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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Die schwache und kränkliche Matrone.
ich Wahrheit fassen kann, jeder Grabeshügel gepre-
diget. Wie wenig menschlich und christlich müßte ich
gelebt, wie wenig müßte ich über die Bestimmung
des Menschen nachgedacht haben, wenn ich mich über
die Kürze dieses Lebens beklagen und mich deßwegen
für unglücklich halten wollte! Du hast mir eine lange
Zeit zu meiner Vorbereitung auf die Ewigkeit vergönnt.
Du hast mir Kräfte, viel zu thun und zu wirken und
Fähigkeit, viel zu genießen, gegeben. Groß ist die
Summe dessen, was ich gethan und genossen habe,
so viel mir auch noch zu thun und zu genießen übrig
seyn mag. Lange ist die Bahn, die ich durchlaufen
habe, so kurz sie mir auch itzt am Ziele dünkt.

Oder soll ich mich über die körperlichen Schmerzen
beschweren, die ich nun in meiner Lage bisweilen erdulden
muß? Soll ich darüber murren, daß ich ein Mensch
bin und menschliche Empfindungen habe? O wie kurz,
wie unbeträchtlich sind diese Schmerzen, wenn ich sie
mit der Summe des Vergnügens und der angenehmen
Empfindungen vergleiche, die mir während meines
Lebens zu Theil geworden ist! Wie leicht, wie erträg-
lich sind diese Schmerzen, wenn ich sie als den Vor-
boten meiner nahen Auflösung und meiner zu erwar-
tenden Glückseligkeit betrachte! Wie doppelt angenehm
ist jeder Tag, jede Stunde für mich, wo ich mich frey
von denselben fühle! Und wie sehr erleichtert mir nicht
das Bewußtseyn meiner Rechtschaffenheit und ein gu-
tes Gewissen die Last der Krankheit! Welchen Trost,
welche Erquickung gewährt mir nicht der lichtvolle Ge-

danke

Die ſchwache und kränkliche Matrone.
ich Wahrheit faſſen kann, jeder Grabeshügel gepre-
diget. Wie wenig menſchlich und chriſtlich müßte ich
gelebt, wie wenig müßte ich über die Beſtimmung
des Menſchen nachgedacht haben, wenn ich mich über
die Kürze dieſes Lebens beklagen und mich deßwegen
für unglücklich halten wollte! Du haſt mir eine lange
Zeit zu meiner Vorbereitung auf die Ewigkeit vergönnt.
Du haſt mir Kräfte, viel zu thun und zu wirken und
Fähigkeit, viel zu genießen, gegeben. Groß iſt die
Summe deſſen, was ich gethan und genoſſen habe,
ſo viel mir auch noch zu thun und zu genießen übrig
ſeyn mag. Lange iſt die Bahn, die ich durchlaufen
habe, ſo kurz ſie mir auch itzt am Ziele dünkt.

Oder ſoll ich mich über die körperlichen Schmerzen
beſchweren, die ich nun in meiner Lage bisweilen erdulden
muß? Soll ich darüber murren, daß ich ein Menſch
bin und menſchliche Empfindungen habe? O wie kurz,
wie unbeträchtlich ſind dieſe Schmerzen, wenn ich ſie
mit der Summe des Vergnügens und der angenehmen
Empfindungen vergleiche, die mir während meines
Lebens zu Theil geworden iſt! Wie leicht, wie erträg-
lich ſind dieſe Schmerzen, wenn ich ſie als den Vor-
boten meiner nahen Auflöſung und meiner zu erwar-
tenden Glückſeligkeit betrachte! Wie doppelt angenehm
iſt jeder Tag, jede Stunde für mich, wo ich mich frey
von denſelben fühle! Und wie ſehr erleichtert mir nicht
das Bewußtſeyn meiner Rechtſchaffenheit und ein gu-
tes Gewiſſen die Laſt der Krankheit! Welchen Troſt,
welche Erquickung gewährt mir nicht der lichtvolle Ge-

danke
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[358/0370] Die ſchwache und kränkliche Matrone. ich Wahrheit faſſen kann, jeder Grabeshügel gepre- diget. Wie wenig menſchlich und chriſtlich müßte ich gelebt, wie wenig müßte ich über die Beſtimmung des Menſchen nachgedacht haben, wenn ich mich über die Kürze dieſes Lebens beklagen und mich deßwegen für unglücklich halten wollte! Du haſt mir eine lange Zeit zu meiner Vorbereitung auf die Ewigkeit vergönnt. Du haſt mir Kräfte, viel zu thun und zu wirken und Fähigkeit, viel zu genießen, gegeben. Groß iſt die Summe deſſen, was ich gethan und genoſſen habe, ſo viel mir auch noch zu thun und zu genießen übrig ſeyn mag. Lange iſt die Bahn, die ich durchlaufen habe, ſo kurz ſie mir auch itzt am Ziele dünkt. Oder ſoll ich mich über die körperlichen Schmerzen beſchweren, die ich nun in meiner Lage bisweilen erdulden muß? Soll ich darüber murren, daß ich ein Menſch bin und menſchliche Empfindungen habe? O wie kurz, wie unbeträchtlich ſind dieſe Schmerzen, wenn ich ſie mit der Summe des Vergnügens und der angenehmen Empfindungen vergleiche, die mir während meines Lebens zu Theil geworden iſt! Wie leicht, wie erträg- lich ſind dieſe Schmerzen, wenn ich ſie als den Vor- boten meiner nahen Auflöſung und meiner zu erwar- tenden Glückſeligkeit betrachte! Wie doppelt angenehm iſt jeder Tag, jede Stunde für mich, wo ich mich frey von denſelben fühle! Und wie ſehr erleichtert mir nicht das Bewußtſeyn meiner Rechtſchaffenheit und ein gu- tes Gewiſſen die Laſt der Krankheit! Welchen Troſt, welche Erquickung gewährt mir nicht der lichtvolle Ge- danke

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/370>, abgerufen am 23.11.2024.