Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Entsagung des Stolzes. ist etwa die Schönheit des Körpers ein wahrer, we-sentlicher Vorzug, der meinen Stolz entschuldigen kann? Habe ich denn mich, haben denn andere sich selbst gebildet? Sind äussere Reize nicht etwas zufäl- liges und im Grunde etwas unbedeutendes? Macht denn wohl körperliche Schönheit den Menschen zum Menschen? Ist sie ein unentbehrlicher Vorzug ver- nünftiger und unsterblicher Wesen? Beruhet wohl meine Würde auf derselben? Kann sie den Mangel der Weisheit und Tugend ersetzen? Kann sie mir in den Augen verständiger Menschen einen Werth geben? Und wie vergänglich, wie hinfällig ist sie nicht! Muß sie nicht früher oder später verblühen? Kann mir nicht ein Zufall, eine Krankheit meine schöne Gestalt ent- reissen? Wie sehr wäre ich zu bedauern, wenn ich mich dieses eingebildeten Vorzuges wegen übermäßig lieben, wenn ich andern, weil er ihnen mangelt, die gehörige Achtung versagen könnte! Ich schätze mich glücklich, o Gott, daß meine gend I 4
Entſagung des Stolzes. iſt etwa die Schönheit des Körpers ein wahrer, we-ſentlicher Vorzug, der meinen Stolz entſchuldigen kann? Habe ich denn mich, haben denn andere ſich ſelbſt gebildet? Sind äuſſere Reize nicht etwas zufäl- liges und im Grunde etwas unbedeutendes? Macht denn wohl körperliche Schönheit den Menſchen zum Menſchen? Iſt ſie ein unentbehrlicher Vorzug ver- nünftiger und unſterblicher Weſen? Beruhet wohl meine Würde auf derſelben? Kann ſie den Mangel der Weisheit und Tugend erſetzen? Kann ſie mir in den Augen verſtändiger Menſchen einen Werth geben? Und wie vergänglich, wie hinfällig iſt ſie nicht! Muß ſie nicht früher oder ſpäter verblühen? Kann mir nicht ein Zufall, eine Krankheit meine ſchöne Geſtalt ent- reiſſen? Wie ſehr wäre ich zu bedauern, wenn ich mich dieſes eingebildeten Vorzuges wegen übermäßig lieben, wenn ich andern, weil er ihnen mangelt, die gehörige Achtung verſagen könnte! Ich ſchätze mich glücklich, o Gott, daß meine gend I 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0147" n="135"/><fw place="top" type="header">Entſagung des Stolzes.</fw><lb/> iſt etwa die Schönheit des Körpers ein wahrer, we-<lb/> ſentlicher Vorzug, der meinen Stolz entſchuldigen<lb/> kann? Habe ich denn mich, haben denn andere ſich<lb/> ſelbſt gebildet? Sind äuſſere Reize nicht etwas zufäl-<lb/> liges und im Grunde etwas unbedeutendes? Macht<lb/> denn wohl körperliche Schönheit den Menſchen zum<lb/> Menſchen? Iſt ſie ein unentbehrlicher Vorzug ver-<lb/> nünftiger und unſterblicher Weſen? Beruhet wohl<lb/> meine Würde auf derſelben? Kann ſie den Mangel<lb/> der Weisheit und Tugend erſetzen? Kann ſie mir in<lb/> den Augen verſtändiger Menſchen einen Werth geben?<lb/> Und wie vergänglich, wie hinfällig iſt ſie nicht! Muß<lb/> ſie nicht früher oder ſpäter verblühen? Kann mir nicht<lb/> ein Zufall, eine Krankheit meine ſchöne Geſtalt ent-<lb/> reiſſen? Wie ſehr wäre ich zu bedauern, wenn ich<lb/> mich dieſes eingebildeten Vorzuges wegen übermäßig<lb/> lieben, wenn ich andern, weil er ihnen mangelt, die<lb/> gehörige Achtung verſagen könnte!</p><lb/> <p>Ich ſchätze mich glücklich, o Gott, daß meine<lb/> äuſſern Vorzüge nicht glänzender ſind, daß ich in die-<lb/> ſer Rückſicht weniger zu einem Laſter gereizt werde,<lb/> das ſo unvernünftig und unchriſtlich iſt; zu einem La-<lb/> ſter, das du gewiß verabſcheueſt, weil es mir die<lb/> Menſchenliebe erſchweret und meine Vervollkommnung<lb/> hindert, weil es mich zu unzählichen andern Verge-<lb/> hungen hinreißt und in jeder Betrachtung meinen Cha-<lb/> rakter ſchändet. Nein, was den Menſchen zum<lb/> Menſchen, was ihn in deinen Augen angenehm und<lb/> wohlgefällig macht, das wird ihm nicht angebohren,<lb/> das kann ihm kein Zufall geben. Verſtand und Tu-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">I 4</fw><fw place="bottom" type="catch">gend</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [135/0147]
Entſagung des Stolzes.
iſt etwa die Schönheit des Körpers ein wahrer, we-
ſentlicher Vorzug, der meinen Stolz entſchuldigen
kann? Habe ich denn mich, haben denn andere ſich
ſelbſt gebildet? Sind äuſſere Reize nicht etwas zufäl-
liges und im Grunde etwas unbedeutendes? Macht
denn wohl körperliche Schönheit den Menſchen zum
Menſchen? Iſt ſie ein unentbehrlicher Vorzug ver-
nünftiger und unſterblicher Weſen? Beruhet wohl
meine Würde auf derſelben? Kann ſie den Mangel
der Weisheit und Tugend erſetzen? Kann ſie mir in
den Augen verſtändiger Menſchen einen Werth geben?
Und wie vergänglich, wie hinfällig iſt ſie nicht! Muß
ſie nicht früher oder ſpäter verblühen? Kann mir nicht
ein Zufall, eine Krankheit meine ſchöne Geſtalt ent-
reiſſen? Wie ſehr wäre ich zu bedauern, wenn ich
mich dieſes eingebildeten Vorzuges wegen übermäßig
lieben, wenn ich andern, weil er ihnen mangelt, die
gehörige Achtung verſagen könnte!
Ich ſchätze mich glücklich, o Gott, daß meine
äuſſern Vorzüge nicht glänzender ſind, daß ich in die-
ſer Rückſicht weniger zu einem Laſter gereizt werde,
das ſo unvernünftig und unchriſtlich iſt; zu einem La-
ſter, das du gewiß verabſcheueſt, weil es mir die
Menſchenliebe erſchweret und meine Vervollkommnung
hindert, weil es mich zu unzählichen andern Verge-
hungen hinreißt und in jeder Betrachtung meinen Cha-
rakter ſchändet. Nein, was den Menſchen zum
Menſchen, was ihn in deinen Augen angenehm und
wohlgefällig macht, das wird ihm nicht angebohren,
das kann ihm kein Zufall geben. Verſtand und Tu-
gend
I 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |