Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

Oder meynen wir vielleicht, daß selbst diese
Vorstellung nur ein schönes, aber leider bloß täu-
schendes Bild ohne innere Wahrheit sey? Daß in
einem Zustande von Bewußtlosigkeit auch die Ruhe
nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we-
nigstens unser Körper nichts von diesem Ausruhen
empfinden werde? -- -- So müßte auch der Schlaf,
dem doch jeder Ermüdete gern entgegen sieht, nichts
angenehmes seyn? Oder man müßte das Aufhören
von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end-
lich -- wäre das Grab auch nur das Erinnerungs-
zeichen, daß der Geist des Menschen, dessen Leib
man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge-
gangen sey, wenn er ihrer werth war, -- würde es
noch immer Täuschung seyn, wenn man sich mehr
seiner freute, als darüber trauerte?

Erst da hatte Jesus seinen Geist in die Hände
seines Vaters niedergelegt, als seine Zurückgelaßnen
an sein Grab denken mußten. Denn sterbend be-
fahl er ihn diesen Händen. Wir mögen dieß ver-
stehen wie wir wollen -- einen frohern ungehemm-
tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbessertern
und seligern Zustand, ein freudiges Gefühl aus
den Händen undankbarer, feindseliger und unge-
rechter Menschen in bessere Hände gekommen zu

seyn,

Oder meynen wir vielleicht, daß ſelbſt dieſe
Vorſtellung nur ein ſchönes, aber leider bloß täu-
ſchendes Bild ohne innere Wahrheit ſey? Daß in
einem Zuſtande von Bewußtloſigkeit auch die Ruhe
nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we-
nigſtens unſer Körper nichts von dieſem Ausruhen
empfinden werde? — — So müßte auch der Schlaf,
dem doch jeder Ermüdete gern entgegen ſieht, nichts
angenehmes ſeyn? Oder man müßte das Aufhören
von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end-
lich — wäre das Grab auch nur das Erinnerungs-
zeichen, daß der Geiſt des Menſchen, deſſen Leib
man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge-
gangen ſey, wenn er ihrer werth war, — würde es
noch immer Täuſchung ſeyn, wenn man ſich mehr
ſeiner freute, als darüber trauerte?

Erſt da hatte Jeſus ſeinen Geiſt in die Hände
ſeines Vaters niedergelegt, als ſeine Zurückgelaßnen
an ſein Grab denken mußten. Denn ſterbend be-
fahl er ihn dieſen Händen. Wir mögen dieß ver-
ſtehen wie wir wollen — einen frohern ungehemm-
tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbeſſertern
und ſeligern Zuſtand, ein freudiges Gefühl aus
den Händen undankbarer, feindſeliger und unge-
rechter Menſchen in beſſere Hände gekommen zu

ſeyn,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0176" n="160[172]"/>
          <p>Oder meynen wir vielleicht, daß &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e<lb/>
Vor&#x017F;tellung nur ein &#x017F;chönes, aber leider bloß täu-<lb/>
&#x017F;chendes Bild ohne innere Wahrheit &#x017F;ey? Daß in<lb/>
einem Zu&#x017F;tande von Bewußtlo&#x017F;igkeit auch die Ruhe<lb/>
nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we-<lb/>
nig&#x017F;tens un&#x017F;er Körper nichts von die&#x017F;em Ausruhen<lb/>
empfinden werde? &#x2014; &#x2014; So müßte auch der Schlaf,<lb/>
dem doch jeder Ermüdete gern entgegen &#x017F;ieht, nichts<lb/>
angenehmes &#x017F;eyn? Oder man müßte das Aufhören<lb/>
von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end-<lb/>
lich &#x2014; wäre das Grab auch nur das Erinnerungs-<lb/>
zeichen, daß der Gei&#x017F;t des Men&#x017F;chen, de&#x017F;&#x017F;en Leib<lb/>
man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge-<lb/>
gangen &#x017F;ey, wenn er ihrer werth war, &#x2014; würde es<lb/>
noch immer Täu&#x017F;chung &#x017F;eyn, wenn man &#x017F;ich mehr<lb/>
&#x017F;einer freute, als darüber trauerte?</p><lb/>
          <p>Er&#x017F;t da hatte Je&#x017F;us &#x017F;einen Gei&#x017F;t in die Hände<lb/>
&#x017F;eines Vaters niedergelegt, als &#x017F;eine Zurückgelaßnen<lb/>
an &#x017F;ein Grab denken mußten. Denn &#x017F;terbend be-<lb/>
fahl er ihn die&#x017F;en Händen. Wir mögen dieß ver-<lb/>
&#x017F;tehen wie wir wollen &#x2014; einen frohern ungehemm-<lb/>
tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbe&#x017F;&#x017F;ertern<lb/>
und &#x017F;eligern Zu&#x017F;tand, ein freudiges Gefühl aus<lb/>
den Händen undankbarer, feind&#x017F;eliger und unge-<lb/>
rechter Men&#x017F;chen in be&#x017F;&#x017F;ere Hände gekommen zu<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;eyn,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160[172]/0176] Oder meynen wir vielleicht, daß ſelbſt dieſe Vorſtellung nur ein ſchönes, aber leider bloß täu- ſchendes Bild ohne innere Wahrheit ſey? Daß in einem Zuſtande von Bewußtloſigkeit auch die Ruhe nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we- nigſtens unſer Körper nichts von dieſem Ausruhen empfinden werde? — — So müßte auch der Schlaf, dem doch jeder Ermüdete gern entgegen ſieht, nichts angenehmes ſeyn? Oder man müßte das Aufhören von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end- lich — wäre das Grab auch nur das Erinnerungs- zeichen, daß der Geiſt des Menſchen, deſſen Leib man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge- gangen ſey, wenn er ihrer werth war, — würde es noch immer Täuſchung ſeyn, wenn man ſich mehr ſeiner freute, als darüber trauerte? Erſt da hatte Jeſus ſeinen Geiſt in die Hände ſeines Vaters niedergelegt, als ſeine Zurückgelaßnen an ſein Grab denken mußten. Denn ſterbend be- fahl er ihn dieſen Händen. Wir mögen dieß ver- ſtehen wie wir wollen — einen frohern ungehemm- tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbeſſertern und ſeligern Zuſtand, ein freudiges Gefühl aus den Händen undankbarer, feindſeliger und unge- rechter Menſchen in beſſere Hände gekommen zu ſeyn,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/176
Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 160[172]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/176>, abgerufen am 23.11.2024.