Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.Der Wittwenstand als ein Stand etc. dische Glück vergänglich und alle irrdische Freude un-vollkommen ist. Die reinste, tugendhafteste Liebe, die innigste Freundschaft, die genaueste Verbindung von Personen, die Glück und Unglück mit einander theilen, wie vergänglich und zerstörbar sind sie nicht! Wie kurz ist oft ihre Dauer! Wie bald wird uns ihr Genuß entzogen! Wenn ich an meinen vorigen Zu- stand mich erinnere und meinen gegenwärtigen damit vergleiche, so habe ich ein treffendes Bild von der Eitelkeit und Unbeständigkeit aller irrdischen Dinge. Keine Vorzüge und Güter der Erde sind sicher und ausdauernd. Kein Genuß der Freude währet so lange, als wir wünschen. Niemand ist und hat und genies- set alles das, was er seyn und haben und genießen könnte. Niemand thut und wirket so viel, als er zu thun und zu wirken Kräfte hat. Niemand siehet alle seine Wünsche erfüllt und alle seine Absichten erreicht. Gutes und Böses, Glück und Unglück, Freude und Traurigkeit sind stets und überall vermischt und folgen gemeiniglich aus einander. Dieß sagen mir Vernunft und Religion und der Stand, in welchem ich mich itzt befinde, gibt mir die sinnlichsten, überzeugendsten Beweise davon. Hier lerne ich also, daß das gegenwärtige Leben Voll- Y 5
Der Wittwenſtand als ein Stand ꝛc. diſche Glück vergänglich und alle irrdiſche Freude un-vollkommen iſt. Die reinſte, tugendhafteſte Liebe, die innigſte Freundſchaft, die genaueſte Verbindung von Perſonen, die Glück und Unglück mit einander theilen, wie vergänglich und zerſtörbar ſind ſie nicht! Wie kurz iſt oft ihre Dauer! Wie bald wird uns ihr Genuß entzogen! Wenn ich an meinen vorigen Zu- ſtand mich erinnere und meinen gegenwärtigen damit vergleiche, ſo habe ich ein treffendes Bild von der Eitelkeit und Unbeſtändigkeit aller irrdiſchen Dinge. Keine Vorzüge und Güter der Erde ſind ſicher und ausdauernd. Kein Genuß der Freude währet ſo lange, als wir wünſchen. Niemand iſt und hat und genieſ- ſet alles das, was er ſeyn und haben und genießen könnte. Niemand thut und wirket ſo viel, als er zu thun und zu wirken Kräfte hat. Niemand ſiehet alle ſeine Wünſche erfüllt und alle ſeine Abſichten erreicht. Gutes und Böſes, Glück und Unglück, Freude und Traurigkeit ſind ſtets und überall vermiſcht und folgen gemeiniglich aus einander. Dieß ſagen mir Vernunft und Religion und der Stand, in welchem ich mich itzt befinde, gibt mir die ſinnlichſten, überzeugendſten Beweiſe davon. Hier lerne ich alſo, daß das gegenwärtige Leben Voll- Y 5
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Der Wittwenſtand als ein Stand ꝛc.
diſche Glück vergänglich und alle irrdiſche Freude un-
vollkommen iſt. Die reinſte, tugendhafteſte Liebe,
die innigſte Freundſchaft, die genaueſte Verbindung
von Perſonen, die Glück und Unglück mit einander
theilen, wie vergänglich und zerſtörbar ſind ſie nicht!
Wie kurz iſt oft ihre Dauer! Wie bald wird uns ihr
Genuß entzogen! Wenn ich an meinen vorigen Zu-
ſtand mich erinnere und meinen gegenwärtigen damit
vergleiche, ſo habe ich ein treffendes Bild von der
Eitelkeit und Unbeſtändigkeit aller irrdiſchen Dinge.
Keine Vorzüge und Güter der Erde ſind ſicher und
ausdauernd. Kein Genuß der Freude währet ſo lange,
als wir wünſchen. Niemand iſt und hat und genieſ-
ſet alles das, was er ſeyn und haben und genießen
könnte. Niemand thut und wirket ſo viel, als er zu
thun und zu wirken Kräfte hat. Niemand ſiehet alle
ſeine Wünſche erfüllt und alle ſeine Abſichten erreicht.
Gutes und Böſes, Glück und Unglück, Freude und
Traurigkeit ſind ſtets und überall vermiſcht und folgen
gemeiniglich aus einander. Dieß ſagen mir Vernunft
und Religion und der Stand, in welchem ich mich
itzt befinde, gibt mir die ſinnlichſten, überzeugendſten
Beweiſe davon.
Hier lerne ich alſo, daß das gegenwärtige Leben
nicht unſre ganze Beſtimmung, daß es nur der An-
fang derſelben und nur die erſte, niedrigſte Stufe un-
ſers Daſeyns iſt. Die innigſte, feſteſte Verbindung
tugendhafter Seelen, die ſo bald durch den Tod unter-
brochen, der ſo ſtarke und immer rege Trieb nach
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