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Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 14. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] 30 Jahren überstandenen schweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, fesselt
den Kranken noch an das Bett, läßt aber eine Zertheilung und Heilung in nicht
zu ferner Zeit erwarten, wogegen die nervöse Abspannung voraussichtlich
noch eine längere Zeit der Ruhe und Erholung erfordern wird." -- Der
Redacteur der "Volksztg.," Hr. Steinitz, war wegen zweier Artikel der "Volksztg."
wegen Preßvergehen unter Anklage gestellt, indeß in erster Instanz freigesprochen
worden. Der Staatsanwalt legte hiegegen Appellation ein, und der Criminal-
Senat des Kammergerichts hat in seiner vorgestrigen Sitzung den Angeklagten
wegen des einen Artikels, der die Beleidigung eines Officiers involvirte, zu einer
Geldstrafe von 25 Thlrn. oder 10 Tagen Gefängniß verurtheilt. -- Zum Nach-
folger des verstorbenen Unterstaatssecretärs Lehnert im Cultusministerium soll der
Geh. Oberjustizrath v. Schelling designirt sein. -- Die "Kreuzztg." schreibt: Die
Notiz verschiedener Blätter daß der berühmte Orientalist Max Müller einen Ruf
nach Straßburg annehmen will, erweist sich als irrthümlich. -- Der von dem
alten und befestigten Grundbesitz präsentirte Landrath a. D. Graf v. Schulenburg-
Angern ist zum Mitgliede des Herrenhauses berufen worden.


In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauses
brachte der Finanzminister, dem Beschlusse des Hauses entsprechend, das Pen-
sionsgesetz
für die unmittelbaren Staatsbeamten ein. Die Kreisordnung wird
an eine Commission von 21 Mitgliedern verwiesen. Die Vorlage betreffend die Er-
richtung eines Gesammtconsistoriums für die evangelischen Kirchen im Regierungs-
bezirk Kassel wird einer Commissian von 14 Mitgliedern überwiesen. Einen sehr leb-
hasten Charakter nimmt die Discussion über die geschäftliche Behandlung der Vorlage
betreffend die Aufbringung der Synodalkosten in den evangelischen Kirchengemein-
schaften der Monarchie an. Die liberalen Parteien empfehlen die Form der Schluß-,
resp. der Vorberathung, um, wie Techow bemerkt, zu constatiren ob das Haus zu dem
gegenwärtigen Cultusminister Vertrauen hat, oder nicht. Windthorst ist zwar zur
Theilnahme an dem Turnier, das gegen diesen Minister vorbereitet werden soll, seiner-
seits mit Freuden bereit, hält aber die in Rede stehende Vorlage nicht für die passende
Gelegenheit es in Scene zu setzen, sondern meint daß die bevorstehenden Debatten über
den Etat des Cultusministeriums, die sehr lebhaft zu werden versprechen, das natür-
liche Feld dafür bieten werden. Hier handle es sich um Feststellung eines Princips, das
im Interesse der Selbständigkeit der evangelischen Kirche entschieden werden müsse,
ganz unabhängig von der jeweiligen Person des Cultusministers, und das daher der
eingehenden Prüfung durch eine Commission, am besten durch die so eben beschlossene,
aber angemessen zu verstärkende, bedürftig sei. In ähnlichem Sinn äußern sich
Strosser u. a. Conservative, die jedoch mit ihrer Absicht nicht durchdringen, sondern
die Liberalen siegen, zwar nicht mit ihrem Antrag auf Schlußberathung, der, wie die
Zählung ergibt, mit 160 gegen 128 Stimmen abgelehnt wird, aber mit dem Antrag
auf Vorberathung im Plenum, der mit 157 gegen 133 Stimmen angenommen wird.
-- Darauf wird die Discussion über den Etat des Ministeriums des Innern
fortgesetzt. -- Zu Titel 19 (40,000 Thlr. zu geheimen Ausgaben im Interesse
der Polizei) spricht Abg. Reichensperger (Koblenz): In frühern Jahren .. (Rufe
rechts: lauter!) mein Sprechorgan ist vielleicht durch vieljährigen, übermäßigen Ge-
brauch so abgenutzt, daß es für Sie nicht mehr verständlich ist. (Große Heiterkeit.) In
frühern Jahren, als der Constitutionalismus in Frankreich und anderswo noch in Blüthe
stand, war die Frage der geheimen Fonds stets der Tummelplatz für den Kampf um
die Ministerportefeuilles. Dieser parlamentarische Styl ist inzwischen Zopf geworden,
und ich beschränke mich auf ein paar kurze Bemerkungen. Die Materie gehört nicht zu
den lieblichsten Blüthen im Staatsgarten, aber ich fürchte sie ist zu tief gewurzelt um
sie mit einemmal ausreißen zu können; man muß sie vorläufig nur zu lockern suchen.
Ich will auch nicht fragen ob dieser Fonds die officiöse Presse speist; auf diese naive
Frage würde man mir antworten: die Verwendung der Fonds sei eben eine geheime.
Aber ich stütze mich auf die allgemeine Meinung daß diese Preßorgan-Gattung aus diesem
Fonds ihre Nahrung zieht. Da möchte ich den Minister des Innern doch darauf auf-
merksam machen daß ihn seine officiösen Preßagenten sehr schlecht bedienen, namentlich
auch auf einem Gebiet auf dem ich besonders orientirt bin. Die officiöse Presse spielt
gegenüber Millionen Bürgern des Staats eine Rolle die sich mit der Würde der Re-
gierung und auch mit der Würde einer anständigen Presse nicht verträgt. Die ihrer
Kirche ergebenen Katholiken in Preußen werden von ihr in einer Weise behandelt die
ich, wenn sie nicht allzu abgeschmackt wäre, hier nicht charakterisiren möchte, denn ich
liebe die sehr starken Ausdrücke nicht. Sie spricht nicht nur von ultramontanen, kleri-
kalen oder, wenn sie einen Klimax braucht, von jesuitischen Katholiken, sondern sie er-
hebt gegen dieselben auch Beschuldigungen welche die ärgsten Beleidigungen enthalten.
Täglich oder doch wenigstens wöchentlich einmal nennt sie sie: vaterlandslos, landes-
verrätherisch; es sehlt nicht viel, so werden die Katholiken beschuldigt das Petroleum
für den Brand von Paris geliefert zu haben (Heiterkeit); jedenfalls sind sie schon oft der
Anstiftung des letzten Krieges beschuldigt worden. Man sollte doch das betreffende Personal
reformiren; ich glaube gern daß es unmöglich ist für diese Dienstleistungen besondere
Muster von Loyalität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen, aber man sollte wenigstens
Leute nehmen die sich in gewissen Gränzen des Anstandes und der Schicklichkeit zu
halten verstehen. Der Parteikampf ist nicht zu vermeiden und sogar nothwendig. Denn
Kampf ist Leben, aber er soll in sachlichen Gränzen geführt werden. Ich hoffe daß meine
wohlgemeinten Worte nicht auf öden und unfruchtbaren Boden fallen werden. Abg.
Duncker: Wie gefährlich geheime Fonds sind, deren Verwendung nicht zur Cognition
der Oberrechnungskammer gelangt, läßt sich freilich auf den ersten Blick schwer erkennen,
weil ihre Verwendung nicht bekannt wird; aber sie enthalten die Keime einer Corrup-
tion die früher oder später doch zum Ausbruch kommt. Nicht bloß Agenten und Spione
zur Verfolgung augenblicklicher Zwecke, sondern auch festangestellte Beamte participiren
an diesen Fonds. Wenn ein Beamter Lust hat Paris oder London zu sehen, so be-
hauptet er: daß dort die besondere Ueberwachung eines Zweiges der europäischen Ver-
schwörung nothwendig sei, und empfängt dazu Diäten aus den geheimen Fonds, die
ihm ein reichliches Reisegeld zum angenehmen Aufenthalt in einer großen Stadt liefern.
Empfängt ein Beamter detgleichen Nemunerationen, für die er nicht mit seinem Namen
einzutreten hat, so wird dadurch leicht sein Ehrgefühl in einer Weise erschüttert, daß er
auch sonst in Geldsachen nicht dissicil ist. Selbstverständlich sind nur wenige Namen in
dieser Beziehung bekannt; einen will ich doch nennen, den Polizei-Agenten Hentze, der
zugeständlich aus diesem Fonds besoldet, zahlreiche hervorragende Mitglieder der libe-
ralen und der demokratischen Partei durch falsches Zeugniß ins Zuchthaus gebracht hat,
der fortdauernd von der conservativen Partei begünstigt wurde, und dessen Leben eine
fortgesetzte Kette von Meineiden und Betrügereien war, bis er in einer tragischen Kata-
strophe sein Ende fand. Minister des Innern: Jedesmal bei der Berathung dieses
Titels ist über die Natur des geheimen Fonds von den Herren, die sie nicht bewilligen
wollen, gesprochen worden. Reues ist heute nicht vorgebracht, und auch ich kann
nichts neues anführen; übrigens wird jeder von Ihnen auch ohne Debatte schon ent-
schlossen sein wie er stimmen will. Nur dem Abg. Reichensperger möchte ich erwiedern
daß unter der officiösen Presse -- das kann nicht bestimmt genug bervorgehoben werden
-- nur die "Provincial-Correspondenz" verstanden werden kann; für diese abernehmen
[Spaltenumbruch] wir die Veraniwortung, nicht in dem Sinne daß jedes Wort was dort geschrieben ist
von uns gedeckt wird, denn es liegt in der Natur der Sache daß der Minister sich nicht
mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln abgeben kann, aber der Sinn der "Prov.-
Corresp.," der Ton ihrer Artikel im allgemeinen unterliegt der Controle der Regierung
und wird von ihr beobachtet; alle übrigen Zeitungen mit denen die Regierung in Ver-
bindung steht, insofern als diese Zeitungen den Ansichten der Regierung ihre Spalten
öffnen, können als officiöse Blätter nicht betrachtet werden, und wir müssen jede Ver-
antwortlichkeit für ihre Artikel ablehnen. Das kann ich aber dem Abg. Reichensperger
ganz bestimmt versichern: daß seitens der Regierung eine Inspiration zu persönlichen Be-
leidigungen, oder zu einer Kampfesweise die über die Gränzen des sachlichen Streits hin-
ausgeht, niemals ertheilt wird, und daß, wenn dieselbe irgendwo zumal in eclatanter
Weise hervortritt, eine Reprobation seitens der Regierung erfolgt. Der Tit. 19 wird darauf
mit allen Stimmen gegen die Fortschrittspartei und die Polen bewilligt. (Sensation.)
Zu den Capiteln 31 und 60 der Einnahme und Ausgabe, Tit. 3 und 26--29, liegt ein
Antrag des Abg. Eberty vor: die Staatsregierung aufzufordern eine einheitliche
Gefängnißverwaltung
mit einer möglichst selbständigen Generaldirection herbei-
zuführen. Abg. Eberty führt aus: Die Summen welche bei uns für die Kosten der
Straf-, Besserungs- und Gefängnißverwaltung ausgeworfen sind, werden nicht nach
einem fe sten, einheitlichen Plane verwendet. Die officielle Denkschrift "Preußische
Gefängnisse" gibt zu daß in der preußischen Gefängnißverwaltung ein einheitliches
Haftsystem nicht zur Durchführung kommt, daß das Gefängnißwesen nicht in dem Maß
habe gewinnen können als dieß bei planvoller Anlegung gleicher Mittel geschehen sein
würde. Die beträchtlichen Summen hatten nur eine vorübergehende Abhülfe geschaffen,
man hatte eine Abänderung des Strafgesetzbuches nicht in Anschlag gebracht, sondern
ohne Rücksicht hierauf gebaut. In Folge der Abänderung des Strafgesetzbuches hat sich
der Durchschnittsbestand der Zuchthäuser um etwa 6500 Köpfe vermindert; von 3247
eingerichteten Isolirzellen sind 966 unbesetzt, und man will vier Strafanstalten eingehen
lassen. Ein solcher Mangel an Voraussicht sei unmöglich, wäre die Gefängnißverwal-
tung centralisirt. Gegenwärtig kennt der Minister des Innern nicht die Plane des
Justizministers, und dieser wiederum befindet sich in gleicher Unkunde über die den
Minister des Innern treibenden Ideen. In keinem Lande sonst findet man solche Zer-
splitterung der Gefängnißverwaltung; in Oesterreich, Holland, Dänemark u. s. w. leitet
sie der Justizminister mit dem besten Erfolge; in Italien und Frankreich der Minister
des Innern weniger erfolgreich. Unter dieser Zersplitterung leiden nicht nur die
Finanzen des Staats, sondern es wird auch an Körper und Seele der Verbrecher, statt
sie zu erziehen, wo möglich zu bessern, herumexperimentirt; sehr wenige Gefangene
werden gebessert. Die Statistik für 1869 ergab einen Zugang von 7128 Verbrechern;
unter den Männern waren 71 Procent, unter den Weibern 64 Procent rückfällig. Der
Justizminister trägt die Verantwortlichkeit für die Strafvollstreckung, und deßhalb gebührt
ihm der bestimmende Einfluß im Gefängnißwesen. Hätte er ihn, so wäre man längst
von einer allzu großen Baulust auf diesem Gebiete zurückgekommen. Sind denn geist-
reich ersonnene Bauwerke geeignet die Gesellschaft vor dem Fortwuchern des Verbrechens
zu sichern? Der in London am 2 Juli d. J. zusammentretende Gefängnißcongreß wird
hoffentlich diese Vorurtheile, die schwer auf der Gesellschaft und dem Staatswesen lasten,
zerstreuen. Von Amerika gieng einst eine Verbesserung des Gefängnißwesens aus;
wiederum geht von dort der Anstoß dazu aus. Dr. Wines ist im Auftrage des Präsi-
denten der Vereinigten Staaten in Europa angelangt; er ist zugleich Repräsentant der
amerikanischen Gefängnißassociation, deren Vicepräsident der Sprecher des Congresses,
Hr. Blaines, ist. Er hat die Regierungen der Schweiz und der Niederlande, Oesterreichs,
Hollands und auch des Deutschen Reichs zur Beschickung dieses Congresses veranlaßt.
Es wird darauf ankommen außer Vertretern des Ministers des Innern auch solche des
Justizministers, namentlich Männer der Wissenschaft, zu entsenden. Dieselben werden
hoffentlich auch die irischen Gefängnißanstalten in Augenschein nehmen; dort ist die
Centralisation des Gefängnißwesens durchgeführt. Es steht unter dem Lordlieutenant,
dem Stellvertreter der Königin in Irland; diese ernennt die drei Gefängnißdirectoren,
welche Aufsicht, Execution und Disciplinarstrafgewalt ausüben. Der wesentliche Unter-
schied des Systems besteht in den Zwischenanstalten (intermediate prisons); die Ueber-
tragung dieser Anstalten nach Deutschland wird nach Einführung der vorläufigen Ent-
lassung des Verurtheilten gemäß §. 23 des Strafgesetzbuches Gegenstand der ernstesten
Erwägung. Denn durch diese Zwischenanstalten werden die Verbrecher, deren Strafen
durch den Freischein abgekürzt werden, erst zum Eintritt in die Freiheit vorbereitet, und
durch sie wird für ihre Unterbringung gesorgt. Hauptsächlich werden dort die Sträf-
linge zum Ackerbau angeleitet. In beweglichen eisernen Baracken für je 50 Gefangene,
jede 330 Pf. St. kostend, werden sie nach den Gegenden hingeschafft wo man ihrer
Kraft zum Drainiren u. s. w. bedarf. Die Regierung hat selbst Ländereien zu diesem
Zweck hergegeben. Schon 1858 haben 100 Gefangene in 2 solchen Baracken in
6 Monaten so viel erarbeitet, daß nicht bloß ihre Verpflegung, Beaufsichtigung, Zinsen
des Anlagecapitals gedeckt waren, sondern 236 Pf. St. übrig blieben. Die nicht zum
Ackerbau tauglichen Arbeiter werden in einem andern Zweige der Zwischenanstalten nicht
etwa fabricationsmäßig beschäftigt; man gibt ihre Kräfte nicht den Capitalisten zur
Ausbeutung der Gesellschaft hin, vielmehr arbeiten sie für die Bedürfnisse der Anstalt
in einem erlernten oder zu erlernenden Handwerk. Die Resultate dieses irländischen
Systems sind glänzend; die Nachfrage nach Arbeitern aus den Zwischenanstalten steigt
fortwährend, und die Rückfälligkeit vermindert sich. In England, wo diese Anstalten
nicht bestehen, werden 20 Proc. der vorläufig Entlassenen rückfällig, in Irland nur 4 Proc.
Die große Culturaufgabe die hier vorliegt, kann nur durch die Wissenschaft im Bunde
mit der Menschenliebe gelöst werden; die Kräfte der Praktiker allein reichen nicht aus.
Ein Mann der Wissenschaft muß unter Verantwortlichkeit des Justizministers an die
Spitze des Gefängnißwesens gestellt werden. Das gebietet nicht nur die Pflicht der
zweckmäßigen Verwendung der Staatsgelder, sondern auch die Pflicht gegen die Ver-
brecher. Die Selbstsucht nicht weniger als die Menschenliebe treibt uns zur Lösung des
schwierigen Problemens, die aber unmöglich ist solange der Forderung meines Antrags
nicht genügt ist. (Beifall.) Regierungscommissär Steinmann vertheidigt die Ver-
waltung des Gefängnißwesens gegen die von Eberty erhobenen Vorwürfe. Dem An-
trage des Vorredners trete die Regierung in keiner Weise entgegen, sehe vielmehr in der
Durchführung desselben den Ausgangspunkt einer Reihe nützlicher und nothwendiger
Reformen auf dem Gebiete des Gefängnißwesens; trotzdem dürfe man mit Rücksicht auf
die erheblichen Schwierigkeiten nicht auf eine sofortige praktische Durchführung des An-
trags rechnen. Abg. Duncker klagt über die bedeutenden Unterhaltungskosten der Ge-
fangenen, für welche der Staat pro Kopf täglich 9 Silbergroschen zuschießen müsse. Der
Grund liege darin daß die Regierung die Arbeitsfähigkeit derselben nicht in der richtigen
Weise ausnütze. Statt durch öffentliches Ausgebot der Arbeitskräfte einen hohen Preis
für dieselben zu erzielen, verdinge man sie zu niedrigen Sätzen und schädige dadurch zu-
gleich die freien Arbeiter, welche diese auf Kosten aller Steuerza hler unterstützte Concur-
renz nicht ertragen könnten. Der Antrag des Abg. Eberty wird mit großer Mehrheit
angenommen. -- Zu Tit. 31 (Fonds der Provincialregierungen und Landdrosteien zu
Almosen und Unterstützungen) beantragt Abg. Rickert: diese Position vom J. 1873 an
in Wegfafl zu bringen. Er weist darauf hin daß die neue deutsche Armengesetzgebung,

[Spaltenumbruch] 30 Jahren überſtandenen ſchweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, feſſelt
den Kranken noch an das Bett, läßt aber eine Zertheilung und Heilung in nicht
zu ferner Zeit erwarten, wogegen die nervöſe Abſpannung vorausſichtlich
noch eine längere Zeit der Ruhe und Erholung erfordern wird.“ — Der
Redacteur der „Volksztg.,“ Hr. Steinitz, war wegen zweier Artikel der „Volksztg.“
wegen Preßvergehen unter Anklage geſtellt, indeß in erſter Inſtanz freigeſprochen
worden. Der Staatsanwalt legte hiegegen Appellation ein, und der Criminal-
Senat des Kammergerichts hat in ſeiner vorgeſtrigen Sitzung den Angeklagten
wegen des einen Artikels, der die Beleidigung eines Officiers involvirte, zu einer
Geldſtrafe von 25 Thlrn. oder 10 Tagen Gefängniß verurtheilt. — Zum Nach-
folger des verſtorbenen Unterſtaatsſecretärs Lehnert im Cultusminiſterium ſoll der
Geh. Oberjuſtizrath v. Schelling deſignirt ſein. — Die „Kreuzztg.“ ſchreibt: Die
Notiz verſchiedener Blätter daß der berühmte Orientaliſt Max Müller einen Ruf
nach Straßburg annehmen will, erweist ſich als irrthümlich. — Der von dem
alten und befeſtigten Grundbeſitz präſentirte Landrath a. D. Graf v. Schulenburg-
Angern iſt zum Mitgliede des Herrenhauſes berufen worden.


In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauſes
brachte der Finanzminiſter, dem Beſchluſſe des Hauſes entſprechend, das Pen-
ſionsgeſetz
für die unmittelbaren Staatsbeamten ein. Die Kreisordnung wird
an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern verwieſen. Die Vorlage betreffend die Er-
richtung eines Geſammtconſiſtoriums für die evangeliſchen Kirchen im Regierungs-
bezirk Kaſſel wird einer Commiſſian von 14 Mitgliedern überwieſen. Einen ſehr leb-
haſten Charakter nimmt die Discuſſion über die geſchäftliche Behandlung der Vorlage
betreffend die Aufbringung der Synodalkoſten in den evangeliſchen Kirchengemein-
ſchaften der Monarchie an. Die liberalen Parteien empfehlen die Form der Schluß-,
reſp. der Vorberathung, um, wie Techow bemerkt, zu conſtatiren ob das Haus zu dem
gegenwärtigen Cultusminiſter Vertrauen hat, oder nicht. Windthorſt iſt zwar zur
Theilnahme an dem Turnier, das gegen dieſen Miniſter vorbereitet werden ſoll, ſeiner-
ſeits mit Freuden bereit, hält aber die in Rede ſtehende Vorlage nicht für die paſſende
Gelegenheit es in Scene zu ſetzen, ſondern meint daß die bevorſtehenden Debatten über
den Etat des Cultusminiſteriums, die ſehr lebhaft zu werden verſprechen, das natür-
liche Feld dafür bieten werden. Hier handle es ſich um Feſtſtellung eines Princips, das
im Intereſſe der Selbſtändigkeit der evangeliſchen Kirche entſchieden werden müſſe,
ganz unabhängig von der jeweiligen Perſon des Cultusminiſters, und das daher der
eingehenden Prüfung durch eine Commiſſion, am beſten durch die ſo eben beſchloſſene,
aber angemeſſen zu verſtärkende, bedürftig ſei. In ähnlichem Sinn äußern ſich
Stroſſer u. a. Conſervative, die jedoch mit ihrer Abſicht nicht durchdringen, ſondern
die Liberalen ſiegen, zwar nicht mit ihrem Antrag auf Schlußberathung, der, wie die
Zählung ergibt, mit 160 gegen 128 Stimmen abgelehnt wird, aber mit dem Antrag
auf Vorberathung im Plenum, der mit 157 gegen 133 Stimmen angenommen wird.
— Darauf wird die Discuſſion über den Etat des Miniſteriums des Innern
fortgeſetzt. — Zu Titel 19 (40,000 Thlr. zu geheimen Ausgaben im Intereſſe
der Polizei) ſpricht Abg. Reichenſperger (Koblenz): In frühern Jahren .. (Rufe
rechts: lauter!) mein Sprechorgan iſt vielleicht durch vieljährigen, übermäßigen Ge-
brauch ſo abgenutzt, daß es für Sie nicht mehr verſtändlich iſt. (Große Heiterkeit.) In
frühern Jahren, als der Conſtitutionalismus in Frankreich und anderswo noch in Blüthe
ſtand, war die Frage der geheimen Fonds ſtets der Tummelplatz für den Kampf um
die Miniſterportefeuilles. Dieſer parlamentariſche Styl iſt inzwiſchen Zopf geworden,
und ich beſchränke mich auf ein paar kurze Bemerkungen. Die Materie gehört nicht zu
den lieblichſten Blüthen im Staatsgarten, aber ich fürchte ſie iſt zu tief gewurzelt um
ſie mit einemmal ausreißen zu können; man muß ſie vorläufig nur zu lockern ſuchen.
Ich will auch nicht fragen ob dieſer Fonds die officiöſe Preſſe ſpeist; auf dieſe naive
Frage würde man mir antworten: die Verwendung der Fonds ſei eben eine geheime.
Aber ich ſtütze mich auf die allgemeine Meinung daß dieſe Preßorgan-Gattung aus dieſem
Fonds ihre Nahrung zieht. Da möchte ich den Miniſter des Innern doch darauf auf-
merkſam machen daß ihn ſeine officiöſen Preßagenten ſehr ſchlecht bedienen, namentlich
auch auf einem Gebiet auf dem ich beſonders orientirt bin. Die officiöſe Preſſe ſpielt
gegenüber Millionen Bürgern des Staats eine Rolle die ſich mit der Würde der Re-
gierung und auch mit der Würde einer anſtändigen Preſſe nicht verträgt. Die ihrer
Kirche ergebenen Katholiken in Preußen werden von ihr in einer Weiſe behandelt die
ich, wenn ſie nicht allzu abgeſchmackt wäre, hier nicht charakteriſiren möchte, denn ich
liebe die ſehr ſtarken Ausdrücke nicht. Sie ſpricht nicht nur von ultramontanen, kleri-
kalen oder, wenn ſie einen Klimax braucht, von jeſuitiſchen Katholiken, ſondern ſie er-
hebt gegen dieſelben auch Beſchuldigungen welche die ärgſten Beleidigungen enthalten.
Täglich oder doch wenigſtens wöchentlich einmal nennt ſie ſie: vaterlandslos, landes-
verrätheriſch; es ſehlt nicht viel, ſo werden die Katholiken beſchuldigt das Petroleum
für den Brand von Paris geliefert zu haben (Heiterkeit); jedenfalls ſind ſie ſchon oft der
Anſtiftung des letzten Krieges beſchuldigt worden. Man ſollte doch das betreffende Perſonal
reformiren; ich glaube gern daß es unmöglich iſt für dieſe Dienſtleiſtungen beſondere
Muſter von Loyalität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen, aber man ſollte wenigſtens
Leute nehmen die ſich in gewiſſen Gränzen des Anſtandes und der Schicklichkeit zu
halten verſtehen. Der Parteikampf iſt nicht zu vermeiden und ſogar nothwendig. Denn
Kampf iſt Leben, aber er ſoll in ſachlichen Gränzen geführt werden. Ich hoffe daß meine
wohlgemeinten Worte nicht auf öden und unfruchtbaren Boden fallen werden. Abg.
Duncker: Wie gefährlich geheime Fonds ſind, deren Verwendung nicht zur Cognition
der Oberrechnungskammer gelangt, läßt ſich freilich auf den erſten Blick ſchwer erkennen,
weil ihre Verwendung nicht bekannt wird; aber ſie enthalten die Keime einer Corrup-
tion die früher oder ſpäter doch zum Ausbruch kommt. Nicht bloß Agenten und Spione
zur Verfolgung augenblicklicher Zwecke, ſondern auch feſtangeſtellte Beamte participiren
an dieſen Fonds. Wenn ein Beamter Luſt hat Paris oder London zu ſehen, ſo be-
hauptet er: daß dort die beſondere Ueberwachung eines Zweiges der europäiſchen Ver-
ſchwörung nothwendig ſei, und empfängt dazu Diäten aus den geheimen Fonds, die
ihm ein reichliches Reiſegeld zum angenehmen Aufenthalt in einer großen Stadt liefern.
Empfängt ein Beamter detgleichen Nemunerationen, für die er nicht mit ſeinem Namen
einzutreten hat, ſo wird dadurch leicht ſein Ehrgefühl in einer Weiſe erſchüttert, daß er
auch ſonſt in Geldſachen nicht diſſicil iſt. Selbſtverſtändlich ſind nur wenige Namen in
dieſer Beziehung bekannt; einen will ich doch nennen, den Polizei-Agenten Hentze, der
zugeſtändlich aus dieſem Fonds beſoldet, zahlreiche hervorragende Mitglieder der libe-
ralen und der demokratiſchen Partei durch falſches Zeugniß ins Zuchthaus gebracht hat,
der fortdauernd von der conſervativen Partei begünſtigt wurde, und deſſen Leben eine
fortgeſetzte Kette von Meineiden und Betrügereien war, bis er in einer tragiſchen Kata-
ſtrophe ſein Ende fand. Miniſter des Innern: Jedesmal bei der Berathung dieſes
Titels iſt über die Natur des geheimen Fonds von den Herren, die ſie nicht bewilligen
wollen, geſprochen worden. Reues iſt heute nicht vorgebracht, und auch ich kann
nichts neues anführen; übrigens wird jeder von Ihnen auch ohne Debatte ſchon ent-
ſchloſſen ſein wie er ſtimmen will. Nur dem Abg. Reichenſperger möchte ich erwiedern
daß unter der officiöſen Preſſe — das kann nicht beſtimmt genug bervorgehoben werden
— nur die „Provincial-Correſpondenz“ verſtanden werden kann; für dieſe abernehmen
[Spaltenumbruch] wir die Veraniwortung, nicht in dem Sinne daß jedes Wort was dort geſchrieben iſt
von uns gedeckt wird, denn es liegt in der Natur der Sache daß der Miniſter ſich nicht
mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln abgeben kann, aber der Sinn der „Prov.-
Correſp.,“ der Ton ihrer Artikel im allgemeinen unterliegt der Controle der Regierung
und wird von ihr beobachtet; alle übrigen Zeitungen mit denen die Regierung in Ver-
bindung ſteht, inſofern als dieſe Zeitungen den Anſichten der Regierung ihre Spalten
öffnen, können als officiöſe Blätter nicht betrachtet werden, und wir müſſen jede Ver-
antwortlichkeit für ihre Artikel ablehnen. Das kann ich aber dem Abg. Reichenſperger
ganz beſtimmt verſichern: daß ſeitens der Regierung eine Inſpiration zu perſönlichen Be-
leidigungen, oder zu einer Kampfesweiſe die über die Gränzen des ſachlichen Streits hin-
ausgeht, niemals ertheilt wird, und daß, wenn dieſelbe irgendwo zumal in eclatanter
Weiſe hervortritt, eine Reprobation ſeitens der Regierung erfolgt. Der Tit. 19 wird darauf
mit allen Stimmen gegen die Fortſchrittspartei und die Polen bewilligt. (Senſation.)
Zu den Capiteln 31 und 60 der Einnahme und Ausgabe, Tit. 3 und 26—29, liegt ein
Antrag des Abg. Eberty vor: die Staatsregierung aufzufordern eine einheitliche
Gefängnißverwaltung
mit einer möglichſt ſelbſtändigen Generaldirection herbei-
zuführen. Abg. Eberty führt aus: Die Summen welche bei uns für die Koſten der
Straf-, Beſſerungs- und Gefängnißverwaltung ausgeworfen ſind, werden nicht nach
einem fe ſten, einheitlichen Plane verwendet. Die officielle Denkſchrift „Preußiſche
Gefängniſſe“ gibt zu daß in der preußiſchen Gefängnißverwaltung ein einheitliches
Haftſyſtem nicht zur Durchführung kommt, daß das Gefängnißweſen nicht in dem Maß
habe gewinnen können als dieß bei planvoller Anlegung gleicher Mittel geſchehen ſein
würde. Die beträchtlichen Summen hatten nur eine vorübergehende Abhülfe geſchaffen,
man hatte eine Abänderung des Strafgeſetzbuches nicht in Anſchlag gebracht, ſondern
ohne Rückſicht hierauf gebaut. In Folge der Abänderung des Strafgeſetzbuches hat ſich
der Durchſchnittsbeſtand der Zuchthäuſer um etwa 6500 Köpfe vermindert; von 3247
eingerichteten Iſolirzellen ſind 966 unbeſetzt, und man will vier Strafanſtalten eingehen
laſſen. Ein ſolcher Mangel an Vorausſicht ſei unmöglich, wäre die Gefängnißverwal-
tung centraliſirt. Gegenwärtig kennt der Miniſter des Innern nicht die Plane des
Juſtizminiſters, und dieſer wiederum befindet ſich in gleicher Unkunde über die den
Miniſter des Innern treibenden Ideen. In keinem Lande ſonſt findet man ſolche Zer-
ſplitterung der Gefängnißverwaltung; in Oeſterreich, Holland, Dänemark u. ſ. w. leitet
ſie der Juſtizminiſter mit dem beſten Erfolge; in Italien und Frankreich der Miniſter
des Innern weniger erfolgreich. Unter dieſer Zerſplitterung leiden nicht nur die
Finanzen des Staats, ſondern es wird auch an Körper und Seele der Verbrecher, ſtatt
ſie zu erziehen, wo möglich zu beſſern, herumexperimentirt; ſehr wenige Gefangene
werden gebeſſert. Die Statiſtik für 1869 ergab einen Zugang von 7128 Verbrechern;
unter den Männern waren 71 Procent, unter den Weibern 64 Procent rückfällig. Der
Juſtizminiſter trägt die Verantwortlichkeit für die Strafvollſtreckung, und deßhalb gebührt
ihm der beſtimmende Einfluß im Gefängnißweſen. Hätte er ihn, ſo wäre man längſt
von einer allzu großen Bauluſt auf dieſem Gebiete zurückgekommen. Sind denn geiſt-
reich erſonnene Bauwerke geeignet die Geſellſchaft vor dem Fortwuchern des Verbrechens
zu ſichern? Der in London am 2 Juli d. J. zuſammentretende Gefängnißcongreß wird
hoffentlich dieſe Vorurtheile, die ſchwer auf der Geſellſchaft und dem Staatsweſen laſten,
zerſtreuen. Von Amerika gieng einſt eine Verbeſſerung des Gefängnißweſens aus;
wiederum geht von dort der Anſtoß dazu aus. Dr. Wines iſt im Auftrage des Präſi-
denten der Vereinigten Staaten in Europa angelangt; er iſt zugleich Repräſentant der
amerikaniſchen Gefängnißaſſociation, deren Vicepräſident der Sprecher des Congreſſes,
Hr. Blaines, iſt. Er hat die Regierungen der Schweiz und der Niederlande, Oeſterreichs,
Hollands und auch des Deutſchen Reichs zur Beſchickung dieſes Congreſſes veranlaßt.
Es wird darauf ankommen außer Vertretern des Miniſters des Innern auch ſolche des
Juſtizminiſters, namentlich Männer der Wiſſenſchaft, zu entſenden. Dieſelben werden
hoffentlich auch die iriſchen Gefängnißanſtalten in Augenſchein nehmen; dort iſt die
Centraliſation des Gefängnißweſens durchgeführt. Es ſteht unter dem Lordlieutenant,
dem Stellvertreter der Königin in Irland; dieſe ernennt die drei Gefängnißdirectoren,
welche Aufſicht, Execution und Diſciplinarſtrafgewalt ausüben. Der weſentliche Unter-
ſchied des Syſtems beſteht in den Zwiſchenanſtalten (intermediate prisons); die Ueber-
tragung dieſer Anſtalten nach Deutſchland wird nach Einführung der vorläufigen Ent-
laſſung des Verurtheilten gemäß §. 23 des Strafgeſetzbuches Gegenſtand der ernſteſten
Erwägung. Denn durch dieſe Zwiſchenanſtalten werden die Verbrecher, deren Strafen
durch den Freiſchein abgekürzt werden, erſt zum Eintritt in die Freiheit vorbereitet, und
durch ſie wird für ihre Unterbringung geſorgt. Hauptſächlich werden dort die Sträf-
linge zum Ackerbau angeleitet. In beweglichen eiſernen Baracken für je 50 Gefangene,
jede 330 Pf. St. koſtend, werden ſie nach den Gegenden hingeſchafft wo man ihrer
Kraft zum Drainiren u. ſ. w. bedarf. Die Regierung hat ſelbſt Ländereien zu dieſem
Zweck hergegeben. Schon 1858 haben 100 Gefangene in 2 ſolchen Baracken in
6 Monaten ſo viel erarbeitet, daß nicht bloß ihre Verpflegung, Beaufſichtigung, Zinſen
des Anlagecapitals gedeckt waren, ſondern 236 Pf. St. übrig blieben. Die nicht zum
Ackerbau tauglichen Arbeiter werden in einem andern Zweige der Zwiſchenanſtalten nicht
etwa fabricationsmäßig beſchäftigt; man gibt ihre Kräfte nicht den Capitaliſten zur
Ausbeutung der Geſellſchaft hin, vielmehr arbeiten ſie für die Bedürfniſſe der Anſtalt
in einem erlernten oder zu erlernenden Handwerk. Die Reſultate dieſes irländiſchen
Syſtems ſind glänzend; die Nachfrage nach Arbeitern aus den Zwiſchenanſtalten ſteigt
fortwährend, und die Rückfälligkeit vermindert ſich. In England, wo dieſe Anſtalten
nicht beſtehen, werden 20 Proc. der vorläufig Entlaſſenen rückfällig, in Irland nur 4 Proc.
Die große Culturaufgabe die hier vorliegt, kann nur durch die Wiſſenſchaft im Bunde
mit der Menſchenliebe gelöst werden; die Kräfte der Praktiker allein reichen nicht aus.
Ein Mann der Wiſſenſchaft muß unter Verantwortlichkeit des Juſtizminiſters an die
Spitze des Gefängnißweſens geſtellt werden. Das gebietet nicht nur die Pflicht der
zweckmäßigen Verwendung der Staatsgelder, ſondern auch die Pflicht gegen die Ver-
brecher. Die Selbſtſucht nicht weniger als die Menſchenliebe treibt uns zur Löſung des
ſchwierigen Problemens, die aber unmöglich iſt ſolange der Forderung meines Antrags
nicht genügt iſt. (Beifall.) Regierungscommiſſär Steinmann vertheidigt die Ver-
waltung des Gefängnißweſens gegen die von Eberty erhobenen Vorwürfe. Dem An-
trage des Vorredners trete die Regierung in keiner Weiſe entgegen, ſehe vielmehr in der
Durchführung desſelben den Ausgangspunkt einer Reihe nützlicher und nothwendiger
Reformen auf dem Gebiete des Gefängnißweſens; trotzdem dürfe man mit Rückſicht auf
die erheblichen Schwierigkeiten nicht auf eine ſofortige praktiſche Durchführung des An-
trags rechnen. Abg. Duncker klagt über die bedeutenden Unterhaltungskoſten der Ge-
fangenen, für welche der Staat pro Kopf täglich 9 Silbergroſchen zuſchießen müſſe. Der
Grund liege darin daß die Regierung die Arbeitsfähigkeit derſelben nicht in der richtigen
Weiſe ausnütze. Statt durch öffentliches Ausgebot der Arbeitskräfte einen hohen Preis
für dieſelben zu erzielen, verdinge man ſie zu niedrigen Sätzen und ſchädige dadurch zu-
gleich die freien Arbeiter, welche dieſe auf Koſten aller Steuerza hler unterſtützte Concur-
renz nicht ertragen könnten. Der Antrag des Abg. Eberty wird mit großer Mehrheit
angenommen. — Zu Tit. 31 (Fonds der Provincialregierungen und Landdroſteien zu
Almoſen und Unterſtützungen) beantragt Abg. Rickert: dieſe Poſition vom J. 1873 an
in Wegfafl zu bringen. Er weist darauf hin daß die neue deutſche Armengeſetzgebung,

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den Kranken noch an das Bett, läßt aber eine Zertheilung und Heilung in nicht<lb/>
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Redacteur der &#x201E;Volksztg.,&#x201C; Hr. Steinitz, war wegen zweier Artikel der &#x201E;Volksztg.&#x201C;<lb/>
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[195/0003] 30 Jahren überſtandenen ſchweren und gefährlichen Unterleibsentzündung, feſſelt den Kranken noch an das Bett, läßt aber eine Zertheilung und Heilung in nicht zu ferner Zeit erwarten, wogegen die nervöſe Abſpannung vorausſichtlich noch eine längere Zeit der Ruhe und Erholung erfordern wird.“ — Der Redacteur der „Volksztg.,“ Hr. Steinitz, war wegen zweier Artikel der „Volksztg.“ wegen Preßvergehen unter Anklage geſtellt, indeß in erſter Inſtanz freigeſprochen worden. Der Staatsanwalt legte hiegegen Appellation ein, und der Criminal- Senat des Kammergerichts hat in ſeiner vorgeſtrigen Sitzung den Angeklagten wegen des einen Artikels, der die Beleidigung eines Officiers involvirte, zu einer Geldſtrafe von 25 Thlrn. oder 10 Tagen Gefängniß verurtheilt. — Zum Nach- folger des verſtorbenen Unterſtaatsſecretärs Lehnert im Cultusminiſterium ſoll der Geh. Oberjuſtizrath v. Schelling deſignirt ſein. — Die „Kreuzztg.“ ſchreibt: Die Notiz verſchiedener Blätter daß der berühmte Orientaliſt Max Müller einen Ruf nach Straßburg annehmen will, erweist ſich als irrthümlich. — Der von dem alten und befeſtigten Grundbeſitz präſentirte Landrath a. D. Graf v. Schulenburg- Angern iſt zum Mitgliede des Herrenhauſes berufen worden. # Berlin, 11 Jan. In der heutigen Sitzung des Abgeordnetenhauſes brachte der Finanzminiſter, dem Beſchluſſe des Hauſes entſprechend, das Pen- ſionsgeſetz für die unmittelbaren Staatsbeamten ein. Die Kreisordnung wird an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern verwieſen. Die Vorlage betreffend die Er- richtung eines Geſammtconſiſtoriums für die evangeliſchen Kirchen im Regierungs- bezirk Kaſſel wird einer Commiſſian von 14 Mitgliedern überwieſen. Einen ſehr leb- haſten Charakter nimmt die Discuſſion über die geſchäftliche Behandlung der Vorlage betreffend die Aufbringung der Synodalkoſten in den evangeliſchen Kirchengemein- ſchaften der Monarchie an. Die liberalen Parteien empfehlen die Form der Schluß-, reſp. der Vorberathung, um, wie Techow bemerkt, zu conſtatiren ob das Haus zu dem gegenwärtigen Cultusminiſter Vertrauen hat, oder nicht. Windthorſt iſt zwar zur Theilnahme an dem Turnier, das gegen dieſen Miniſter vorbereitet werden ſoll, ſeiner- ſeits mit Freuden bereit, hält aber die in Rede ſtehende Vorlage nicht für die paſſende Gelegenheit es in Scene zu ſetzen, ſondern meint daß die bevorſtehenden Debatten über den Etat des Cultusminiſteriums, die ſehr lebhaft zu werden verſprechen, das natür- liche Feld dafür bieten werden. Hier handle es ſich um Feſtſtellung eines Princips, das im Intereſſe der Selbſtändigkeit der evangeliſchen Kirche entſchieden werden müſſe, ganz unabhängig von der jeweiligen Perſon des Cultusminiſters, und das daher der eingehenden Prüfung durch eine Commiſſion, am beſten durch die ſo eben beſchloſſene, aber angemeſſen zu verſtärkende, bedürftig ſei. In ähnlichem Sinn äußern ſich Stroſſer u. a. Conſervative, die jedoch mit ihrer Abſicht nicht durchdringen, ſondern die Liberalen ſiegen, zwar nicht mit ihrem Antrag auf Schlußberathung, der, wie die Zählung ergibt, mit 160 gegen 128 Stimmen abgelehnt wird, aber mit dem Antrag auf Vorberathung im Plenum, der mit 157 gegen 133 Stimmen angenommen wird. — Darauf wird die Discuſſion über den Etat des Miniſteriums des Innern fortgeſetzt. — Zu Titel 19 (40,000 Thlr. zu geheimen Ausgaben im Intereſſe der Polizei) ſpricht Abg. Reichenſperger (Koblenz): In frühern Jahren .. (Rufe rechts: lauter!) mein Sprechorgan iſt vielleicht durch vieljährigen, übermäßigen Ge- brauch ſo abgenutzt, daß es für Sie nicht mehr verſtändlich iſt. (Große Heiterkeit.) In frühern Jahren, als der Conſtitutionalismus in Frankreich und anderswo noch in Blüthe ſtand, war die Frage der geheimen Fonds ſtets der Tummelplatz für den Kampf um die Miniſterportefeuilles. Dieſer parlamentariſche Styl iſt inzwiſchen Zopf geworden, und ich beſchränke mich auf ein paar kurze Bemerkungen. Die Materie gehört nicht zu den lieblichſten Blüthen im Staatsgarten, aber ich fürchte ſie iſt zu tief gewurzelt um ſie mit einemmal ausreißen zu können; man muß ſie vorläufig nur zu lockern ſuchen. Ich will auch nicht fragen ob dieſer Fonds die officiöſe Preſſe ſpeist; auf dieſe naive Frage würde man mir antworten: die Verwendung der Fonds ſei eben eine geheime. Aber ich ſtütze mich auf die allgemeine Meinung daß dieſe Preßorgan-Gattung aus dieſem Fonds ihre Nahrung zieht. Da möchte ich den Miniſter des Innern doch darauf auf- merkſam machen daß ihn ſeine officiöſen Preßagenten ſehr ſchlecht bedienen, namentlich auch auf einem Gebiet auf dem ich beſonders orientirt bin. Die officiöſe Preſſe ſpielt gegenüber Millionen Bürgern des Staats eine Rolle die ſich mit der Würde der Re- gierung und auch mit der Würde einer anſtändigen Preſſe nicht verträgt. Die ihrer Kirche ergebenen Katholiken in Preußen werden von ihr in einer Weiſe behandelt die ich, wenn ſie nicht allzu abgeſchmackt wäre, hier nicht charakteriſiren möchte, denn ich liebe die ſehr ſtarken Ausdrücke nicht. Sie ſpricht nicht nur von ultramontanen, kleri- kalen oder, wenn ſie einen Klimax braucht, von jeſuitiſchen Katholiken, ſondern ſie er- hebt gegen dieſelben auch Beſchuldigungen welche die ärgſten Beleidigungen enthalten. Täglich oder doch wenigſtens wöchentlich einmal nennt ſie ſie: vaterlandslos, landes- verrätheriſch; es ſehlt nicht viel, ſo werden die Katholiken beſchuldigt das Petroleum für den Brand von Paris geliefert zu haben (Heiterkeit); jedenfalls ſind ſie ſchon oft der Anſtiftung des letzten Krieges beſchuldigt worden. Man ſollte doch das betreffende Perſonal reformiren; ich glaube gern daß es unmöglich iſt für dieſe Dienſtleiſtungen beſondere Muſter von Loyalität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen, aber man ſollte wenigſtens Leute nehmen die ſich in gewiſſen Gränzen des Anſtandes und der Schicklichkeit zu halten verſtehen. Der Parteikampf iſt nicht zu vermeiden und ſogar nothwendig. Denn Kampf iſt Leben, aber er ſoll in ſachlichen Gränzen geführt werden. Ich hoffe daß meine wohlgemeinten Worte nicht auf öden und unfruchtbaren Boden fallen werden. Abg. Duncker: Wie gefährlich geheime Fonds ſind, deren Verwendung nicht zur Cognition der Oberrechnungskammer gelangt, läßt ſich freilich auf den erſten Blick ſchwer erkennen, weil ihre Verwendung nicht bekannt wird; aber ſie enthalten die Keime einer Corrup- tion die früher oder ſpäter doch zum Ausbruch kommt. Nicht bloß Agenten und Spione zur Verfolgung augenblicklicher Zwecke, ſondern auch feſtangeſtellte Beamte participiren an dieſen Fonds. Wenn ein Beamter Luſt hat Paris oder London zu ſehen, ſo be- hauptet er: daß dort die beſondere Ueberwachung eines Zweiges der europäiſchen Ver- ſchwörung nothwendig ſei, und empfängt dazu Diäten aus den geheimen Fonds, die ihm ein reichliches Reiſegeld zum angenehmen Aufenthalt in einer großen Stadt liefern. Empfängt ein Beamter detgleichen Nemunerationen, für die er nicht mit ſeinem Namen einzutreten hat, ſo wird dadurch leicht ſein Ehrgefühl in einer Weiſe erſchüttert, daß er auch ſonſt in Geldſachen nicht diſſicil iſt. Selbſtverſtändlich ſind nur wenige Namen in dieſer Beziehung bekannt; einen will ich doch nennen, den Polizei-Agenten Hentze, der zugeſtändlich aus dieſem Fonds beſoldet, zahlreiche hervorragende Mitglieder der libe- ralen und der demokratiſchen Partei durch falſches Zeugniß ins Zuchthaus gebracht hat, der fortdauernd von der conſervativen Partei begünſtigt wurde, und deſſen Leben eine fortgeſetzte Kette von Meineiden und Betrügereien war, bis er in einer tragiſchen Kata- ſtrophe ſein Ende fand. Miniſter des Innern: Jedesmal bei der Berathung dieſes Titels iſt über die Natur des geheimen Fonds von den Herren, die ſie nicht bewilligen wollen, geſprochen worden. Reues iſt heute nicht vorgebracht, und auch ich kann nichts neues anführen; übrigens wird jeder von Ihnen auch ohne Debatte ſchon ent- ſchloſſen ſein wie er ſtimmen will. Nur dem Abg. Reichenſperger möchte ich erwiedern daß unter der officiöſen Preſſe — das kann nicht beſtimmt genug bervorgehoben werden — nur die „Provincial-Correſpondenz“ verſtanden werden kann; für dieſe abernehmen wir die Veraniwortung, nicht in dem Sinne daß jedes Wort was dort geſchrieben iſt von uns gedeckt wird, denn es liegt in der Natur der Sache daß der Miniſter ſich nicht mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln abgeben kann, aber der Sinn der „Prov.- Correſp.,“ der Ton ihrer Artikel im allgemeinen unterliegt der Controle der Regierung und wird von ihr beobachtet; alle übrigen Zeitungen mit denen die Regierung in Ver- bindung ſteht, inſofern als dieſe Zeitungen den Anſichten der Regierung ihre Spalten öffnen, können als officiöſe Blätter nicht betrachtet werden, und wir müſſen jede Ver- antwortlichkeit für ihre Artikel ablehnen. Das kann ich aber dem Abg. Reichenſperger ganz beſtimmt verſichern: daß ſeitens der Regierung eine Inſpiration zu perſönlichen Be- leidigungen, oder zu einer Kampfesweiſe die über die Gränzen des ſachlichen Streits hin- ausgeht, niemals ertheilt wird, und daß, wenn dieſelbe irgendwo zumal in eclatanter Weiſe hervortritt, eine Reprobation ſeitens der Regierung erfolgt. Der Tit. 19 wird darauf mit allen Stimmen gegen die Fortſchrittspartei und die Polen bewilligt. (Senſation.) Zu den Capiteln 31 und 60 der Einnahme und Ausgabe, Tit. 3 und 26—29, liegt ein Antrag des Abg. Eberty vor: die Staatsregierung aufzufordern eine einheitliche Gefängnißverwaltung mit einer möglichſt ſelbſtändigen Generaldirection herbei- zuführen. Abg. Eberty führt aus: Die Summen welche bei uns für die Koſten der Straf-, Beſſerungs- und Gefängnißverwaltung ausgeworfen ſind, werden nicht nach einem fe ſten, einheitlichen Plane verwendet. Die officielle Denkſchrift „Preußiſche Gefängniſſe“ gibt zu daß in der preußiſchen Gefängnißverwaltung ein einheitliches Haftſyſtem nicht zur Durchführung kommt, daß das Gefängnißweſen nicht in dem Maß habe gewinnen können als dieß bei planvoller Anlegung gleicher Mittel geſchehen ſein würde. Die beträchtlichen Summen hatten nur eine vorübergehende Abhülfe geſchaffen, man hatte eine Abänderung des Strafgeſetzbuches nicht in Anſchlag gebracht, ſondern ohne Rückſicht hierauf gebaut. In Folge der Abänderung des Strafgeſetzbuches hat ſich der Durchſchnittsbeſtand der Zuchthäuſer um etwa 6500 Köpfe vermindert; von 3247 eingerichteten Iſolirzellen ſind 966 unbeſetzt, und man will vier Strafanſtalten eingehen laſſen. Ein ſolcher Mangel an Vorausſicht ſei unmöglich, wäre die Gefängnißverwal- tung centraliſirt. Gegenwärtig kennt der Miniſter des Innern nicht die Plane des Juſtizminiſters, und dieſer wiederum befindet ſich in gleicher Unkunde über die den Miniſter des Innern treibenden Ideen. In keinem Lande ſonſt findet man ſolche Zer- ſplitterung der Gefängnißverwaltung; in Oeſterreich, Holland, Dänemark u. ſ. w. leitet ſie der Juſtizminiſter mit dem beſten Erfolge; in Italien und Frankreich der Miniſter des Innern weniger erfolgreich. Unter dieſer Zerſplitterung leiden nicht nur die Finanzen des Staats, ſondern es wird auch an Körper und Seele der Verbrecher, ſtatt ſie zu erziehen, wo möglich zu beſſern, herumexperimentirt; ſehr wenige Gefangene werden gebeſſert. Die Statiſtik für 1869 ergab einen Zugang von 7128 Verbrechern; unter den Männern waren 71 Procent, unter den Weibern 64 Procent rückfällig. Der Juſtizminiſter trägt die Verantwortlichkeit für die Strafvollſtreckung, und deßhalb gebührt ihm der beſtimmende Einfluß im Gefängnißweſen. Hätte er ihn, ſo wäre man längſt von einer allzu großen Bauluſt auf dieſem Gebiete zurückgekommen. Sind denn geiſt- reich erſonnene Bauwerke geeignet die Geſellſchaft vor dem Fortwuchern des Verbrechens zu ſichern? Der in London am 2 Juli d. J. zuſammentretende Gefängnißcongreß wird hoffentlich dieſe Vorurtheile, die ſchwer auf der Geſellſchaft und dem Staatsweſen laſten, zerſtreuen. Von Amerika gieng einſt eine Verbeſſerung des Gefängnißweſens aus; wiederum geht von dort der Anſtoß dazu aus. Dr. Wines iſt im Auftrage des Präſi- denten der Vereinigten Staaten in Europa angelangt; er iſt zugleich Repräſentant der amerikaniſchen Gefängnißaſſociation, deren Vicepräſident der Sprecher des Congreſſes, Hr. Blaines, iſt. Er hat die Regierungen der Schweiz und der Niederlande, Oeſterreichs, Hollands und auch des Deutſchen Reichs zur Beſchickung dieſes Congreſſes veranlaßt. Es wird darauf ankommen außer Vertretern des Miniſters des Innern auch ſolche des Juſtizminiſters, namentlich Männer der Wiſſenſchaft, zu entſenden. Dieſelben werden hoffentlich auch die iriſchen Gefängnißanſtalten in Augenſchein nehmen; dort iſt die Centraliſation des Gefängnißweſens durchgeführt. Es ſteht unter dem Lordlieutenant, dem Stellvertreter der Königin in Irland; dieſe ernennt die drei Gefängnißdirectoren, welche Aufſicht, Execution und Diſciplinarſtrafgewalt ausüben. Der weſentliche Unter- ſchied des Syſtems beſteht in den Zwiſchenanſtalten (intermediate prisons); die Ueber- tragung dieſer Anſtalten nach Deutſchland wird nach Einführung der vorläufigen Ent- laſſung des Verurtheilten gemäß §. 23 des Strafgeſetzbuches Gegenſtand der ernſteſten Erwägung. Denn durch dieſe Zwiſchenanſtalten werden die Verbrecher, deren Strafen durch den Freiſchein abgekürzt werden, erſt zum Eintritt in die Freiheit vorbereitet, und durch ſie wird für ihre Unterbringung geſorgt. Hauptſächlich werden dort die Sträf- linge zum Ackerbau angeleitet. In beweglichen eiſernen Baracken für je 50 Gefangene, jede 330 Pf. St. koſtend, werden ſie nach den Gegenden hingeſchafft wo man ihrer Kraft zum Drainiren u. ſ. w. bedarf. Die Regierung hat ſelbſt Ländereien zu dieſem Zweck hergegeben. Schon 1858 haben 100 Gefangene in 2 ſolchen Baracken in 6 Monaten ſo viel erarbeitet, daß nicht bloß ihre Verpflegung, Beaufſichtigung, Zinſen des Anlagecapitals gedeckt waren, ſondern 236 Pf. St. übrig blieben. Die nicht zum Ackerbau tauglichen Arbeiter werden in einem andern Zweige der Zwiſchenanſtalten nicht etwa fabricationsmäßig beſchäftigt; man gibt ihre Kräfte nicht den Capitaliſten zur Ausbeutung der Geſellſchaft hin, vielmehr arbeiten ſie für die Bedürfniſſe der Anſtalt in einem erlernten oder zu erlernenden Handwerk. Die Reſultate dieſes irländiſchen Syſtems ſind glänzend; die Nachfrage nach Arbeitern aus den Zwiſchenanſtalten ſteigt fortwährend, und die Rückfälligkeit vermindert ſich. In England, wo dieſe Anſtalten nicht beſtehen, werden 20 Proc. der vorläufig Entlaſſenen rückfällig, in Irland nur 4 Proc. Die große Culturaufgabe die hier vorliegt, kann nur durch die Wiſſenſchaft im Bunde mit der Menſchenliebe gelöst werden; die Kräfte der Praktiker allein reichen nicht aus. Ein Mann der Wiſſenſchaft muß unter Verantwortlichkeit des Juſtizminiſters an die Spitze des Gefängnißweſens geſtellt werden. Das gebietet nicht nur die Pflicht der zweckmäßigen Verwendung der Staatsgelder, ſondern auch die Pflicht gegen die Ver- brecher. Die Selbſtſucht nicht weniger als die Menſchenliebe treibt uns zur Löſung des ſchwierigen Problemens, die aber unmöglich iſt ſolange der Forderung meines Antrags nicht genügt iſt. (Beifall.) Regierungscommiſſär Steinmann vertheidigt die Ver- waltung des Gefängnißweſens gegen die von Eberty erhobenen Vorwürfe. Dem An- trage des Vorredners trete die Regierung in keiner Weiſe entgegen, ſehe vielmehr in der Durchführung desſelben den Ausgangspunkt einer Reihe nützlicher und nothwendiger Reformen auf dem Gebiete des Gefängnißweſens; trotzdem dürfe man mit Rückſicht auf die erheblichen Schwierigkeiten nicht auf eine ſofortige praktiſche Durchführung des An- trags rechnen. Abg. Duncker klagt über die bedeutenden Unterhaltungskoſten der Ge- fangenen, für welche der Staat pro Kopf täglich 9 Silbergroſchen zuſchießen müſſe. Der Grund liege darin daß die Regierung die Arbeitsfähigkeit derſelben nicht in der richtigen Weiſe ausnütze. Statt durch öffentliches Ausgebot der Arbeitskräfte einen hohen Preis für dieſelben zu erzielen, verdinge man ſie zu niedrigen Sätzen und ſchädige dadurch zu- gleich die freien Arbeiter, welche dieſe auf Koſten aller Steuerza hler unterſtützte Concur- renz nicht ertragen könnten. Der Antrag des Abg. Eberty wird mit großer Mehrheit angenommen. — Zu Tit. 31 (Fonds der Provincialregierungen und Landdroſteien zu Almoſen und Unterſtützungen) beantragt Abg. Rickert: dieſe Poſition vom J. 1873 an in Wegfafl zu bringen. Er weist darauf hin daß die neue deutſche Armengeſetzgebung,

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 14. Januar 1872, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine14_1872/3>, abgerufen am 23.11.2024.