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Allgemeine Zeitung, Nr. 160, 8. Juni 1860.

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[Spaltenumbruch] als der Sohn eines Krämers geboren. Sein Talent zum Zeichnen ent-
wickelte sich frühzeitig, aber er hatte mit Noth und Schwierigkeiten zu
kämpfen bis er sich seinem Beruf widmen konnte. Im Besitz der kleinen
väterlichen Hinterlassenschaft und von einem reichen Landsmann unterstützt,
welchem er aber vertragsmäßig seine Reiseskizzen überlassen mußte, gieng er
im Jahr 1817 ins Ausland, und bereiste drei Jahre lang zu künstlerischen --
insbesondere architektonischen -- Zwecken Italien, Griechenland, die europäische
Türkei, Aegypten, Syrien und Palästina. Ein Ausflug nach Palmyra
wurde durch räuberische Beduinen vereitelt, deren einer ihn durch einen
Lanzenstich verwundete, welchen sein Haick (arabischer Mantel) noch glücklich
auffieng. Nach England heimgekehrt, verheirathete er sich im Jahr 1823,
hatte aber, ohne einflußreiche Gönner, noch eine Reihe schwerer Lehrjahre
durchzumachen. Endlich gelang es ihm größere Aufträge zu erhalten, und
durch mehrere Bauten von Kirchen, Schulen, Clubhäusern in Manchester,
Brighton, Birmingham, und London selbst, vortheilhaft bekannt zu werden.
Nun fanden sich auch vornehme Gönner ein: der Marquis v. Lansdowne,
der Herzog v. Sutherland, Lady Holland u. s. w. Da brannten die Parla-
mentshäuser ab, und im Jah: 1836 wurde das große Werk, auf welchem sein
Ruhm beruht, seinen Händen anvertraut. Sein eigener Geschmack und die
bisherige Richtung seiner Kunstbestrebungen würden ihn bewogen haben für
den neuen Westminster-Palast den italienischen Baustyl zu wählen; aber er
hatte vorschriftsmäßig nur die Wahl zwischen dem altenglisch-gothischen und
dem sogenannten Tudor-gothischen oder Elisabethischen Baustyl, und ent-
schied sich für den letztern; wobei ihn theils der Wunsch leitete die Parlaments-
häuser mit der gegenüberstehenden Westminster-Abtei in Einklang zu bringen,
und theils die Erwägung daß es ihm für den reicheren Schmuck des alt-
gothischen Styls in England an der nöthigen Anzahl geschickter Modelleurs
und Schnitzer fehlen würde. Hatte er doch auch bei jener einfachern Bauart
oft genug über Mangel an Hülfspersonal zu klagen. Barry gehörte zu den
"eklektischen" Architekten, d. h. er wählte gern aus den verschiedenen Stylen
das was ihm für eine besondere Aufgabe gefiel; aber die gothischen Stylarten
waren ihm bis dahin am fernsten gelegen, und er liebte sie eigentlich nicht.
Zudem war, bemerkt das Athenäum, die Kenntniß der gothischen Bauart vor
fünfundzwanzig Jahren den Engländern selbst so ziemlich abhanden gekommen.
Diese Umstände bittet das Athenäum die Tadler der neuen Parlamentshäuser
zu erwägen, und bemerkt daß Barry selbst, wenn er jetzt erst den Plan zu ent-
werfen hätte, wohl manches anders und besser machen würde. Jedenfalls sey
es im ganzen ein großartiger und imposanter Bau, der seinem Schöpfer zur
Ehre und London zur Zierde gereiche. Ein besonderer Vortheil der gewählten
Bauart ist daß er die Einführung von Wandgemälden gestattete, und wirklich
hat seitdem die Frescomalerei in England einen gewissen Aufschwung ge-
nommen, obgleich ihr das feuchte Klima des Landes sehr ungünstig ist.
Barry war Mitglied der königl. Akademie und der königl. Societät der Wissen-
schaften, Präsident des Instituts brittischer Architekten, und Ehrenmitglied
vieler auswärtigen Akademien. Im Jahr 1852, als die Königin zum ersten-
mal durch den "Victoria-Tower" in den neuen Parlamentspalast einfuhr,
ward er von Ihrer Majestät in den Ritterstand erhoben. Zwei von seinen
fünf hinterlassenen Söhnen sind ebenfalls Architekten.

Das Programm der revolutionären Partei in Italien.

Die herrschende Partei, ihres Sieges auf der
Insel Sicilien nicht bloß, sondern im ganzen Königreich Neapel sich für
gewiß haltend, spricht schon von dem allgemeinen Stimmrecht, zu welchem
man dort wie in Centralitalien greifen würde, um über die politische Ge-
staltung zu entscheiden. Sie kann dieß natürlich mit derselben Gemüthsruhe
thun wie in Florenz und Bologna, denn es sind die nämlichen Elemente
welche die Ueberhand gewinnen, mit dem einzigen Unterschied daß auf Sici-
lien zu dem Gelde das von allen Seiten reichlich dahin geflossen, wie einst
nach Toscana, und zu den Arbeiten des Mazzinismus, deren Direction der
Graf Cavour dem Genuesischen Advocaten temporär aus der Hand genommen,
eine Freibeuter-Expedition gekommen ist, deren Ursprung aus der von ihrem
Chef bei seinem Einzug in Palermo veröffentlichten Proclamation hervorgeht.
Die Argumentirung zu Gunsten des allgemeinen Stimmrechts ist wieder die-
selbe welche man vor drei Monaten vernommen hat. Diplomatische Inter-
vention wäre fruchtlos -- wozu Reiset'sche und Poniatowski'sche Komödien
wiederholen? Militärische Intervention würde einen europäischen Krieg
entzünden -- so bleibt kein anderer Ausweg als die Völker über ihr eigenes
Geschick entscheiden zu lassen. Ein Murat oder Napoleonide in Neapel würde
von England nicht zugestanden werden, daher ist französische Einmischung
nicht möglich. Man sieht für wie uneigennützig die Italiener heutzutage
den Kaiser halten, welchem sie Reiterbildsäulen decretiren, und welche Be-
griffe sie mit "une idee" verbinden.*) Oesterreichische Einmischung, wäre sie
durch die innern Zustände ermöglicht, würde von Frankreich und England
nicht erlaubt werden. Somit ist das Geschick von Süditalien, von Marsala
[Spaltenumbruch] bis Terracina, im Sinne der hiesigen Wortführer bereits entschieden, und es
handelt sich nur noch um den Papst, so ist die italienische Einheit constituirt.
(Venedig, beiläufig gesagt, ist so sichere Beute daß man davon kaum mehr
redet.) Der Florentiner Palazzo vecchio und seine Freunde beweinen noch-
mals, wie sie so oft gethan, die Blindheit des Papstes, der seine "Mission"
ganz verkennt. Sie fahren fort dem Papst wahres Christenthum zu lehren,
welches der Professor Amari aus dem Koran, der Signor d'Ancona aus
dem Talmud schöpft. Wie kann nur Pius IX das Seelenheil so verkennen!
Er sollte versöhnen, und er theilt. (Vor einigen Monaten warfen sie ihm
vor er wolle mit ihnen nicht theilen!) Die Religion sollte die Unterdrückten
trösten, und "ihr erster Diener ist der erste Unterdrücker." Eine Versöhnung
zwischen dem Alten und dem Neuen, heißt es ferner, ist unmöglich: alle La-
moriciere und Corcelles der Welt können das Papsithum nicht mehr vor dem
Sturz in den Abgrund retten, an dessen Rand es steht. Der Idee dieser
Leute nach ist binnen wenigen Monaten alles zu Ende, und auf dem Capitol
wird Victor Emmanuel als Imperator proclamirt. Frankreichs Neid macht
ihnen schon keine Sorge mehr. Die "italienische" Regierung, sagen sie, ist
bereits mit der kaiserlichen in fortschreitender Unterhandlung in Betreff der
förmlichen Anerkennung ihres neuen Besitzes in Mittelitalien -- alles übrige
wird sodann aus demselben Princip und nach demselben Recht sich folgern.
Es ist jedenfalls von Interesse den Ideengang der Partei, welche eingestan-
denermaßen das Programm des Grafen v. Cavour auf ihre Fahne geschrieben,
und dessen Durchführung ihren Mitgliedern und Candidaten zur Pflicht ge-
macht hat, sich klar zu vergegenwärtigen, um so mehr als es demselben nicht
an Consequenz fehlt, und die Erfolge selbst kühne Phantasieflüge zu rechtfer-
tigen scheinen.



Die deutsche Bewegung in Belgien.

Das unbestreitbare Erwachen des deutschen
Volksgefühls wird in schlagender Weise durch die geistige Bewegung bestätigt
welche selbst die deutschen Stämme zu erfassen beginnt, die in einem Deutsch-
land nicht unmittelbar angehörenden Staatsverbande sich befinden. In Bel-
gien haben die Niederdeutschen, wie der "Pangermane" davon ein redend
Zeugniß gibt, die unserem großen Vaterlande wie dem deutschen Volke drohende
Gefahr fast eben so sehr empfunden als wir selbst. Die Napoleonischen Ge-
lüste und das Princip des zweiten Decembers sich stets als Vertreter der unter-
drückten Nationalitäten zu gebärden, haben namentlich auch die Niederdeutschen
in Belgien veranlaßt statistische Untersuchungen über die Stellung der
Wallonen zu den Vlamingen in Belgien anzustellen. Der "Pangermane"
bringt darüber folgende interessante Zusammenstellung:

Statistik der niederdeutschen und wallonischen Staatsbeamten in Belgien.

Während ungefähr drei Fünftel der Bevölkerung Belgiens Niederdeutsche
sind, finden wir:

[Tabelle]


*)
**)

In der Classe der schönen Wissenschaften der k. Akademie gibt es nur
6 Niederdeutsche; aber in der Classe der schönen Künste gibt es 16 Nieder-
deutsche, und nur 7 Wallonen, unter den wirkenden Mitgliedern.

[Spaltenumbruch] Totalsumme.
3715.
[Spaltenumbruch] Leopolds-Orden.
Niederdeutsche.
1217.
[Spaltenumbruch] Wallonen.
2498.

Fremde mit dem Leopolds-Orden beehrt: Franzosen 960; Engländer 36;
Nord-Niederländer und Luxemburger 57; Oesterreicher 122; sonstige Deutsche
142; Preußen 100. Man bemerkt also 960 für Frankreich, und nur 457
für alle anderen Nationen.

Da auf 2,700,000 Flamländer nur 1,800,000 Wallonen kommen, so
können die Wallonen jedenfalls nicht die Haltung und Stellung einer unter-
drückten Nationalität annehmen. Immerhin wäre es aber wünschens-
werth daß der "Pangermane" jetzt weniger in dieser Richtung thätig wäre,
denn daraus könnte eine für Belgien gegenwärtig sicher nicht segensreiche
Spannung zwischen den beiden Elementen hervorgehen. Viel werthvoller
wär' es wenn der "Pangermane" seine Thätigkeit dem Versöhnen zuwendete,
und nächstdem den engeren Anschluß der Vlamingen an Deutschland ver-

*) Der Anschluß von ganz Ligurien bietet Napoleon einen Ersatz.
*) Bezeichnete verstehen kein Niederdeutsch.
**) Fehlen Beamte.

[Spaltenumbruch] als der Sohn eines Krämers geboren. Sein Talent zum Zeichnen ent-
wickelte ſich frühzeitig, aber er hatte mit Noth und Schwierigkeiten zu
kämpfen bis er ſich ſeinem Beruf widmen konnte. Im Beſitz der kleinen
väterlichen Hinterlaſſenſchaft und von einem reichen Landsmann unterſtützt,
welchem er aber vertragsmäßig ſeine Reiſeſkizzen überlaſſen mußte, gieng er
im Jahr 1817 ins Ausland, und bereiste drei Jahre lang zu künſtleriſchen —
insbeſondere architektoniſchen — Zwecken Italien, Griechenland, die europäiſche
Türkei, Aegypten, Syrien und Paläſtina. Ein Ausflug nach Palmyra
wurde durch räuberiſche Beduinen vereitelt, deren einer ihn durch einen
Lanzenſtich verwundete, welchen ſein Haick (arabiſcher Mantel) noch glücklich
auffieng. Nach England heimgekehrt, verheirathete er ſich im Jahr 1823,
hatte aber, ohne einflußreiche Gönner, noch eine Reihe ſchwerer Lehrjahre
durchzumachen. Endlich gelang es ihm größere Aufträge zu erhalten, und
durch mehrere Bauten von Kirchen, Schulen, Clubhäuſern in Mancheſter,
Brighton, Birmingham, und London ſelbſt, vortheilhaft bekannt zu werden.
Nun fanden ſich auch vornehme Gönner ein: der Marquis v. Lansdowne,
der Herzog v. Sutherland, Lady Holland u. ſ. w. Da brannten die Parla-
mentshäuſer ab, und im Jah: 1836 wurde das große Werk, auf welchem ſein
Ruhm beruht, ſeinen Händen anvertraut. Sein eigener Geſchmack und die
bisherige Richtung ſeiner Kunſtbeſtrebungen würden ihn bewogen haben für
den neuen Weſtminſter-Palaſt den italieniſchen Bauſtyl zu wählen; aber er
hatte vorſchriftsmäßig nur die Wahl zwiſchen dem altengliſch-gothiſchen und
dem ſogenannten Tudor-gothiſchen oder Eliſabethiſchen Bauſtyl, und ent-
ſchied ſich für den letztern; wobei ihn theils der Wunſch leitete die Parlaments-
häuſer mit der gegenüberſtehenden Weſtminſter-Abtei in Einklang zu bringen,
und theils die Erwägung daß es ihm für den reicheren Schmuck des alt-
gothiſchen Styls in England an der nöthigen Anzahl geſchickter Modelleurs
und Schnitzer fehlen würde. Hatte er doch auch bei jener einfachern Bauart
oft genug über Mangel an Hülfsperſonal zu klagen. Barry gehörte zu den
„eklektiſchen“ Architekten, d. h. er wählte gern aus den verſchiedenen Stylen
das was ihm für eine beſondere Aufgabe gefiel; aber die gothiſchen Stylarten
waren ihm bis dahin am fernſten gelegen, und er liebte ſie eigentlich nicht.
Zudem war, bemerkt das Athenäum, die Kenntniß der gothiſchen Bauart vor
fünfundzwanzig Jahren den Engländern ſelbſt ſo ziemlich abhanden gekommen.
Dieſe Umſtände bittet das Athenäum die Tadler der neuen Parlamentshäuſer
zu erwägen, und bemerkt daß Barry ſelbſt, wenn er jetzt erſt den Plan zu ent-
werfen hätte, wohl manches anders und beſſer machen würde. Jedenfalls ſey
es im ganzen ein großartiger und impoſanter Bau, der ſeinem Schöpfer zur
Ehre und London zur Zierde gereiche. Ein beſonderer Vortheil der gewählten
Bauart iſt daß er die Einführung von Wandgemälden geſtattete, und wirklich
hat ſeitdem die Frescomalerei in England einen gewiſſen Aufſchwung ge-
nommen, obgleich ihr das feuchte Klima des Landes ſehr ungünſtig iſt.
Barry war Mitglied der königl. Akademie und der königl. Societät der Wiſſen-
ſchaften, Präſident des Inſtituts brittiſcher Architekten, und Ehrenmitglied
vieler auswärtigen Akademien. Im Jahr 1852, als die Königin zum erſten-
mal durch den „Victoria-Tower“ in den neuen Parlamentspalaſt einfuhr,
ward er von Ihrer Majeſtät in den Ritterſtand erhoben. Zwei von ſeinen
fünf hinterlaſſenen Söhnen ſind ebenfalls Architekten.

Das Programm der revolutionären Partei in Italien.

Die herrſchende Partei, ihres Sieges auf der
Inſel Sicilien nicht bloß, ſondern im ganzen Königreich Neapel ſich für
gewiß haltend, ſpricht ſchon von dem allgemeinen Stimmrecht, zu welchem
man dort wie in Centralitalien greifen würde, um über die politiſche Ge-
ſtaltung zu entſcheiden. Sie kann dieß natürlich mit derſelben Gemüthsruhe
thun wie in Florenz und Bologna, denn es ſind die nämlichen Elemente
welche die Ueberhand gewinnen, mit dem einzigen Unterſchied daß auf Sici-
lien zu dem Gelde das von allen Seiten reichlich dahin gefloſſen, wie einſt
nach Toscana, und zu den Arbeiten des Mazzinismus, deren Direction der
Graf Cavour dem Genueſiſchen Advocaten temporär aus der Hand genommen,
eine Freibeuter-Expedition gekommen iſt, deren Urſprung aus der von ihrem
Chef bei ſeinem Einzug in Palermo veröffentlichten Proclamation hervorgeht.
Die Argumentirung zu Gunſten des allgemeinen Stimmrechts iſt wieder die-
ſelbe welche man vor drei Monaten vernommen hat. Diplomatiſche Inter-
vention wäre fruchtlos — wozu Reiſet’ſche und Poniatowski’ſche Komödien
wiederholen? Militäriſche Intervention würde einen europäiſchen Krieg
entzünden — ſo bleibt kein anderer Ausweg als die Völker über ihr eigenes
Geſchick entſcheiden zu laſſen. Ein Murat oder Napoleonide in Neapel würde
von England nicht zugeſtanden werden, daher iſt franzöſiſche Einmiſchung
nicht möglich. Man ſieht für wie uneigennützig die Italiener heutzutage
den Kaiſer halten, welchem ſie Reiterbildſäulen decretiren, und welche Be-
griffe ſie mit „une idée“ verbinden.*) Oeſterreichiſche Einmiſchung, wäre ſie
durch die innern Zuſtände ermöglicht, würde von Frankreich und England
nicht erlaubt werden. Somit iſt das Geſchick von Süditalien, von Marſala
[Spaltenumbruch] bis Terracina, im Sinne der hieſigen Wortführer bereits entſchieden, und es
handelt ſich nur noch um den Papſt, ſo iſt die italieniſche Einheit conſtituirt.
(Venedig, beiläufig geſagt, iſt ſo ſichere Beute daß man davon kaum mehr
redet.) Der Florentiner Palazzo vecchio und ſeine Freunde beweinen noch-
mals, wie ſie ſo oft gethan, die Blindheit des Papſtes, der ſeine „Miſſion“
ganz verkennt. Sie fahren fort dem Papſt wahres Chriſtenthum zu lehren,
welches der Profeſſor Amari aus dem Koran, der Signor d’Ancona aus
dem Talmud ſchöpft. Wie kann nur Pius IX das Seelenheil ſo verkennen!
Er ſollte verſöhnen, und er theilt. (Vor einigen Monaten warfen ſie ihm
vor er wolle mit ihnen nicht theilen!) Die Religion ſollte die Unterdrückten
tröſten, und „ihr erſter Diener iſt der erſte Unterdrücker.“ Eine Verſöhnung
zwiſchen dem Alten und dem Neuen, heißt es ferner, iſt unmöglich: alle La-
moricière und Corcelles der Welt können das Papſithum nicht mehr vor dem
Sturz in den Abgrund retten, an deſſen Rand es ſteht. Der Idee dieſer
Leute nach iſt binnen wenigen Monaten alles zu Ende, und auf dem Capitol
wird Victor Emmanuel als Imperator proclamirt. Frankreichs Neid macht
ihnen ſchon keine Sorge mehr. Die „italieniſche“ Regierung, ſagen ſie, iſt
bereits mit der kaiſerlichen in fortſchreitender Unterhandlung in Betreff der
förmlichen Anerkennung ihres neuen Beſitzes in Mittelitalien — alles übrige
wird ſodann aus demſelben Princip und nach demſelben Recht ſich folgern.
Es iſt jedenfalls von Intereſſe den Ideengang der Partei, welche eingeſtan-
denermaßen das Programm des Grafen v. Cavour auf ihre Fahne geſchrieben,
und deſſen Durchführung ihren Mitgliedern und Candidaten zur Pflicht ge-
macht hat, ſich klar zu vergegenwärtigen, um ſo mehr als es demſelben nicht
an Conſequenz fehlt, und die Erfolge ſelbſt kühne Phantaſieflüge zu rechtfer-
tigen ſcheinen.



Die deutſche Bewegung in Belgien.

Das unbeſtreitbare Erwachen des deutſchen
Volksgefühls wird in ſchlagender Weiſe durch die geiſtige Bewegung beſtätigt
welche ſelbſt die deutſchen Stämme zu erfaſſen beginnt, die in einem Deutſch-
land nicht unmittelbar angehörenden Staatsverbande ſich befinden. In Bel-
gien haben die Niederdeutſchen, wie der „Pangermane“ davon ein redend
Zeugniß gibt, die unſerem großen Vaterlande wie dem deutſchen Volke drohende
Gefahr faſt eben ſo ſehr empfunden als wir ſelbſt. Die Napoleoniſchen Ge-
lüſte und das Princip des zweiten Decembers ſich ſtets als Vertreter der unter-
drückten Nationalitäten zu gebärden, haben namentlich auch die Niederdeutſchen
in Belgien veranlaßt ſtatiſtiſche Unterſuchungen über die Stellung der
Wallonen zu den Vlamingen in Belgien anzuſtellen. Der „Pangermane“
bringt darüber folgende intereſſante Zuſammenſtellung:

Statiſtik der niederdeutſchen und walloniſchen Staatsbeamten in Belgien.

Während ungefähr drei Fünftel der Bevölkerung Belgiens Niederdeutſche
ſind, finden wir:

[Tabelle]


*)
**)

In der Claſſe der ſchönen Wiſſenſchaften der k. Akademie gibt es nur
6 Niederdeutſche; aber in der Claſſe der ſchönen Künſte gibt es 16 Nieder-
deutſche, und nur 7 Wallonen, unter den wirkenden Mitgliedern.

[Spaltenumbruch] Totalſumme.
3715.
[Spaltenumbruch] Leopolds-Orden.
Niederdeutſche.
1217.
[Spaltenumbruch] Wallonen.
2498.

Fremde mit dem Leopolds-Orden beehrt: Franzoſen 960; Engländer 36;
Nord-Niederländer und Luxemburger 57; Oeſterreicher 122; ſonſtige Deutſche
142; Preußen 100. Man bemerkt alſo 960 für Frankreich, und nur 457
für alle anderen Nationen.

Da auf 2,700,000 Flamländer nur 1,800,000 Wallonen kommen, ſo
können die Wallonen jedenfalls nicht die Haltung und Stellung einer unter-
drückten Nationalität annehmen. Immerhin wäre es aber wünſchens-
werth daß der „Pangermane“ jetzt weniger in dieſer Richtung thätig wäre,
denn daraus könnte eine für Belgien gegenwärtig ſicher nicht ſegensreiche
Spannung zwiſchen den beiden Elementen hervorgehen. Viel werthvoller
wär’ es wenn der „Pangermane“ ſeine Thätigkeit dem Verſöhnen zuwendete,
und nächſtdem den engeren Anſchluß der Vlamingen an Deutſchland ver-

*) Der Anſchluß von ganz Ligurien bietet Napoleon einen Erſatz.
*) Bezeichnete verſtehen kein Niederdeutſch.
**) Fehlen Beamte.
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[2674/0010] als der Sohn eines Krämers geboren. Sein Talent zum Zeichnen ent- wickelte ſich frühzeitig, aber er hatte mit Noth und Schwierigkeiten zu kämpfen bis er ſich ſeinem Beruf widmen konnte. Im Beſitz der kleinen väterlichen Hinterlaſſenſchaft und von einem reichen Landsmann unterſtützt, welchem er aber vertragsmäßig ſeine Reiſeſkizzen überlaſſen mußte, gieng er im Jahr 1817 ins Ausland, und bereiste drei Jahre lang zu künſtleriſchen — insbeſondere architektoniſchen — Zwecken Italien, Griechenland, die europäiſche Türkei, Aegypten, Syrien und Paläſtina. Ein Ausflug nach Palmyra wurde durch räuberiſche Beduinen vereitelt, deren einer ihn durch einen Lanzenſtich verwundete, welchen ſein Haick (arabiſcher Mantel) noch glücklich auffieng. Nach England heimgekehrt, verheirathete er ſich im Jahr 1823, hatte aber, ohne einflußreiche Gönner, noch eine Reihe ſchwerer Lehrjahre durchzumachen. Endlich gelang es ihm größere Aufträge zu erhalten, und durch mehrere Bauten von Kirchen, Schulen, Clubhäuſern in Mancheſter, Brighton, Birmingham, und London ſelbſt, vortheilhaft bekannt zu werden. Nun fanden ſich auch vornehme Gönner ein: der Marquis v. Lansdowne, der Herzog v. Sutherland, Lady Holland u. ſ. w. Da brannten die Parla- mentshäuſer ab, und im Jah: 1836 wurde das große Werk, auf welchem ſein Ruhm beruht, ſeinen Händen anvertraut. 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Barry gehörte zu den „eklektiſchen“ Architekten, d. h. er wählte gern aus den verſchiedenen Stylen das was ihm für eine beſondere Aufgabe gefiel; aber die gothiſchen Stylarten waren ihm bis dahin am fernſten gelegen, und er liebte ſie eigentlich nicht. Zudem war, bemerkt das Athenäum, die Kenntniß der gothiſchen Bauart vor fünfundzwanzig Jahren den Engländern ſelbſt ſo ziemlich abhanden gekommen. Dieſe Umſtände bittet das Athenäum die Tadler der neuen Parlamentshäuſer zu erwägen, und bemerkt daß Barry ſelbſt, wenn er jetzt erſt den Plan zu ent- werfen hätte, wohl manches anders und beſſer machen würde. Jedenfalls ſey es im ganzen ein großartiger und impoſanter Bau, der ſeinem Schöpfer zur Ehre und London zur Zierde gereiche. Ein beſonderer Vortheil der gewählten Bauart iſt daß er die Einführung von Wandgemälden geſtattete, und wirklich hat ſeitdem die Frescomalerei in England einen gewiſſen Aufſchwung ge- nommen, obgleich ihr das feuchte Klima des Landes ſehr ungünſtig iſt. Barry war Mitglied der königl. Akademie und der königl. Societät der Wiſſen- ſchaften, Präſident des Inſtituts brittiſcher Architekten, und Ehrenmitglied vieler auswärtigen Akademien. Im Jahr 1852, als die Königin zum erſten- mal durch den „Victoria-Tower“ in den neuen Parlamentspalaſt einfuhr, ward er von Ihrer Majeſtät in den Ritterſtand erhoben. Zwei von ſeinen fünf hinterlaſſenen Söhnen ſind ebenfalls Architekten. Das Programm der revolutionären Partei in Italien. = Siena, 30 Mai.Die herrſchende Partei, ihres Sieges auf der Inſel Sicilien nicht bloß, ſondern im ganzen Königreich Neapel ſich für gewiß haltend, ſpricht ſchon von dem allgemeinen Stimmrecht, zu welchem man dort wie in Centralitalien greifen würde, um über die politiſche Ge- ſtaltung zu entſcheiden. 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Ein Murat oder Napoleonide in Neapel würde von England nicht zugeſtanden werden, daher iſt franzöſiſche Einmiſchung nicht möglich. Man ſieht für wie uneigennützig die Italiener heutzutage den Kaiſer halten, welchem ſie Reiterbildſäulen decretiren, und welche Be- griffe ſie mit „une idée“ verbinden. *) Oeſterreichiſche Einmiſchung, wäre ſie durch die innern Zuſtände ermöglicht, würde von Frankreich und England nicht erlaubt werden. Somit iſt das Geſchick von Süditalien, von Marſala bis Terracina, im Sinne der hieſigen Wortführer bereits entſchieden, und es handelt ſich nur noch um den Papſt, ſo iſt die italieniſche Einheit conſtituirt. (Venedig, beiläufig geſagt, iſt ſo ſichere Beute daß man davon kaum mehr redet.) Der Florentiner Palazzo vecchio und ſeine Freunde beweinen noch- mals, wie ſie ſo oft gethan, die Blindheit des Papſtes, der ſeine „Miſſion“ ganz verkennt. Sie fahren fort dem Papſt wahres Chriſtenthum zu lehren, welches der Profeſſor Amari aus dem Koran, der Signor d’Ancona aus dem Talmud ſchöpft. Wie kann nur Pius IX das Seelenheil ſo verkennen! Er ſollte verſöhnen, und er theilt. (Vor einigen Monaten warfen ſie ihm vor er wolle mit ihnen nicht theilen!) Die Religion ſollte die Unterdrückten tröſten, und „ihr erſter Diener iſt der erſte Unterdrücker.“ Eine Verſöhnung zwiſchen dem Alten und dem Neuen, heißt es ferner, iſt unmöglich: alle La- moricière und Corcelles der Welt können das Papſithum nicht mehr vor dem Sturz in den Abgrund retten, an deſſen Rand es ſteht. Der Idee dieſer Leute nach iſt binnen wenigen Monaten alles zu Ende, und auf dem Capitol wird Victor Emmanuel als Imperator proclamirt. Frankreichs Neid macht ihnen ſchon keine Sorge mehr. Die „italieniſche“ Regierung, ſagen ſie, iſt bereits mit der kaiſerlichen in fortſchreitender Unterhandlung in Betreff der förmlichen Anerkennung ihres neuen Beſitzes in Mittelitalien — alles übrige wird ſodann aus demſelben Princip und nach demſelben Recht ſich folgern. Es iſt jedenfalls von Intereſſe den Ideengang der Partei, welche eingeſtan- denermaßen das Programm des Grafen v. Cavour auf ihre Fahne geſchrieben, und deſſen Durchführung ihren Mitgliedern und Candidaten zur Pflicht ge- macht hat, ſich klar zu vergegenwärtigen, um ſo mehr als es demſelben nicht an Conſequenz fehlt, und die Erfolge ſelbſt kühne Phantaſieflüge zu rechtfer- tigen ſcheinen. Die deutſche Bewegung in Belgien. * Brüſſel, 1 Jun.Das unbeſtreitbare Erwachen des deutſchen Volksgefühls wird in ſchlagender Weiſe durch die geiſtige Bewegung beſtätigt welche ſelbſt die deutſchen Stämme zu erfaſſen beginnt, die in einem Deutſch- land nicht unmittelbar angehörenden Staatsverbande ſich befinden. In Bel- gien haben die Niederdeutſchen, wie der „Pangermane“ davon ein redend Zeugniß gibt, die unſerem großen Vaterlande wie dem deutſchen Volke drohende Gefahr faſt eben ſo ſehr empfunden als wir ſelbſt. Die Napoleoniſchen Ge- lüſte und das Princip des zweiten Decembers ſich ſtets als Vertreter der unter- drückten Nationalitäten zu gebärden, haben namentlich auch die Niederdeutſchen in Belgien veranlaßt ſtatiſtiſche Unterſuchungen über die Stellung der Wallonen zu den Vlamingen in Belgien anzuſtellen. Der „Pangermane“ bringt darüber folgende intereſſante Zuſammenſtellung: Statiſtik der niederdeutſchen und walloniſchen Staatsbeamten in Belgien. Während ungefähr drei Fünftel der Bevölkerung Belgiens Niederdeutſche ſind, finden wir: *) **) In der Claſſe der ſchönen Wiſſenſchaften der k. Akademie gibt es nur 6 Niederdeutſche; aber in der Claſſe der ſchönen Künſte gibt es 16 Nieder- deutſche, und nur 7 Wallonen, unter den wirkenden Mitgliedern. Totalſumme. 3715. Leopolds-Orden. Niederdeutſche. 1217. Wallonen. 2498. Fremde mit dem Leopolds-Orden beehrt: Franzoſen 960; Engländer 36; Nord-Niederländer und Luxemburger 57; Oeſterreicher 122; ſonſtige Deutſche 142; Preußen 100. Man bemerkt alſo 960 für Frankreich, und nur 457 für alle anderen Nationen. Da auf 2,700,000 Flamländer nur 1,800,000 Wallonen kommen, ſo können die Wallonen jedenfalls nicht die Haltung und Stellung einer unter- drückten Nationalität annehmen. Immerhin wäre es aber wünſchens- werth daß der „Pangermane“ jetzt weniger in dieſer Richtung thätig wäre, denn daraus könnte eine für Belgien gegenwärtig ſicher nicht ſegensreiche Spannung zwiſchen den beiden Elementen hervorgehen. Viel werthvoller wär’ es wenn der „Pangermane“ ſeine Thätigkeit dem Verſöhnen zuwendete, und nächſtdem den engeren Anſchluß der Vlamingen an Deutſchland ver- *) Der Anſchluß von ganz Ligurien bietet Napoleon einen Erſatz. *) Bezeichnete verſtehen kein Niederdeutſch. **) Fehlen Beamte.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 160, 8. Juni 1860, S. 2674. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine160_1860/10>, abgerufen am 23.11.2024.