Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_021.001 Wie bereits oben gesagt ist, sind diese Fähigkeiten in den einzelnen pmu_021.014 3. Nun gibt es jedoch etwas, das den Dichtern ganz besonders eigen zu pmu_021.026 pmu_021.001 Wie bereits oben gesagt ist, sind diese Fähigkeiten in den einzelnen pmu_021.014 3. Nun gibt es jedoch etwas, das den Dichtern ganz besonders eigen zu pmu_021.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0031" n="21"/><lb n="pmu_021.001"/> in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande <lb n="pmu_021.002"/> und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam <lb n="pmu_021.003"/> und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck <lb n="pmu_021.004"/> setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschen, <lb n="pmu_021.005"/> ja eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus. Denn <lb n="pmu_021.006"/> das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen Geschmack. <lb n="pmu_021.007"/> Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt.“ <lb n="pmu_021.008"/> Es ist das vielleicht etwas allzu stark pointiert, aber das Wesen <lb n="pmu_021.009"/> der Sache kommt klar heraus. — Diese Formgebungsfähigkeit des Dichters <lb n="pmu_021.010"/> kann zuweilen rein praktisch sein, sie kann in einer bloßen Reimgewandtheit <lb n="pmu_021.011"/> liegen, sie umfaßt aber auch jene tiefinnere Umbildung des <lb n="pmu_021.012"/> Erlebnisses, was wir als Jdealisierung beschrieben haben.</p> <lb n="pmu_021.013"/> <p> Wie bereits oben gesagt ist, sind diese Fähigkeiten in den einzelnen <lb n="pmu_021.014"/> Dichtern nicht harmonisch abgewogen; bald überwiegt die eine, bald die <lb n="pmu_021.015"/> andre. Es gibt Dichter, die wohl die höchste Fähigkeit zu intensivstem Erlebnis <lb n="pmu_021.016"/> hatten, bei denen aber die Form niemals ganz adäquat wurde. <lb n="pmu_021.017"/> Oft liegt es freilich auch nur an dem Mangel einer gewissen Disziplin. <lb n="pmu_021.018"/> Derartige Begabungen sind vor allem unter den deutschen Romantikern <lb n="pmu_021.019"/> häufig. Novalis z. B. erschließt sich in seinen Fragmenten als ein viel <lb n="pmu_021.020"/> reicherer Geist, als seine ausgeführten Dichtungen vermuten lassen. Ebenso <lb n="pmu_021.021"/> wissen wir von vielen andern, wie sie sich um den Ausdruck haben quälen <lb n="pmu_021.022"/> und mühen müssen. Daneben gibt es eine große Zahl von Dichtern, <lb n="pmu_021.023"/> deren formale, besonders sprachliche Begabung ihnen das kleinste Erlebnis <lb n="pmu_021.024"/> zum Vers zu gestalten erlaubte.</p> <lb n="pmu_021.025"/> </div> <div n="3"> <p> 3. Nun gibt es jedoch etwas, das den Dichtern ganz besonders eigen zu <lb n="pmu_021.026"/> sein und andern Sterblichen versagt zu sein scheint, das ist die sogenannte <lb n="pmu_021.027"/> <hi rendition="#g">Jnspiration.</hi> Sie wird uns von vielen Dichtern genau beschrieben. <lb n="pmu_021.028"/> Besonders wertvolle Berichte darüber haben Otto Ludwig, Nietzsche und <lb n="pmu_021.029"/> Goethe erbracht, aber die Zahl der hierher gehörigen Selbstzeugnisse ist <lb n="pmu_021.030"/> Legion. Sie alle stimmen darin überein, daß urplötzlich, ohne eigenes <lb n="pmu_021.031"/> Zutun des Dichters, ein Zustand höchster Gefühlssteigerung eintritt, in <lb n="pmu_021.032"/> dem sich ganz von selbst die wunderbarsten Gebilde gestalten, ohne daß <lb n="pmu_021.033"/> der Autor das Gefühl irgendwelcher eigenen Willensanspannung hat. <lb n="pmu_021.034"/> Jndessen darf man doch nicht zu großen Wert auf dieses Phänomen legen. <lb n="pmu_021.035"/> Denn erstens sind längst nicht alle großen Werke auf diese Weise konzipiert <lb n="pmu_021.036"/> worden, zweitens aber ergibt eine genaue Analyse des Jnspirationszustandes, <lb n="pmu_021.037"/> daß wir dabei keineswegs es mit Funktionen zu tun haben, <lb n="pmu_021.038"/> die in der gewöhnlichen Psyche fehlen. Jch habe in meiner „Psychologie </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0031]
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in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande pmu_021.002
und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam pmu_021.003
und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck pmu_021.004
setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschen, pmu_021.005
ja eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus. Denn pmu_021.006
das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen Geschmack. pmu_021.007
Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt.“ pmu_021.008
Es ist das vielleicht etwas allzu stark pointiert, aber das Wesen pmu_021.009
der Sache kommt klar heraus. — Diese Formgebungsfähigkeit des Dichters pmu_021.010
kann zuweilen rein praktisch sein, sie kann in einer bloßen Reimgewandtheit pmu_021.011
liegen, sie umfaßt aber auch jene tiefinnere Umbildung des pmu_021.012
Erlebnisses, was wir als Jdealisierung beschrieben haben.
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Wie bereits oben gesagt ist, sind diese Fähigkeiten in den einzelnen pmu_021.014
Dichtern nicht harmonisch abgewogen; bald überwiegt die eine, bald die pmu_021.015
andre. Es gibt Dichter, die wohl die höchste Fähigkeit zu intensivstem Erlebnis pmu_021.016
hatten, bei denen aber die Form niemals ganz adäquat wurde. pmu_021.017
Oft liegt es freilich auch nur an dem Mangel einer gewissen Disziplin. pmu_021.018
Derartige Begabungen sind vor allem unter den deutschen Romantikern pmu_021.019
häufig. Novalis z. B. erschließt sich in seinen Fragmenten als ein viel pmu_021.020
reicherer Geist, als seine ausgeführten Dichtungen vermuten lassen. Ebenso pmu_021.021
wissen wir von vielen andern, wie sie sich um den Ausdruck haben quälen pmu_021.022
und mühen müssen. Daneben gibt es eine große Zahl von Dichtern, pmu_021.023
deren formale, besonders sprachliche Begabung ihnen das kleinste Erlebnis pmu_021.024
zum Vers zu gestalten erlaubte.
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3. Nun gibt es jedoch etwas, das den Dichtern ganz besonders eigen zu pmu_021.026
sein und andern Sterblichen versagt zu sein scheint, das ist die sogenannte pmu_021.027
Jnspiration. Sie wird uns von vielen Dichtern genau beschrieben. pmu_021.028
Besonders wertvolle Berichte darüber haben Otto Ludwig, Nietzsche und pmu_021.029
Goethe erbracht, aber die Zahl der hierher gehörigen Selbstzeugnisse ist pmu_021.030
Legion. Sie alle stimmen darin überein, daß urplötzlich, ohne eigenes pmu_021.031
Zutun des Dichters, ein Zustand höchster Gefühlssteigerung eintritt, in pmu_021.032
dem sich ganz von selbst die wunderbarsten Gebilde gestalten, ohne daß pmu_021.033
der Autor das Gefühl irgendwelcher eigenen Willensanspannung hat. pmu_021.034
Jndessen darf man doch nicht zu großen Wert auf dieses Phänomen legen. pmu_021.035
Denn erstens sind längst nicht alle großen Werke auf diese Weise konzipiert pmu_021.036
worden, zweitens aber ergibt eine genaue Analyse des Jnspirationszustandes, pmu_021.037
daß wir dabei keineswegs es mit Funktionen zu tun haben, pmu_021.038
die in der gewöhnlichen Psyche fehlen. Jch habe in meiner „Psychologie
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