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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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theil, beantwortete gutmüthig die eine und andere
Frage und wies ihn sodann einige steinerne Stufen
zum unteren Geschoß hinab, indem er auf eine Thür
hinzeigte. Hier stand unser Freund eine Zeitlang mit
klopfendem Herzen allein, ohne zu öffnen. Jezt nahm
er sich plötzlich zusammen und trat in eine sauber auf-
geräumte, übrigens armselige Kammer. Niemand war
zugegen. In einer Ecke befand sich ein niedriges
Bett, worauf die Leiche mit einem Tuch völlig über-
deckt lag. Theobald, in ziemlicher Entfernung, ge-
traute sich kaum von der Seite hinzusehen, Gedanken
und Gefühle verstockten ihm zu Eis und seine einzige
Empfindung in diesem Augenblicke war, daß er sich
selber haßte über die unbegreiflichste innere Kälte, die
in solchen Fällen peinlicher zu seyn pflegt, als das
lebhafteste Gefühl unseres Elends. Er ertrug diesen
Zustand nicht länger, eilte auf das Bette zu, riß die
Hülle weg und sank laut weinend über den Leich-
nam hin.

Endlich, da es schon dunkel geworden, trat
Perse, der Goldarbeiter, mit Licht herein. Nur un-
gern sah Theobald sich durch ein fremdes Gesicht
gestört, aber das bescheidene Benehmen des Menschen
fiel ihm sogleich auf und hielt ihn um so fester, da
derselbe mit der edelsten Art zu erkennen gab, daß
auch er einiges Recht habe mit den Freunden des
Todten zu trauern, daß ihm derselbe, besonders in
der lezten Zeit, viel Vertrauen geschenkt. "Ich sah,"

theil, beantwortete gutmüthig die eine und andere
Frage und wies ihn ſodann einige ſteinerne Stufen
zum unteren Geſchoß hinab, indem er auf eine Thür
hinzeigte. Hier ſtand unſer Freund eine Zeitlang mit
klopfendem Herzen allein, ohne zu öffnen. Jezt nahm
er ſich plötzlich zuſammen und trat in eine ſauber auf-
geräumte, übrigens armſelige Kammer. Niemand war
zugegen. In einer Ecke befand ſich ein niedriges
Bett, worauf die Leiche mit einem Tuch völlig über-
deckt lag. Theobald, in ziemlicher Entfernung, ge-
traute ſich kaum von der Seite hinzuſehen, Gedanken
und Gefühle verſtockten ihm zu Eis und ſeine einzige
Empfindung in dieſem Augenblicke war, daß er ſich
ſelber haßte über die unbegreiflichſte innere Kälte, die
in ſolchen Fällen peinlicher zu ſeyn pflegt, als das
lebhafteſte Gefühl unſeres Elends. Er ertrug dieſen
Zuſtand nicht länger, eilte auf das Bette zu, riß die
Hülle weg und ſank laut weinend über den Leich-
nam hin.

Endlich, da es ſchon dunkel geworden, trat
Perſe, der Goldarbeiter, mit Licht herein. Nur un-
gern ſah Theobald ſich durch ein fremdes Geſicht
geſtört, aber das beſcheidene Benehmen des Menſchen
fiel ihm ſogleich auf und hielt ihn um ſo feſter, da
derſelbe mit der edelſten Art zu erkennen gab, daß
auch er einiges Recht habe mit den Freunden des
Todten zu trauern, daß ihm derſelbe, beſonders in
der lezten Zeit, viel Vertrauen geſchenkt. „Ich ſah,“

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[508/0194] theil, beantwortete gutmüthig die eine und andere Frage und wies ihn ſodann einige ſteinerne Stufen zum unteren Geſchoß hinab, indem er auf eine Thür hinzeigte. Hier ſtand unſer Freund eine Zeitlang mit klopfendem Herzen allein, ohne zu öffnen. Jezt nahm er ſich plötzlich zuſammen und trat in eine ſauber auf- geräumte, übrigens armſelige Kammer. Niemand war zugegen. In einer Ecke befand ſich ein niedriges Bett, worauf die Leiche mit einem Tuch völlig über- deckt lag. Theobald, in ziemlicher Entfernung, ge- traute ſich kaum von der Seite hinzuſehen, Gedanken und Gefühle verſtockten ihm zu Eis und ſeine einzige Empfindung in dieſem Augenblicke war, daß er ſich ſelber haßte über die unbegreiflichſte innere Kälte, die in ſolchen Fällen peinlicher zu ſeyn pflegt, als das lebhafteſte Gefühl unſeres Elends. Er ertrug dieſen Zuſtand nicht länger, eilte auf das Bette zu, riß die Hülle weg und ſank laut weinend über den Leich- nam hin. Endlich, da es ſchon dunkel geworden, trat Perſe, der Goldarbeiter, mit Licht herein. Nur un- gern ſah Theobald ſich durch ein fremdes Geſicht geſtört, aber das beſcheidene Benehmen des Menſchen fiel ihm ſogleich auf und hielt ihn um ſo feſter, da derſelbe mit der edelſten Art zu erkennen gab, daß auch er einiges Recht habe mit den Freunden des Todten zu trauern, daß ihm derſelbe, beſonders in der lezten Zeit, viel Vertrauen geſchenkt. „Ich ſah,“

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/194>, abgerufen am 23.11.2024.