ihm nach Agnesen zu sehn. Sie fanden Schlafzim- mer und Bett des Mädchens leer. Unter dem Weh- ruf eines Verzweifelten eilt Nolten hinunter, den Anlagen zu. Bediente mit Laternen waren bereits dort angekommen. Der Präsident vom Fenster aus gab ungefähr die Richtung an, von wo die Stimme hergekommen, denn schon war kein Laut mehr zu hö- ren. Das ganze Schloß war in Bewegung und in dem weitläufigen Garten sah man bald so viele Lich- ter hin und her schweben, als nur Personen aufzu- treiben waren. Der Präsident selbst half jezt eifrig mitsuchen. Es war eine laue Nacht, der Himmel überzogen, kein Lüftchen bewegte die Zweige. Alle größern und kleinern Wege, Schlangenpfade, Gänge, Lauben, Pavillons und Treibhäuser hat man in Kur- zem vergeblich durchlaufen, Einige steigen über die Mauer, Andre eilen ohne Schonung der Gewächse und Beete, das Gebüsch und die tiefern Schatten zu beleuchten. Nicht lange, so winkt der Jäger des Prä- sidenten diesen mit einem traurigen Blicke hinweg, der Maler und die Frauenzimmer folgen. Wenige Schritte vom Haus, hart unter den Fenstern Agnesens, sehn sie das schöne Kind unter einigen Weihmuthsfichten, regungslos ausgestreckt, im weißen Nachtkleide liegen, die Füße bloß, die Haare auf dem Boden und über die nackten Schultern zerstreut. Nolten sank neben dem Körper in die Kniee, fühlte nach Athem, den er nicht fand, er brach in lauten Jammer aus, indem er
ihm nach Agneſen zu ſehn. Sie fanden Schlafzim- mer und Bett des Mädchens leer. Unter dem Weh- ruf eines Verzweifelten eilt Nolten hinunter, den Anlagen zu. Bediente mit Laternen waren bereits dort angekommen. Der Präſident vom Fenſter aus gab ungefähr die Richtung an, von wo die Stimme hergekommen, denn ſchon war kein Laut mehr zu hö- ren. Das ganze Schloß war in Bewegung und in dem weitläufigen Garten ſah man bald ſo viele Lich- ter hin und her ſchweben, als nur Perſonen aufzu- treiben waren. Der Präſident ſelbſt half jezt eifrig mitſuchen. Es war eine laue Nacht, der Himmel überzogen, kein Lüftchen bewegte die Zweige. Alle größern und kleinern Wege, Schlangenpfade, Gänge, Lauben, Pavillons und Treibhäuſer hat man in Kur- zem vergeblich durchlaufen, Einige ſteigen über die Mauer, Andre eilen ohne Schonung der Gewächſe und Beete, das Gebüſch und die tiefern Schatten zu beleuchten. Nicht lange, ſo winkt der Jäger des Prä- ſidenten dieſen mit einem traurigen Blicke hinweg, der Maler und die Frauenzimmer folgen. Wenige Schritte vom Haus, hart unter den Fenſtern Agneſens, ſehn ſie das ſchöne Kind unter einigen Weihmuthsfichten, regungslos ausgeſtreckt, im weißen Nachtkleide liegen, die Füße bloß, die Haare auf dem Boden und über die nackten Schultern zerſtreut. Nolten ſank neben dem Körper in die Kniee, fühlte nach Athem, den er nicht fand, er brach in lauten Jammer aus, indem er
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ihm nach Agneſen zu ſehn. Sie fanden Schlafzim-
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Anlagen zu. Bediente mit Laternen waren bereits
dort angekommen. Der Präſident vom Fenſter aus
gab ungefähr die Richtung an, von wo die Stimme
hergekommen, denn ſchon war kein Laut mehr zu hö-
ren. Das ganze Schloß war in Bewegung und in
dem weitläufigen Garten ſah man bald ſo viele Lich-
ter hin und her ſchweben, als nur Perſonen aufzu-
treiben waren. Der Präſident ſelbſt half jezt eifrig
mitſuchen. Es war eine laue Nacht, der Himmel
überzogen, kein Lüftchen bewegte die Zweige. Alle
größern und kleinern Wege, Schlangenpfade, Gänge,
Lauben, Pavillons und Treibhäuſer hat man in Kur-
zem vergeblich durchlaufen, Einige ſteigen über die
Mauer, Andre eilen ohne Schonung der Gewächſe
und Beete, das Gebüſch und die tiefern Schatten zu
beleuchten. Nicht lange, ſo winkt der Jäger des Prä-
ſidenten dieſen mit einem traurigen Blicke hinweg, der
Maler und die Frauenzimmer folgen. Wenige Schritte
vom Haus, hart unter den Fenſtern Agneſens, ſehn
ſie das ſchöne Kind unter einigen Weihmuthsfichten,
regungslos ausgeſtreckt, im weißen Nachtkleide liegen,
die Füße bloß, die Haare auf dem Boden und über
die nackten Schultern zerſtreut. Nolten ſank neben
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/260>, abgerufen am 23.11.2024.
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