Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite
Entsagung des Neides.

Gott, welche eine thörichte Leidenschaft ist nicht
der Neid! Wenn andere Laster ihre schreckliche Ge-
stalt verbergen und sich nur von einer vergnügenden
Seite zeigen, so kündiget sich jener so gleich als den
Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe
an. Sein Anfang ist so schrecklich als sein Ende.
Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der
Liebe und des Wohlwollens aus demselben heraus, er-
zeuget und begünstiget lauter feindselige, menschen-
feindliche Gedanken und Anschläge, erfüllt die Seele
mit Unruhe und Misvergnügen, die immer stärker
und herrschender werden, und gewähret auch nicht
einmal den Schein einer süßen und angenehmen
Empfindung.

Und die Gegenstände, die diesen Neid rege
machen, die das Glück und die Ruhe so vieler Men-
schen stören, sind sie wohl so wichtig und begehrens-
würdig, als sie zu seyn scheinen? Ist es die Tugend,
deren Besitz dem Menschen beneidet wird? O wer
die Tugend für etwas so schönes und wünschenswür-
diges hält, der ist keiner Misgunst, der ist wohl
einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä-
hig. Sind es Verstand und Weisheit, die so viele
Menschen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder
und Schwestern hinsehen lassen? O wer sich durch
Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl
nicht als Weisheit, den Verstand nicht als Verstand,
der wünscht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die
äussern Vortheile, die mit einem großen Verstande

und
I 5
Entſagung des Neides.

Gott, welche eine thörichte Leidenſchaft iſt nicht
der Neid! Wenn andere Laſter ihre ſchreckliche Ge-
ſtalt verbergen und ſich nur von einer vergnügenden
Seite zeigen, ſo kündiget ſich jener ſo gleich als den
Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe
an. Sein Anfang iſt ſo ſchrecklich als ſein Ende.
Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der
Liebe und des Wohlwollens aus demſelben heraus, er-
zeuget und begünſtiget lauter feindſelige, menſchen-
feindliche Gedanken und Anſchläge, erfüllt die Seele
mit Unruhe und Misvergnügen, die immer ſtärker
und herrſchender werden, und gewähret auch nicht
einmal den Schein einer ſüßen und angenehmen
Empfindung.

Und die Gegenſtände, die dieſen Neid rege
machen, die das Glück und die Ruhe ſo vieler Men-
ſchen ſtören, ſind ſie wohl ſo wichtig und begehrens-
würdig, als ſie zu ſeyn ſcheinen? Iſt es die Tugend,
deren Beſitz dem Menſchen beneidet wird? O wer
die Tugend für etwas ſo ſchönes und wünſchenswür-
diges hält, der iſt keiner Misgunſt, der iſt wohl
einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä-
hig. Sind es Verſtand und Weisheit, die ſo viele
Menſchen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder
und Schweſtern hinſehen laſſen? O wer ſich durch
Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl
nicht als Weisheit, den Verſtand nicht als Verſtand,
der wünſcht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die
äuſſern Vortheile, die mit einem großen Verſtande

und
I 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0149" n="137"/>
          <fw place="top" type="header">Ent&#x017F;agung des Neides.</fw><lb/>
          <p>Gott, welche eine thörichte Leiden&#x017F;chaft i&#x017F;t nicht<lb/>
der Neid! Wenn andere La&#x017F;ter ihre &#x017F;chreckliche Ge-<lb/>
&#x017F;talt verbergen und &#x017F;ich nur von einer vergnügenden<lb/>
Seite zeigen, &#x017F;o kündiget &#x017F;ich jener &#x017F;o gleich als den<lb/>
Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe<lb/>
an. Sein Anfang i&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;chrecklich als &#x017F;ein Ende.<lb/>
Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der<lb/>
Liebe und des Wohlwollens aus dem&#x017F;elben heraus, er-<lb/>
zeuget und begün&#x017F;tiget lauter feind&#x017F;elige, men&#x017F;chen-<lb/>
feindliche Gedanken und An&#x017F;chläge, erfüllt die Seele<lb/>
mit Unruhe und Misvergnügen, die immer &#x017F;tärker<lb/>
und herr&#x017F;chender werden, und gewähret auch nicht<lb/>
einmal den Schein einer &#x017F;üßen und angenehmen<lb/>
Empfindung.</p><lb/>
          <p>Und die Gegen&#x017F;tände, die die&#x017F;en Neid rege<lb/>
machen, die das Glück und die Ruhe &#x017F;o vieler Men-<lb/>
&#x017F;chen &#x017F;tören, &#x017F;ind &#x017F;ie wohl &#x017F;o wichtig und begehrens-<lb/>
würdig, als &#x017F;ie zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen? I&#x017F;t es die Tugend,<lb/>
deren Be&#x017F;itz dem Men&#x017F;chen beneidet wird? O wer<lb/>
die Tugend für etwas &#x017F;o &#x017F;chönes und wün&#x017F;chenswür-<lb/>
diges hält, der i&#x017F;t keiner Misgun&#x017F;t, der i&#x017F;t wohl<lb/>
einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä-<lb/>
hig. Sind es Ver&#x017F;tand und Weisheit, die &#x017F;o viele<lb/>
Men&#x017F;chen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder<lb/>
und Schwe&#x017F;tern hin&#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en? O wer &#x017F;ich durch<lb/>
Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl<lb/>
nicht als Weisheit, den Ver&#x017F;tand nicht als Ver&#x017F;tand,<lb/>
der wün&#x017F;cht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die<lb/>
äu&#x017F;&#x017F;ern Vortheile, die mit einem großen Ver&#x017F;tande<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">I 5</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0149] Entſagung des Neides. Gott, welche eine thörichte Leidenſchaft iſt nicht der Neid! Wenn andere Laſter ihre ſchreckliche Ge- ſtalt verbergen und ſich nur von einer vergnügenden Seite zeigen, ſo kündiget ſich jener ſo gleich als den Störer aller Freuden, aller Zufriedenheit und Ruhe an. Sein Anfang iſt ſo ſchrecklich als ſein Ende. Er verenget jedes Herz, reißt jede Empfindung der Liebe und des Wohlwollens aus demſelben heraus, er- zeuget und begünſtiget lauter feindſelige, menſchen- feindliche Gedanken und Anſchläge, erfüllt die Seele mit Unruhe und Misvergnügen, die immer ſtärker und herrſchender werden, und gewähret auch nicht einmal den Schein einer ſüßen und angenehmen Empfindung. Und die Gegenſtände, die dieſen Neid rege machen, die das Glück und die Ruhe ſo vieler Men- ſchen ſtören, ſind ſie wohl ſo wichtig und begehrens- würdig, als ſie zu ſeyn ſcheinen? Iſt es die Tugend, deren Beſitz dem Menſchen beneidet wird? O wer die Tugend für etwas ſo ſchönes und wünſchenswür- diges hält, der iſt keiner Misgunſt, der iſt wohl einer edlen Nacheiferung, aber nicht des Neides fä- hig. Sind es Verſtand und Weisheit, die ſo viele Menſchen mit unzufriedenem Auge auf ihre Brüder und Schweſtern hinſehen laſſen? O wer ſich durch Neid erniedrigen kann, der liebt die Weisheit wohl nicht als Weisheit, den Verſtand nicht als Verſtand, der wünſcht wohl blos die Ehre, die Belohnung, die äuſſern Vortheile, die mit einem großen Verſtande und I 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/149
Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/149>, abgerufen am 23.11.2024.