Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 14. Januar 1872.[Spaltenumbruch]
30 Jahren überstandenen schweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, fesselt # Berlin, 11 Jan. In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauses [Spaltenumbruch]
30 Jahren überſtandenen ſchweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, feſſelt # Berlin, 11 Jan. In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauſes <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p><pb facs="#f0003" n="195"/><cb/> 30 Jahren überſtandenen ſchweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, feſſelt<lb/> den Kranken noch an das Bett, läßt aber eine Zertheilung und Heilung in nicht<lb/> zu ferner Zeit erwarten, wogegen die nervöſe Abſpannung vorausſichtlich<lb/> noch eine längere Zeit der Ruhe und Erholung erfordern wird.“ — Der<lb/> Redacteur der „Volksztg.,“ Hr. Steinitz, war wegen zweier Artikel der „Volksztg.“<lb/> wegen Preßvergehen unter Anklage geſtellt, indeß in erſter Inſtanz freigeſprochen<lb/> worden. Der Staatsanwalt legte hiegegen Appellation ein, und der Criminal-<lb/> Senat des Kammergerichts hat in ſeiner vorgeſtrigen Sitzung den Angeklagten<lb/> wegen des einen Artikels, der die Beleidigung eines Officiers involvirte, zu einer<lb/> Geldſtrafe von 25 Thlrn. oder 10 Tagen Gefängniß verurtheilt. — Zum Nach-<lb/> folger des verſtorbenen Unterſtaatsſecretärs Lehnert im Cultusminiſterium ſoll der<lb/> Geh. Oberjuſtizrath v. Schelling deſignirt ſein. — Die „Kreuzztg.“ ſchreibt: Die<lb/> Notiz verſchiedener Blätter daß der berühmte Orientaliſt Max Müller einen Ruf<lb/> nach Straßburg annehmen will, erweist ſich als irrthümlich. — Der von dem<lb/> alten und befeſtigten Grundbeſitz präſentirte Landrath a. D. Graf v. Schulenburg-<lb/> Angern iſt zum Mitgliede des Herrenhauſes berufen worden.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline># <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 11 Jan.</dateline><lb/> <p>In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauſes<lb/> brachte der <hi rendition="#g">Finanzminiſter,</hi> dem Beſchluſſe des Hauſes entſprechend, das <hi rendition="#g">Pen-<lb/> ſionsgeſetz</hi> für die unmittelbaren Staatsbeamten ein. Die <hi rendition="#g">Kreisordnung</hi> wird<lb/> an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern verwieſen. Die Vorlage betreffend die Er-<lb/> richtung eines Geſammtconſiſtoriums für die evangeliſchen Kirchen im Regierungs-<lb/> bezirk <hi rendition="#g">Kaſſel</hi> wird einer Commiſſian von 14 Mitgliedern überwieſen. Einen ſehr leb-<lb/> haſten Charakter nimmt die Discuſſion über die geſchäftliche Behandlung der Vorlage<lb/> betreffend die Aufbringung der <hi rendition="#g">Synodalkoſten</hi> in den evangeliſchen Kirchengemein-<lb/> ſchaften der Monarchie an. Die liberalen Parteien empfehlen die Form der Schluß-,<lb/> reſp. der Vorberathung, um, wie <hi rendition="#g">Techow</hi> bemerkt, zu conſtatiren ob das Haus zu dem<lb/> gegenwärtigen Cultusminiſter Vertrauen hat, oder nicht. <hi rendition="#g">Windthorſt</hi> iſt zwar zur<lb/> Theilnahme an dem Turnier, das gegen dieſen Miniſter vorbereitet werden ſoll, ſeiner-<lb/> ſeits mit Freuden bereit, hält aber die in Rede ſtehende Vorlage nicht für die paſſende<lb/> Gelegenheit es in Scene zu ſetzen, ſondern meint daß die bevorſtehenden Debatten über<lb/> den Etat des Cultusminiſteriums, die ſehr lebhaft zu werden verſprechen, das natür-<lb/> liche Feld dafür bieten werden. Hier handle es ſich um Feſtſtellung eines Princips, das<lb/> im Intereſſe der Selbſtändigkeit der evangeliſchen Kirche entſchieden werden müſſe,<lb/> ganz unabhängig von der jeweiligen Perſon des Cultusminiſters, und das daher der<lb/> eingehenden Prüfung durch eine Commiſſion, am beſten durch die ſo eben beſchloſſene,<lb/> aber angemeſſen zu verſtärkende, bedürftig ſei. In ähnlichem Sinn äußern ſich<lb/><hi rendition="#g">Stroſſer</hi> u. a. Conſervative, die jedoch mit ihrer Abſicht nicht durchdringen, ſondern<lb/> die Liberalen ſiegen, zwar nicht mit ihrem Antrag auf Schlußberathung, der, wie die<lb/> Zählung ergibt, mit 160 gegen 128 Stimmen abgelehnt wird, aber mit dem Antrag<lb/> auf Vorberathung im Plenum, der mit 157 gegen 133 Stimmen angenommen wird.<lb/> — Darauf wird die Discuſſion über den Etat des <hi rendition="#g">Miniſteriums des Innern</hi><lb/> fortgeſetzt. — Zu Titel 19 (40,000 Thlr. zu <hi rendition="#g">geheimen Ausgaben</hi> im Intereſſe<lb/> der Polizei) ſpricht Abg. <hi rendition="#g">Reichenſperger</hi> (Koblenz): In frühern Jahren .. (Rufe<lb/> rechts: lauter!) mein Sprechorgan iſt vielleicht durch vieljährigen, übermäßigen Ge-<lb/> brauch ſo abgenutzt, daß es für Sie nicht mehr verſtändlich iſt. (Große Heiterkeit.) In<lb/> frühern Jahren, als der Conſtitutionalismus in Frankreich und anderswo noch in Blüthe<lb/> ſtand, war die Frage der geheimen Fonds ſtets der Tummelplatz für den Kampf um<lb/> die Miniſterportefeuilles. Dieſer parlamentariſche Styl iſt inzwiſchen Zopf geworden,<lb/> und ich beſchränke mich auf ein paar kurze Bemerkungen. Die Materie gehört nicht zu<lb/> den lieblichſten Blüthen im Staatsgarten, aber ich fürchte ſie iſt zu tief gewurzelt um<lb/> ſie mit einemmal ausreißen zu können; man muß ſie vorläufig nur zu lockern ſuchen.<lb/> Ich will auch nicht fragen ob dieſer Fonds die officiöſe Preſſe ſpeist; auf dieſe naive<lb/> Frage würde man mir antworten: die Verwendung der Fonds ſei eben eine geheime.<lb/> Aber ich ſtütze mich auf die allgemeine Meinung daß dieſe Preßorgan-Gattung aus dieſem<lb/> Fonds ihre Nahrung zieht. Da möchte ich den Miniſter des Innern doch darauf auf-<lb/> merkſam machen daß ihn ſeine officiöſen Preßagenten ſehr ſchlecht bedienen, namentlich<lb/> auch auf einem Gebiet auf dem ich beſonders orientirt bin. Die officiöſe Preſſe ſpielt<lb/> gegenüber Millionen Bürgern des Staats eine Rolle die ſich mit der Würde der Re-<lb/> gierung und auch mit der Würde einer anſtändigen Preſſe nicht verträgt. Die ihrer<lb/> Kirche ergebenen Katholiken in Preußen werden von ihr in einer Weiſe behandelt die<lb/> ich, wenn ſie nicht allzu abgeſchmackt wäre, hier nicht charakteriſiren möchte, denn ich<lb/> liebe die ſehr ſtarken Ausdrücke nicht. Sie ſpricht nicht nur von ultramontanen, kleri-<lb/> kalen oder, wenn ſie einen Klimax braucht, von jeſuitiſchen Katholiken, ſondern ſie er-<lb/> hebt gegen dieſelben auch Beſchuldigungen welche die ärgſten Beleidigungen enthalten.<lb/> Täglich oder doch wenigſtens wöchentlich einmal nennt ſie ſie: vaterlandslos, landes-<lb/> verrätheriſch; es ſehlt nicht viel, ſo werden die Katholiken beſchuldigt das Petroleum<lb/> für den Brand von Paris geliefert zu haben (Heiterkeit); jedenfalls ſind ſie ſchon oft der<lb/> Anſtiftung des letzten Krieges beſchuldigt worden. Man ſollte doch das betreffende Perſonal<lb/> reformiren; ich glaube gern daß es unmöglich iſt für dieſe Dienſtleiſtungen beſondere<lb/> Muſter von Loyalität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen, aber man ſollte wenigſtens<lb/> Leute nehmen die ſich in gewiſſen Gränzen des Anſtandes und der Schicklichkeit zu<lb/> halten verſtehen. Der Parteikampf iſt nicht zu vermeiden und ſogar nothwendig. Denn<lb/> Kampf iſt Leben, aber er ſoll in ſachlichen Gränzen geführt werden. Ich hoffe daß meine<lb/> wohlgemeinten Worte nicht auf öden und unfruchtbaren Boden fallen werden. Abg.<lb/><hi rendition="#g">Duncker:</hi> Wie gefährlich geheime Fonds ſind, deren Verwendung nicht zur Cognition<lb/> der Oberrechnungskammer gelangt, läßt ſich freilich auf den erſten Blick ſchwer erkennen,<lb/> weil ihre Verwendung nicht bekannt wird; aber ſie enthalten die Keime einer Corrup-<lb/> tion die früher oder ſpäter doch zum Ausbruch kommt. Nicht bloß Agenten und Spione<lb/> zur Verfolgung augenblicklicher Zwecke, ſondern auch feſtangeſtellte Beamte participiren<lb/> an dieſen Fonds. Wenn ein Beamter Luſt hat Paris oder London zu ſehen, ſo be-<lb/> hauptet er: daß dort die beſondere Ueberwachung eines Zweiges der europäiſchen Ver-<lb/> ſchwörung nothwendig ſei, und empfängt dazu Diäten aus den geheimen Fonds, die<lb/> ihm ein reichliches Reiſegeld zum angenehmen Aufenthalt in einer großen Stadt liefern.<lb/> Empfängt ein Beamter detgleichen Nemunerationen, für die er nicht mit ſeinem Namen<lb/> einzutreten hat, ſo wird dadurch leicht ſein Ehrgefühl in einer Weiſe erſchüttert, daß er<lb/> auch ſonſt in Geldſachen nicht diſſicil iſt. Selbſtverſtändlich ſind nur wenige Namen in<lb/> dieſer Beziehung bekannt; einen will ich doch nennen, den Polizei-Agenten Hentze, der<lb/> zugeſtändlich aus dieſem Fonds beſoldet, zahlreiche hervorragende Mitglieder der libe-<lb/> ralen und der demokratiſchen Partei durch falſches Zeugniß ins Zuchthaus gebracht hat,<lb/> der fortdauernd von der conſervativen Partei begünſtigt wurde, und deſſen Leben eine<lb/> fortgeſetzte Kette von Meineiden und Betrügereien war, bis er in einer tragiſchen Kata-<lb/> ſtrophe ſein Ende fand. <hi rendition="#g">Miniſter des Innern:</hi> Jedesmal bei der Berathung dieſes<lb/> Titels iſt über die Natur des geheimen Fonds von den Herren, die ſie nicht bewilligen<lb/> wollen, geſprochen worden. Reues iſt heute nicht vorgebracht, und auch ich kann<lb/> nichts neues anführen; übrigens wird jeder von Ihnen auch ohne Debatte ſchon ent-<lb/> ſchloſſen ſein wie er ſtimmen will. Nur dem Abg. Reichenſperger möchte ich erwiedern<lb/> daß unter der officiöſen Preſſe — das kann nicht beſtimmt genug bervorgehoben werden<lb/> — nur die „Provincial-Correſpondenz“ verſtanden werden kann; für dieſe abernehmen<lb/><cb/> wir die Veraniwortung, nicht in dem Sinne daß jedes Wort was dort geſchrieben iſt<lb/> von uns gedeckt wird, denn es liegt in der Natur der Sache daß der Miniſter ſich nicht<lb/> mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln abgeben kann, aber der Sinn der „Prov.-<lb/> Correſp.,“ der Ton ihrer Artikel im allgemeinen unterliegt der Controle der Regierung<lb/> und wird von ihr beobachtet; alle übrigen Zeitungen mit denen die Regierung in Ver-<lb/> bindung ſteht, inſofern als dieſe Zeitungen den Anſichten der Regierung ihre Spalten<lb/> öffnen, können als officiöſe Blätter nicht betrachtet werden, und wir müſſen jede Ver-<lb/> antwortlichkeit für ihre Artikel ablehnen. Das kann ich aber dem Abg. Reichenſperger<lb/> ganz beſtimmt verſichern: daß ſeitens der Regierung eine Inſpiration zu perſönlichen Be-<lb/> leidigungen, oder zu einer Kampfesweiſe die über die Gränzen des ſachlichen Streits hin-<lb/> ausgeht, niemals ertheilt wird, und daß, wenn dieſelbe irgendwo zumal in eclatanter<lb/> Weiſe hervortritt, eine Reprobation ſeitens der Regierung erfolgt. Der Tit. 19 wird darauf<lb/> mit allen Stimmen gegen die Fortſchrittspartei und die Polen bewilligt. (Senſation.)<lb/> Zu den Capiteln 31 und 60 der Einnahme und Ausgabe, Tit. 3 und 26—29, liegt ein<lb/> Antrag des Abg. <hi rendition="#g">Eberty</hi> vor: die Staatsregierung aufzufordern eine <hi rendition="#g">einheitliche<lb/> Gefängnißverwaltung</hi> mit einer möglichſt ſelbſtändigen Generaldirection herbei-<lb/> zuführen. Abg. <hi rendition="#g">Eberty</hi> führt aus: Die Summen welche bei uns für die Koſten der<lb/> Straf-, Beſſerungs- und Gefängnißverwaltung ausgeworfen ſind, werden nicht nach<lb/> einem fe ſten, einheitlichen Plane verwendet. Die officielle Denkſchrift „Preußiſche<lb/> Gefängniſſe“ gibt zu daß in der preußiſchen Gefängnißverwaltung ein einheitliches<lb/> Haftſyſtem nicht zur Durchführung kommt, daß das Gefängnißweſen nicht in dem Maß<lb/> habe gewinnen können als dieß bei planvoller Anlegung gleicher Mittel geſchehen ſein<lb/> würde. Die beträchtlichen Summen hatten nur eine vorübergehende Abhülfe geſchaffen,<lb/> man hatte eine Abänderung des Strafgeſetzbuches nicht in Anſchlag gebracht, ſondern<lb/> ohne Rückſicht hierauf gebaut. In Folge der Abänderung des Strafgeſetzbuches hat ſich<lb/> der Durchſchnittsbeſtand der Zuchthäuſer um etwa 6500 Köpfe vermindert; von 3247<lb/> eingerichteten Iſolirzellen ſind 966 unbeſetzt, und man will vier Strafanſtalten eingehen<lb/> laſſen. Ein ſolcher Mangel an Vorausſicht ſei unmöglich, wäre die Gefängnißverwal-<lb/> tung centraliſirt. Gegenwärtig kennt der Miniſter des Innern nicht die Plane des<lb/> Juſtizminiſters, und dieſer wiederum befindet ſich in gleicher Unkunde über die den<lb/> Miniſter des Innern treibenden Ideen. In keinem Lande ſonſt findet man ſolche Zer-<lb/> ſplitterung der Gefängnißverwaltung; in Oeſterreich, Holland, Dänemark u. ſ. w. leitet<lb/> ſie der Juſtizminiſter mit dem beſten Erfolge; in Italien und Frankreich der Miniſter<lb/> des Innern weniger erfolgreich. Unter dieſer Zerſplitterung leiden nicht nur die<lb/> Finanzen des Staats, ſondern es wird auch an Körper und Seele der Verbrecher, ſtatt<lb/> ſie zu erziehen, wo möglich zu beſſern, herumexperimentirt; ſehr wenige Gefangene<lb/> werden gebeſſert. Die Statiſtik für 1869 ergab einen Zugang von 7128 Verbrechern;<lb/> unter den Männern waren 71 Procent, unter den Weibern 64 Procent rückfällig. Der<lb/> Juſtizminiſter trägt die Verantwortlichkeit für die Strafvollſtreckung, und deßhalb gebührt<lb/> ihm der beſtimmende Einfluß im Gefängnißweſen. Hätte er ihn, ſo wäre man längſt<lb/> von einer allzu großen Bauluſt auf dieſem Gebiete zurückgekommen. Sind denn geiſt-<lb/> reich erſonnene Bauwerke geeignet die Geſellſchaft vor dem Fortwuchern des Verbrechens<lb/> zu ſichern? Der in London am 2 Juli d. J. zuſammentretende Gefängnißcongreß wird<lb/> hoffentlich dieſe Vorurtheile, die ſchwer auf der Geſellſchaft und dem Staatsweſen laſten,<lb/> zerſtreuen. Von Amerika gieng einſt eine Verbeſſerung des Gefängnißweſens aus;<lb/> wiederum geht von dort der Anſtoß dazu aus. <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Wines iſt im Auftrage des Präſi-<lb/> denten der Vereinigten Staaten in Europa angelangt; er iſt zugleich Repräſentant der<lb/> amerikaniſchen Gefängnißaſſociation, deren Vicepräſident der Sprecher des Congreſſes,<lb/> Hr. Blaines, iſt. Er hat die Regierungen der Schweiz und der Niederlande, Oeſterreichs,<lb/> Hollands und auch des Deutſchen Reichs zur Beſchickung dieſes Congreſſes veranlaßt.<lb/> Es wird darauf ankommen außer Vertretern des Miniſters des Innern auch ſolche des<lb/> Juſtizminiſters, namentlich Männer der Wiſſenſchaft, zu entſenden. Dieſelben werden<lb/> hoffentlich auch die iriſchen Gefängnißanſtalten in Augenſchein nehmen; dort iſt die<lb/> Centraliſation des Gefängnißweſens durchgeführt. Es ſteht unter dem Lordlieutenant,<lb/> dem Stellvertreter der Königin in Irland; dieſe ernennt die drei Gefängnißdirectoren,<lb/> welche Aufſicht, Execution und Diſciplinarſtrafgewalt ausüben. Der weſentliche Unter-<lb/> ſchied des Syſtems beſteht in den Zwiſchenanſtalten <hi rendition="#aq">(intermediate prisons);</hi> die Ueber-<lb/> tragung dieſer Anſtalten nach Deutſchland wird nach Einführung der vorläufigen Ent-<lb/> laſſung des Verurtheilten gemäß §. 23 des Strafgeſetzbuches Gegenſtand der ernſteſten<lb/> Erwägung. Denn durch dieſe Zwiſchenanſtalten werden die Verbrecher, deren Strafen<lb/> durch den Freiſchein abgekürzt werden, erſt zum Eintritt in die Freiheit vorbereitet, und<lb/> durch ſie wird für ihre Unterbringung geſorgt. Hauptſächlich werden dort die Sträf-<lb/> linge zum Ackerbau angeleitet. In beweglichen eiſernen Baracken für je 50 Gefangene,<lb/> jede 330 Pf. St. koſtend, werden ſie nach den Gegenden hingeſchafft wo man ihrer<lb/> Kraft zum Drainiren u. ſ. w. bedarf. Die Regierung hat ſelbſt Ländereien zu dieſem<lb/> Zweck hergegeben. Schon 1858 haben 100 Gefangene in 2 ſolchen Baracken in<lb/> 6 Monaten ſo viel erarbeitet, daß nicht bloß ihre Verpflegung, Beaufſichtigung, Zinſen<lb/> des Anlagecapitals gedeckt waren, ſondern 236 Pf. St. übrig blieben. Die nicht zum<lb/> Ackerbau tauglichen Arbeiter werden in einem andern Zweige der Zwiſchenanſtalten nicht<lb/> etwa fabricationsmäßig beſchäftigt; man gibt ihre Kräfte nicht den Capitaliſten zur<lb/> Ausbeutung der Geſellſchaft hin, vielmehr arbeiten ſie für die Bedürfniſſe der Anſtalt<lb/> in einem erlernten oder zu erlernenden Handwerk. Die Reſultate dieſes irländiſchen<lb/> Syſtems ſind glänzend; die Nachfrage nach Arbeitern aus den Zwiſchenanſtalten ſteigt<lb/> fortwährend, und die Rückfälligkeit vermindert ſich. In England, wo dieſe Anſtalten<lb/> nicht beſtehen, werden 20 Proc. der vorläufig Entlaſſenen rückfällig, in Irland nur 4 Proc.<lb/> Die große Culturaufgabe die hier vorliegt, kann nur durch die Wiſſenſchaft im Bunde<lb/> mit der Menſchenliebe gelöst werden; die Kräfte der Praktiker allein reichen nicht aus.<lb/> Ein Mann der Wiſſenſchaft muß unter Verantwortlichkeit des Juſtizminiſters an die<lb/> Spitze des Gefängnißweſens geſtellt werden. Das gebietet nicht nur die Pflicht der<lb/> zweckmäßigen Verwendung der Staatsgelder, ſondern auch die Pflicht gegen die Ver-<lb/> brecher. Die Selbſtſucht nicht weniger als die Menſchenliebe treibt uns zur Löſung des<lb/> ſchwierigen Problemens, die aber unmöglich iſt ſolange der Forderung meines Antrags<lb/> nicht genügt iſt. (Beifall.) Regierungscommiſſär <hi rendition="#g">Steinmann</hi> vertheidigt die Ver-<lb/> waltung des Gefängnißweſens gegen die von Eberty erhobenen Vorwürfe. Dem An-<lb/> trage des Vorredners trete die Regierung in keiner Weiſe entgegen, ſehe vielmehr in der<lb/> Durchführung desſelben den Ausgangspunkt einer Reihe nützlicher und nothwendiger<lb/> Reformen auf dem Gebiete des Gefängnißweſens; trotzdem dürfe man mit Rückſicht auf<lb/> die erheblichen Schwierigkeiten nicht auf eine ſofortige praktiſche Durchführung des An-<lb/> trags rechnen. Abg. <hi rendition="#g">Duncker</hi> klagt über die bedeutenden Unterhaltungskoſten der Ge-<lb/> fangenen, für welche der Staat pro Kopf täglich 9 Silbergroſchen zuſchießen müſſe. Der<lb/> Grund liege darin daß die Regierung die Arbeitsfähigkeit derſelben nicht in der richtigen<lb/> Weiſe ausnütze. Statt durch öffentliches Ausgebot der Arbeitskräfte einen hohen Preis<lb/> für dieſelben zu erzielen, verdinge man ſie zu niedrigen Sätzen und ſchädige dadurch zu-<lb/> gleich die freien Arbeiter, welche dieſe auf Koſten aller Steuerza hler unterſtützte Concur-<lb/> renz nicht ertragen könnten. Der Antrag des Abg. Eberty wird mit großer Mehrheit<lb/> angenommen. — Zu Tit. 31 (Fonds der Provincialregierungen und Landdroſteien zu<lb/> Almoſen und Unterſtützungen) beantragt Abg. <hi rendition="#g">Rickert:</hi> dieſe Poſition vom J. 1873 an<lb/> in Wegfafl zu bringen. Er weist darauf hin daß die neue deutſche Armengeſetzgebung,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [195/0003]
30 Jahren überſtandenen ſchweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, feſſelt
den Kranken noch an das Bett, läßt aber eine Zertheilung und Heilung in nicht
zu ferner Zeit erwarten, wogegen die nervöſe Abſpannung vorausſichtlich
noch eine längere Zeit der Ruhe und Erholung erfordern wird.“ — Der
Redacteur der „Volksztg.,“ Hr. Steinitz, war wegen zweier Artikel der „Volksztg.“
wegen Preßvergehen unter Anklage geſtellt, indeß in erſter Inſtanz freigeſprochen
worden. Der Staatsanwalt legte hiegegen Appellation ein, und der Criminal-
Senat des Kammergerichts hat in ſeiner vorgeſtrigen Sitzung den Angeklagten
wegen des einen Artikels, der die Beleidigung eines Officiers involvirte, zu einer
Geldſtrafe von 25 Thlrn. oder 10 Tagen Gefängniß verurtheilt. — Zum Nach-
folger des verſtorbenen Unterſtaatsſecretärs Lehnert im Cultusminiſterium ſoll der
Geh. Oberjuſtizrath v. Schelling deſignirt ſein. — Die „Kreuzztg.“ ſchreibt: Die
Notiz verſchiedener Blätter daß der berühmte Orientaliſt Max Müller einen Ruf
nach Straßburg annehmen will, erweist ſich als irrthümlich. — Der von dem
alten und befeſtigten Grundbeſitz präſentirte Landrath a. D. Graf v. Schulenburg-
Angern iſt zum Mitgliede des Herrenhauſes berufen worden.
# Berlin, 11 Jan.
In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauſes
brachte der Finanzminiſter, dem Beſchluſſe des Hauſes entſprechend, das Pen-
ſionsgeſetz für die unmittelbaren Staatsbeamten ein. Die Kreisordnung wird
an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern verwieſen. Die Vorlage betreffend die Er-
richtung eines Geſammtconſiſtoriums für die evangeliſchen Kirchen im Regierungs-
bezirk Kaſſel wird einer Commiſſian von 14 Mitgliedern überwieſen. Einen ſehr leb-
haſten Charakter nimmt die Discuſſion über die geſchäftliche Behandlung der Vorlage
betreffend die Aufbringung der Synodalkoſten in den evangeliſchen Kirchengemein-
ſchaften der Monarchie an. Die liberalen Parteien empfehlen die Form der Schluß-,
reſp. der Vorberathung, um, wie Techow bemerkt, zu conſtatiren ob das Haus zu dem
gegenwärtigen Cultusminiſter Vertrauen hat, oder nicht. Windthorſt iſt zwar zur
Theilnahme an dem Turnier, das gegen dieſen Miniſter vorbereitet werden ſoll, ſeiner-
ſeits mit Freuden bereit, hält aber die in Rede ſtehende Vorlage nicht für die paſſende
Gelegenheit es in Scene zu ſetzen, ſondern meint daß die bevorſtehenden Debatten über
den Etat des Cultusminiſteriums, die ſehr lebhaft zu werden verſprechen, das natür-
liche Feld dafür bieten werden. Hier handle es ſich um Feſtſtellung eines Princips, das
im Intereſſe der Selbſtändigkeit der evangeliſchen Kirche entſchieden werden müſſe,
ganz unabhängig von der jeweiligen Perſon des Cultusminiſters, und das daher der
eingehenden Prüfung durch eine Commiſſion, am beſten durch die ſo eben beſchloſſene,
aber angemeſſen zu verſtärkende, bedürftig ſei. In ähnlichem Sinn äußern ſich
Stroſſer u. a. Conſervative, die jedoch mit ihrer Abſicht nicht durchdringen, ſondern
die Liberalen ſiegen, zwar nicht mit ihrem Antrag auf Schlußberathung, der, wie die
Zählung ergibt, mit 160 gegen 128 Stimmen abgelehnt wird, aber mit dem Antrag
auf Vorberathung im Plenum, der mit 157 gegen 133 Stimmen angenommen wird.
— Darauf wird die Discuſſion über den Etat des Miniſteriums des Innern
fortgeſetzt. — Zu Titel 19 (40,000 Thlr. zu geheimen Ausgaben im Intereſſe
der Polizei) ſpricht Abg. Reichenſperger (Koblenz): In frühern Jahren .. (Rufe
rechts: lauter!) mein Sprechorgan iſt vielleicht durch vieljährigen, übermäßigen Ge-
brauch ſo abgenutzt, daß es für Sie nicht mehr verſtändlich iſt. (Große Heiterkeit.) In
frühern Jahren, als der Conſtitutionalismus in Frankreich und anderswo noch in Blüthe
ſtand, war die Frage der geheimen Fonds ſtets der Tummelplatz für den Kampf um
die Miniſterportefeuilles. Dieſer parlamentariſche Styl iſt inzwiſchen Zopf geworden,
und ich beſchränke mich auf ein paar kurze Bemerkungen. Die Materie gehört nicht zu
den lieblichſten Blüthen im Staatsgarten, aber ich fürchte ſie iſt zu tief gewurzelt um
ſie mit einemmal ausreißen zu können; man muß ſie vorläufig nur zu lockern ſuchen.
Ich will auch nicht fragen ob dieſer Fonds die officiöſe Preſſe ſpeist; auf dieſe naive
Frage würde man mir antworten: die Verwendung der Fonds ſei eben eine geheime.
Aber ich ſtütze mich auf die allgemeine Meinung daß dieſe Preßorgan-Gattung aus dieſem
Fonds ihre Nahrung zieht. Da möchte ich den Miniſter des Innern doch darauf auf-
merkſam machen daß ihn ſeine officiöſen Preßagenten ſehr ſchlecht bedienen, namentlich
auch auf einem Gebiet auf dem ich beſonders orientirt bin. Die officiöſe Preſſe ſpielt
gegenüber Millionen Bürgern des Staats eine Rolle die ſich mit der Würde der Re-
gierung und auch mit der Würde einer anſtändigen Preſſe nicht verträgt. Die ihrer
Kirche ergebenen Katholiken in Preußen werden von ihr in einer Weiſe behandelt die
ich, wenn ſie nicht allzu abgeſchmackt wäre, hier nicht charakteriſiren möchte, denn ich
liebe die ſehr ſtarken Ausdrücke nicht. Sie ſpricht nicht nur von ultramontanen, kleri-
kalen oder, wenn ſie einen Klimax braucht, von jeſuitiſchen Katholiken, ſondern ſie er-
hebt gegen dieſelben auch Beſchuldigungen welche die ärgſten Beleidigungen enthalten.
Täglich oder doch wenigſtens wöchentlich einmal nennt ſie ſie: vaterlandslos, landes-
verrätheriſch; es ſehlt nicht viel, ſo werden die Katholiken beſchuldigt das Petroleum
für den Brand von Paris geliefert zu haben (Heiterkeit); jedenfalls ſind ſie ſchon oft der
Anſtiftung des letzten Krieges beſchuldigt worden. Man ſollte doch das betreffende Perſonal
reformiren; ich glaube gern daß es unmöglich iſt für dieſe Dienſtleiſtungen beſondere
Muſter von Loyalität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen, aber man ſollte wenigſtens
Leute nehmen die ſich in gewiſſen Gränzen des Anſtandes und der Schicklichkeit zu
halten verſtehen. Der Parteikampf iſt nicht zu vermeiden und ſogar nothwendig. Denn
Kampf iſt Leben, aber er ſoll in ſachlichen Gränzen geführt werden. Ich hoffe daß meine
wohlgemeinten Worte nicht auf öden und unfruchtbaren Boden fallen werden. Abg.
Duncker: Wie gefährlich geheime Fonds ſind, deren Verwendung nicht zur Cognition
der Oberrechnungskammer gelangt, läßt ſich freilich auf den erſten Blick ſchwer erkennen,
weil ihre Verwendung nicht bekannt wird; aber ſie enthalten die Keime einer Corrup-
tion die früher oder ſpäter doch zum Ausbruch kommt. Nicht bloß Agenten und Spione
zur Verfolgung augenblicklicher Zwecke, ſondern auch feſtangeſtellte Beamte participiren
an dieſen Fonds. Wenn ein Beamter Luſt hat Paris oder London zu ſehen, ſo be-
hauptet er: daß dort die beſondere Ueberwachung eines Zweiges der europäiſchen Ver-
ſchwörung nothwendig ſei, und empfängt dazu Diäten aus den geheimen Fonds, die
ihm ein reichliches Reiſegeld zum angenehmen Aufenthalt in einer großen Stadt liefern.
Empfängt ein Beamter detgleichen Nemunerationen, für die er nicht mit ſeinem Namen
einzutreten hat, ſo wird dadurch leicht ſein Ehrgefühl in einer Weiſe erſchüttert, daß er
auch ſonſt in Geldſachen nicht diſſicil iſt. Selbſtverſtändlich ſind nur wenige Namen in
dieſer Beziehung bekannt; einen will ich doch nennen, den Polizei-Agenten Hentze, der
zugeſtändlich aus dieſem Fonds beſoldet, zahlreiche hervorragende Mitglieder der libe-
ralen und der demokratiſchen Partei durch falſches Zeugniß ins Zuchthaus gebracht hat,
der fortdauernd von der conſervativen Partei begünſtigt wurde, und deſſen Leben eine
fortgeſetzte Kette von Meineiden und Betrügereien war, bis er in einer tragiſchen Kata-
ſtrophe ſein Ende fand. Miniſter des Innern: Jedesmal bei der Berathung dieſes
Titels iſt über die Natur des geheimen Fonds von den Herren, die ſie nicht bewilligen
wollen, geſprochen worden. Reues iſt heute nicht vorgebracht, und auch ich kann
nichts neues anführen; übrigens wird jeder von Ihnen auch ohne Debatte ſchon ent-
ſchloſſen ſein wie er ſtimmen will. Nur dem Abg. Reichenſperger möchte ich erwiedern
daß unter der officiöſen Preſſe — das kann nicht beſtimmt genug bervorgehoben werden
— nur die „Provincial-Correſpondenz“ verſtanden werden kann; für dieſe abernehmen
wir die Veraniwortung, nicht in dem Sinne daß jedes Wort was dort geſchrieben iſt
von uns gedeckt wird, denn es liegt in der Natur der Sache daß der Miniſter ſich nicht
mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln abgeben kann, aber der Sinn der „Prov.-
Correſp.,“ der Ton ihrer Artikel im allgemeinen unterliegt der Controle der Regierung
und wird von ihr beobachtet; alle übrigen Zeitungen mit denen die Regierung in Ver-
bindung ſteht, inſofern als dieſe Zeitungen den Anſichten der Regierung ihre Spalten
öffnen, können als officiöſe Blätter nicht betrachtet werden, und wir müſſen jede Ver-
antwortlichkeit für ihre Artikel ablehnen. Das kann ich aber dem Abg. Reichenſperger
ganz beſtimmt verſichern: daß ſeitens der Regierung eine Inſpiration zu perſönlichen Be-
leidigungen, oder zu einer Kampfesweiſe die über die Gränzen des ſachlichen Streits hin-
ausgeht, niemals ertheilt wird, und daß, wenn dieſelbe irgendwo zumal in eclatanter
Weiſe hervortritt, eine Reprobation ſeitens der Regierung erfolgt. Der Tit. 19 wird darauf
mit allen Stimmen gegen die Fortſchrittspartei und die Polen bewilligt. (Senſation.)
Zu den Capiteln 31 und 60 der Einnahme und Ausgabe, Tit. 3 und 26—29, liegt ein
Antrag des Abg. Eberty vor: die Staatsregierung aufzufordern eine einheitliche
Gefängnißverwaltung mit einer möglichſt ſelbſtändigen Generaldirection herbei-
zuführen. Abg. Eberty führt aus: Die Summen welche bei uns für die Koſten der
Straf-, Beſſerungs- und Gefängnißverwaltung ausgeworfen ſind, werden nicht nach
einem fe ſten, einheitlichen Plane verwendet. Die officielle Denkſchrift „Preußiſche
Gefängniſſe“ gibt zu daß in der preußiſchen Gefängnißverwaltung ein einheitliches
Haftſyſtem nicht zur Durchführung kommt, daß das Gefängnißweſen nicht in dem Maß
habe gewinnen können als dieß bei planvoller Anlegung gleicher Mittel geſchehen ſein
würde. Die beträchtlichen Summen hatten nur eine vorübergehende Abhülfe geſchaffen,
man hatte eine Abänderung des Strafgeſetzbuches nicht in Anſchlag gebracht, ſondern
ohne Rückſicht hierauf gebaut. In Folge der Abänderung des Strafgeſetzbuches hat ſich
der Durchſchnittsbeſtand der Zuchthäuſer um etwa 6500 Köpfe vermindert; von 3247
eingerichteten Iſolirzellen ſind 966 unbeſetzt, und man will vier Strafanſtalten eingehen
laſſen. Ein ſolcher Mangel an Vorausſicht ſei unmöglich, wäre die Gefängnißverwal-
tung centraliſirt. Gegenwärtig kennt der Miniſter des Innern nicht die Plane des
Juſtizminiſters, und dieſer wiederum befindet ſich in gleicher Unkunde über die den
Miniſter des Innern treibenden Ideen. In keinem Lande ſonſt findet man ſolche Zer-
ſplitterung der Gefängnißverwaltung; in Oeſterreich, Holland, Dänemark u. ſ. w. leitet
ſie der Juſtizminiſter mit dem beſten Erfolge; in Italien und Frankreich der Miniſter
des Innern weniger erfolgreich. Unter dieſer Zerſplitterung leiden nicht nur die
Finanzen des Staats, ſondern es wird auch an Körper und Seele der Verbrecher, ſtatt
ſie zu erziehen, wo möglich zu beſſern, herumexperimentirt; ſehr wenige Gefangene
werden gebeſſert. Die Statiſtik für 1869 ergab einen Zugang von 7128 Verbrechern;
unter den Männern waren 71 Procent, unter den Weibern 64 Procent rückfällig. Der
Juſtizminiſter trägt die Verantwortlichkeit für die Strafvollſtreckung, und deßhalb gebührt
ihm der beſtimmende Einfluß im Gefängnißweſen. Hätte er ihn, ſo wäre man längſt
von einer allzu großen Bauluſt auf dieſem Gebiete zurückgekommen. Sind denn geiſt-
reich erſonnene Bauwerke geeignet die Geſellſchaft vor dem Fortwuchern des Verbrechens
zu ſichern? Der in London am 2 Juli d. J. zuſammentretende Gefängnißcongreß wird
hoffentlich dieſe Vorurtheile, die ſchwer auf der Geſellſchaft und dem Staatsweſen laſten,
zerſtreuen. Von Amerika gieng einſt eine Verbeſſerung des Gefängnißweſens aus;
wiederum geht von dort der Anſtoß dazu aus. Dr. Wines iſt im Auftrage des Präſi-
denten der Vereinigten Staaten in Europa angelangt; er iſt zugleich Repräſentant der
amerikaniſchen Gefängnißaſſociation, deren Vicepräſident der Sprecher des Congreſſes,
Hr. Blaines, iſt. Er hat die Regierungen der Schweiz und der Niederlande, Oeſterreichs,
Hollands und auch des Deutſchen Reichs zur Beſchickung dieſes Congreſſes veranlaßt.
Es wird darauf ankommen außer Vertretern des Miniſters des Innern auch ſolche des
Juſtizminiſters, namentlich Männer der Wiſſenſchaft, zu entſenden. Dieſelben werden
hoffentlich auch die iriſchen Gefängnißanſtalten in Augenſchein nehmen; dort iſt die
Centraliſation des Gefängnißweſens durchgeführt. Es ſteht unter dem Lordlieutenant,
dem Stellvertreter der Königin in Irland; dieſe ernennt die drei Gefängnißdirectoren,
welche Aufſicht, Execution und Diſciplinarſtrafgewalt ausüben. Der weſentliche Unter-
ſchied des Syſtems beſteht in den Zwiſchenanſtalten (intermediate prisons); die Ueber-
tragung dieſer Anſtalten nach Deutſchland wird nach Einführung der vorläufigen Ent-
laſſung des Verurtheilten gemäß §. 23 des Strafgeſetzbuches Gegenſtand der ernſteſten
Erwägung. Denn durch dieſe Zwiſchenanſtalten werden die Verbrecher, deren Strafen
durch den Freiſchein abgekürzt werden, erſt zum Eintritt in die Freiheit vorbereitet, und
durch ſie wird für ihre Unterbringung geſorgt. Hauptſächlich werden dort die Sträf-
linge zum Ackerbau angeleitet. In beweglichen eiſernen Baracken für je 50 Gefangene,
jede 330 Pf. St. koſtend, werden ſie nach den Gegenden hingeſchafft wo man ihrer
Kraft zum Drainiren u. ſ. w. bedarf. Die Regierung hat ſelbſt Ländereien zu dieſem
Zweck hergegeben. Schon 1858 haben 100 Gefangene in 2 ſolchen Baracken in
6 Monaten ſo viel erarbeitet, daß nicht bloß ihre Verpflegung, Beaufſichtigung, Zinſen
des Anlagecapitals gedeckt waren, ſondern 236 Pf. St. übrig blieben. Die nicht zum
Ackerbau tauglichen Arbeiter werden in einem andern Zweige der Zwiſchenanſtalten nicht
etwa fabricationsmäßig beſchäftigt; man gibt ihre Kräfte nicht den Capitaliſten zur
Ausbeutung der Geſellſchaft hin, vielmehr arbeiten ſie für die Bedürfniſſe der Anſtalt
in einem erlernten oder zu erlernenden Handwerk. Die Reſultate dieſes irländiſchen
Syſtems ſind glänzend; die Nachfrage nach Arbeitern aus den Zwiſchenanſtalten ſteigt
fortwährend, und die Rückfälligkeit vermindert ſich. In England, wo dieſe Anſtalten
nicht beſtehen, werden 20 Proc. der vorläufig Entlaſſenen rückfällig, in Irland nur 4 Proc.
Die große Culturaufgabe die hier vorliegt, kann nur durch die Wiſſenſchaft im Bunde
mit der Menſchenliebe gelöst werden; die Kräfte der Praktiker allein reichen nicht aus.
Ein Mann der Wiſſenſchaft muß unter Verantwortlichkeit des Juſtizminiſters an die
Spitze des Gefängnißweſens geſtellt werden. Das gebietet nicht nur die Pflicht der
zweckmäßigen Verwendung der Staatsgelder, ſondern auch die Pflicht gegen die Ver-
brecher. Die Selbſtſucht nicht weniger als die Menſchenliebe treibt uns zur Löſung des
ſchwierigen Problemens, die aber unmöglich iſt ſolange der Forderung meines Antrags
nicht genügt iſt. (Beifall.) Regierungscommiſſär Steinmann vertheidigt die Ver-
waltung des Gefängnißweſens gegen die von Eberty erhobenen Vorwürfe. Dem An-
trage des Vorredners trete die Regierung in keiner Weiſe entgegen, ſehe vielmehr in der
Durchführung desſelben den Ausgangspunkt einer Reihe nützlicher und nothwendiger
Reformen auf dem Gebiete des Gefängnißweſens; trotzdem dürfe man mit Rückſicht auf
die erheblichen Schwierigkeiten nicht auf eine ſofortige praktiſche Durchführung des An-
trags rechnen. Abg. Duncker klagt über die bedeutenden Unterhaltungskoſten der Ge-
fangenen, für welche der Staat pro Kopf täglich 9 Silbergroſchen zuſchießen müſſe. Der
Grund liege darin daß die Regierung die Arbeitsfähigkeit derſelben nicht in der richtigen
Weiſe ausnütze. Statt durch öffentliches Ausgebot der Arbeitskräfte einen hohen Preis
für dieſelben zu erzielen, verdinge man ſie zu niedrigen Sätzen und ſchädige dadurch zu-
gleich die freien Arbeiter, welche dieſe auf Koſten aller Steuerza hler unterſtützte Concur-
renz nicht ertragen könnten. Der Antrag des Abg. Eberty wird mit großer Mehrheit
angenommen. — Zu Tit. 31 (Fonds der Provincialregierungen und Landdroſteien zu
Almoſen und Unterſtützungen) beantragt Abg. Rickert: dieſe Poſition vom J. 1873 an
in Wegfafl zu bringen. Er weist darauf hin daß die neue deutſche Armengeſetzgebung,
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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