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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Empfindungen einer Matrone bey der
Stunden zu Tagen verlängert, die nachher auf eine
unerwartete Art wieder für mich verschwunden sind!
Wie oft glaubte ich unter der Last meiner Leiden er-
liegen zu müssen! Wie oft habe ich meinen erlittenen
Verlust für unersetzbar und meine Bürde für uner-
träglich gehalten! Und doch bin ich unter der Last die-
ser Leiden nicht erlegen; und doch ist mir mein Ver-
lust reichlich vergütet worden; und doch habe ich al-
les ertragen können, was du mir aufgeleget hast.
Stets hast du Gutes aus dem Bösen, Licht aus der
Finsterniß und beruhigende Gewißheit aus bangen
Zweifeln hervorgebracht. Nie warst du mir ferne,
nie warst du mir mit deiner Aufsicht und Hülfe näher,
als wenn ich mich von dir verlassen wähnte. Du
hast mich bis hieher als ein liebevoller Vater geleitet,
und du wirst auch gewiß am Ende meiner Laufbahn
nicht von mir weichen.

Und wie ganz anders sehe und beurtheile ich
nun die Dinge in der Welt, als ich sie in meinen ju-
gendlichen Jahren gesehen und beurtheilt habe! Wie
ganz anders betrachte ich nun den Menschen und seine
Schicksale und seine Bestimmung! Jtzt kenne ich
meine Kräfte und weiß, was der Mensch erdulden
und entragen, wie viel er thun und leisten, wie viel
er in Absicht auf seine Besserung und Veredlung aus-
richten kann, wenn es ihm ein Ernst damit ist, wenn
er wirklich standhaft und thätig zu seyn und besser und
edler zu werden wünschet. Jtzt erscheinen mir die
Fehler und Thorheiten meines Geschlechts in einer

ganz

Empfindungen einer Matrone bey der
Stunden zu Tagen verlängert, die nachher auf eine
unerwartete Art wieder für mich verſchwunden ſind!
Wie oft glaubte ich unter der Laſt meiner Leiden er-
liegen zu müſſen! Wie oft habe ich meinen erlittenen
Verluſt für unerſetzbar und meine Bürde für uner-
träglich gehalten! Und doch bin ich unter der Laſt die-
ſer Leiden nicht erlegen; und doch iſt mir mein Ver-
luſt reichlich vergütet worden; und doch habe ich al-
les ertragen können, was du mir aufgeleget haſt.
Stets haſt du Gutes aus dem Böſen, Licht aus der
Finſterniß und beruhigende Gewißheit aus bangen
Zweifeln hervorgebracht. Nie warſt du mir ferne,
nie warſt du mir mit deiner Aufſicht und Hülfe näher,
als wenn ich mich von dir verlaſſen wähnte. Du
haſt mich bis hieher als ein liebevoller Vater geleitet,
und du wirſt auch gewiß am Ende meiner Laufbahn
nicht von mir weichen.

Und wie ganz anders ſehe und beurtheile ich
nun die Dinge in der Welt, als ich ſie in meinen ju-
gendlichen Jahren geſehen und beurtheilt habe! Wie
ganz anders betrachte ich nun den Menſchen und ſeine
Schickſale und ſeine Beſtimmung! Jtzt kenne ich
meine Kräfte und weiß, was der Menſch erdulden
und entragen, wie viel er thun und leiſten, wie viel
er in Abſicht auf ſeine Beſſerung und Veredlung aus-
richten kann, wenn es ihm ein Ernſt damit iſt, wenn
er wirklich ſtandhaft und thätig zu ſeyn und beſſer und
edler zu werden wünſchet. Jtzt erſcheinen mir die
Fehler und Thorheiten meines Geſchlechts in einer

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[352/0364] Empfindungen einer Matrone bey der Stunden zu Tagen verlängert, die nachher auf eine unerwartete Art wieder für mich verſchwunden ſind! Wie oft glaubte ich unter der Laſt meiner Leiden er- liegen zu müſſen! Wie oft habe ich meinen erlittenen Verluſt für unerſetzbar und meine Bürde für uner- träglich gehalten! Und doch bin ich unter der Laſt die- ſer Leiden nicht erlegen; und doch iſt mir mein Ver- luſt reichlich vergütet worden; und doch habe ich al- les ertragen können, was du mir aufgeleget haſt. Stets haſt du Gutes aus dem Böſen, Licht aus der Finſterniß und beruhigende Gewißheit aus bangen Zweifeln hervorgebracht. Nie warſt du mir ferne, nie warſt du mir mit deiner Aufſicht und Hülfe näher, als wenn ich mich von dir verlaſſen wähnte. Du haſt mich bis hieher als ein liebevoller Vater geleitet, und du wirſt auch gewiß am Ende meiner Laufbahn nicht von mir weichen. Und wie ganz anders ſehe und beurtheile ich nun die Dinge in der Welt, als ich ſie in meinen ju- gendlichen Jahren geſehen und beurtheilt habe! Wie ganz anders betrachte ich nun den Menſchen und ſeine Schickſale und ſeine Beſtimmung! Jtzt kenne ich meine Kräfte und weiß, was der Menſch erdulden und entragen, wie viel er thun und leiſten, wie viel er in Abſicht auf ſeine Beſſerung und Veredlung aus- richten kann, wenn es ihm ein Ernſt damit iſt, wenn er wirklich ſtandhaft und thätig zu ſeyn und beſſer und edler zu werden wünſchet. Jtzt erſcheinen mir die Fehler und Thorheiten meines Geſchlechts in einer ganz

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/364>, abgerufen am 23.11.2024.