ich
mag ſie freywillig erhalten oder auf irgend eine
Art erzwingen, ſind im Stande, mir den Mangel
jener guten Eigenſchaften zu erſetzen. Tugend und
Unſchuld machen meine Ehre aus; und die Mühe,
welche ich mir gebe, auch andere zu überzeugen, daß
ich tugendhaft und unſchuldig bin, dieß iſt die edelſte,
heilſamſte Ehrbegierde, wobey meine Vollkommenheit
in jeder Betrachtung gewinnen muß.
So eine zarte, empfindliche Blume meine Un-
ſchuld ſelbſt iſt, ſo zart und empfindlich iſt auch die
Ehre meines Geſchlechts und meines Standes. So
leicht jene zerknikt und hinfällig wird, ſo leicht gehet
auch dieſe verloren. So unerſetzlich jene iſt, ſo we-
nig vermag ich auch dieſe wieder herzuſtellen, wenn
ich ſie einmal vernachläſſiget und mich irgend einer
verdienten Beſchämung Preis gegeben habe. Mit
je weniger ſtarkem Glanze meine jungfräuliche Ehre
blenden, je ſanfter und ruhiger ſie blos mir auf mei-
nem Wege durch ihren beſcheidenen Schimmer leuch-
ten ſoll, deſto mehr Vorſicht und Behutſamkeit muß
ich anwenden, um dieſes ſchwache Licht keinem Stur-
me der Leidenſchaften auszuſetzen, um es nicht auf
den wilden Irrgängen verbotener Begierden verlöſchen
zu laſſen.
Ja, nicht blos das wirkliche Laſter, nicht nur
der Verluſt meiner Unſchuld ſelbſt, auch ſchon ein
mehr oder weniger gegründeter Schein kann meine
Ehre und meinen guten Ruf untergraben. In dieſer
Abſicht iſt es nicht genug, daß ich das Böſe wirklich
meide,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |