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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920.

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9. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft
Die kommenden Reichstagswahlen.

Am 6. Juni soll der erste ordentliche Reichstag der deut-
schen Republik gewählt werden, und zwar nach einem Wahl-
gesetz, das gegenüber demjenigen, auf Grund dessen die "Ver-
fassunggebende Nationalversammlung" gewählt worden ist,
einige nicht unerhebliche Aenderungen aufweist nicht in
bezug auf die Wahlberechtigung, die selbstverständlich auf
alle Deutschen von mehr als 20 Jahre ausgedehnt bleibt,
dagegen hinsichtlich des Wählbarkeitsalters, das von 20 auf
25 Jahre erhöht worden ist. Ganz neuartig ist die Bestim-
mung, daß die Zahl der Abgeordneten überhaupt erst durch
die Stärke der Wahlbeteiligung festgesetzt wird. Während
für die Wahlen vom 19. Januar 1919 die 38 Wahlkreise,
unter denen damals auch noch Elsaß-Lothringen figurierte,
insgesamt 433 Abgeordnete zu wählen hatten, und zwar auf
Grund einer Berechnung, die auf durchschnittlich 150,000 Ein-
wohner einen Abgeordneten entfallen ließ. In Zukunft soll
auf je 60,000 abgegebene Stimmen ein Abgeordneter
kommen, und zwar gibt es Kreiswahlvorschläge und Reichs-
wahlvorschläge. Zunächst werden jedem Kreiswahlvorschlag
soviel Abgeordnetensitze zugewiesen, als diesem Divisor ent-
sprechen, und jeder Wahlkreis, deren Zahl jetzt 35 beträgt,
erhält also zunächst die entsprechende Anzahl von Abgeord-
neten. Aber auch die Reststimmen sollen noch zur Geltung
kommen, und zwar soweit eine Listenverbindung stattgefun-
den hat, in den sogenannten "Wahlkreisverband", soweit das
nicht der Fall ist, erst in der Reichswahl, für die ein be-
sonderer Reichswahlausschuß bestellt ist. Innerhalb des
Wahlkreisverbandes können mehrere Kreisvorschläge mit-
einander verbunden werden, jedoch nur, wenn sie derselben
Reichswahlliste angeschlossen sind. Wahlkreisverbände gibt
es 17. In zwei Fällen, nämlich in Ostpreußen und in
Oberschlesien, deckt sich der Wahlkreis mit dem Wahlkreis-
verband, im übrigen aber gehören zwei bis drei Wahlkreise
zu einem Verband; die vier bayerischen Wahlkreise z. B.:
Oberbayern-Schwaben, Niederbayern-Oberpfalz, Franken
und die Pfalz erscheinen zu je zweien in die Wahlkreis-
verbände Bayern Süd-Ost und Bayern Nord-West zusammen-
gefaßt. Ebenso bilden Württemberg und Baden zusammen
einen Wahlkreisverband, ferner Hessen mit der preußischen
Provinz Hessen-Nassau und die drei sächsischen Wahlkreise.
Auf die im Wahlkreisverband zusammengefaßten Reststim-
men entfällt also wieder eine entsprechende Anzahl von Ab-
geordnetensitzen, die den Kreiswahlvorschlägen nach der Zahl
ihrer Reststimmen zugeteilt werden, wobei indes die Rest-
stimmen unberücksichtigt bleiben, wenn nicht wenigstens auf
einen der verbundenen Kreiswahlvorschläge 30,000 Stimmen
abgegeben worden sind. Die sonach nicht verbrauchten oder
nicht berücksichtigten Reststimmen werden dem zugehörigen
Reichswahlvorschlag überwiesen, und auch da entfällt wieder
auf je 60,000 Reststimmen ein Abgeordnetensitz, wobei mehr
als 30,000 Stimmen als voll gerechnet werden.

Es ist somit in der Tat das möglichste getan, um den
Wählern, auch verhältnismäßig kleinen Minderheiten, rein
zahlenmäßig zu ihrem Rechte zu verhelfen und so die tatsäch-
lich abgegebenen Wahlstimmen "restlos" -- es gibt ja auch
noch Zusammenhänge, in denen dieses schrecklich abgehetzte
Modewort am Platze ist -- in Mandate umgemünzt werden.
Die Einrichtung des Reichswahlvorschlages wird die ideell
begrüßenswerte, wenn auch praktisch wohl nicht sehr
bedeutsame Wirkung haben, für einzelne hervorragende Per-
sönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien stehen, die
Wahlaussichten zu verbessern. Auf der anderen Seite bleiben
natürlich die grundsätzlichen Bedenken gegen die Listen-
wahlen bestehen, die nun einmal die "Verankerung" der
Parteiherrschaft bedeuten. Zur Aufstellung eines Kreiswahl-
vorschlages genügen ja 50, zur Aufstellung eines Reichs-
wahlvorschlages sogar 20 Wähler, aber soweit diese Bestim-
mung nicht eine reine Formalität ist, gibt sie höchstens
einigen Eigenbrötlern die Möglichkeit, sich einige Tage lang
[Spaltenumbruch] durch aussichtslose Wahlvorschläge in der Leute Mund zu
bringen; auf ein Mandat kann nur rechnen, wer mindestens
30,000 Stimmen aufzubringen vermag. Das bedeutet im all-
gemeinen doch, daß nur der Anschluß an eine Partei die
wirkliche Geltendmachung des verfassungsmäßigen Wahl-
rechtes gestattet und verbirgt. Die vielen Tausende deutscher
Männer und Frauen, für die dieser Gedanke etwas außer-
ordentlich Unsympathisches ist, sind sicherlich nicht die schlech-
testen ihrer Art. Ist schon die Politik als solche nicht nach
jedermanns Geschmack, so empfinden viele die Politik in der
Form des Parteiwesens als eine sehr minderwertige Form
menschlicher Betätigung, und zwar mit gutem Grunde. Zum
Wesen der Partei gehört nun einmal die Einseitigkeit, und
wenn die Gabe, die Dinge von verschiedenen Seiten zu sehen,
die Relativität von Recht und Unrecht, von Wahrheit und
Irrtum sorgfältig abzuwägen, von jeher als Eigentümlich-
keit und Vorzug des deutschen Wesens gegolten hat, so kann
man wohl sagen, daß die Herrschaft oder gar die Allein-
herrschaft des Parteiwesens dieser deutschen Eigenart schroff
zuwiderläuft. Hat das von jeher gegolten, so gilt es jetzt
erst recht. Denn heutzutage wird ja in den Porteien weniger
um Ideen und Grundsätze als um Macht gestritten, und die
Macht wird mehr und mehr zu der Befugnis, die Aemter
der Staatsverwaltung und andere lohnende Dinge an Leute
des eigenen politischen Bekenntnisses zu vergeben.

Wie jedermann weiß, versteht es sich in den Vereinigten
Staaten von Amerika von selbst, daß der Uebergang der
Mehrheit an eine andere Partei die Entfernung der bis-
herigen Beamten und die Verteilung ihrer Stellen an die
Sieger bedeutet. Soweit sind wir glücklicherweise in Deutsch-
land heute noch nicht. Wenn vielfach zu beobachten ist, daß
Aemter mehr nach dem politischen Glaubensbekenntnis als
nach sonstigen Gesichtspunkten besetzt werden, so ist das eine
begreifliche und natürliche Folgeerscheinung der Revolution,
denn es liegt auf der Hand, daß die aus der Revolution
hervorgegangene Regierung nicht ohne Schaden und Gefahr
einen wesentlichen Teil der Exekutive in die Hände von
Männern legen kann, die dem Grundgedanken der neuen
Ordnung feindselig gegenüberstehen. Aber wenn das Ge-
meinwesen nicht schweren Schaden erleiden soll, darf es sich
dabei nur um eine zeitweilige Erscheinung, einen Ueber-
gangszustand handein. Die Verwaltung ist das beste und,
ganz absolut betrachtet, etwas Vorzügliches an dem bis-
herigen System gewesen. Was sein einziger Fehler war, sind
die sogenannten politischen Beamten, die insbesondere in
Preußen eine sehr erhebliche Rolle gespielt und unendlich
viel Mißstimmung dadurch verbreitet haben, daß sie an-
dauernd den Verdacht erweckten, ein politischer Gegner werde
auch in Angelegenheiten, die mit der Politik schlechterdings
nichts zu tun haben, schlechter behandelt als ein politisch
bequemer und genehmer Mann. Es wäre geradezu ein Ver-
hängnis, wenn die Republik dieses System der politischen
Beamten nicht nur beibehalten, sondern womöglich noch aus-
dehnen und ausgestalten wollte. Wenn wir aus dem Jammer
der Gegenwart überhaupt herauskommen wollen, so muß
mit aller Kraft dahin gestrebt werden, daß die Verwaltung
mit den tüchtigsten Fachmännern besetzt und ausschließlich
nach sachlichen Gesichtspunkten geführt werde. Namentlich
unter diesem Gesichtspunkte erscheint somit die Ueberwuche-
rung des Parteiwesens als eine Gefahr für unsere ganze
Zukunft.

Tatsächlich läßt es sich aber nicht anders bekämpfen als
durch die Parteien selbst. Es wird vielleicht und hoffentlich
wieder einmal dahin kommen, daß man sich von der Politik
und insbesondere vom unmittelbaren politischen Kampf in
der Zeitung, in der Volksversammlung oder in der Volks-
vertretung selbst zurückziehen kann, ohne sich selbst Vorwürfe
machen zu müssen. Vorläufig ist dieser Zeitpunkt jedoch noch
nicht gekommen und er ist auch noch nicht in Sicht. Solange
um des deutschen Volkes größte Gegenstände gestritten wird,
solange es sich darum handelt, aus den Wirbeln der großen
Umwälzung die neue Ordnung herauszuretten, die jedem
Teil unseres Volkes, jeder Schicht und jeder Klasse ihren
gerochten Anteil an Recht und Macht im Staate sichern soll
-- "gerecht" nach der Bedeutung für das Ganze des Volks-

9. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft
Die kommenden Reichstagswahlen.

Am 6. Juni ſoll der erſte ordentliche Reichstag der deut-
ſchen Republik gewählt werden, und zwar nach einem Wahl-
geſetz, das gegenüber demjenigen, auf Grund deſſen die „Ver-
faſſunggebende Nationalverſammlung“ gewählt worden iſt,
einige nicht unerhebliche Aenderungen aufweiſt nicht in
bezug auf die Wahlberechtigung, die ſelbſtverſtändlich auf
alle Deutſchen von mehr als 20 Jahre ausgedehnt bleibt,
dagegen hinſichtlich des Wählbarkeitsalters, das von 20 auf
25 Jahre erhöht worden iſt. Ganz neuartig iſt die Beſtim-
mung, daß die Zahl der Abgeordneten überhaupt erſt durch
die Stärke der Wahlbeteiligung feſtgeſetzt wird. Während
für die Wahlen vom 19. Januar 1919 die 38 Wahlkreiſe,
unter denen damals auch noch Elſaß-Lothringen figurierte,
insgeſamt 433 Abgeordnete zu wählen hatten, und zwar auf
Grund einer Berechnung, die auf durchſchnittlich 150,000 Ein-
wohner einen Abgeordneten entfallen ließ. In Zukunft ſoll
auf je 60,000 abgegebene Stimmen ein Abgeordneter
kommen, und zwar gibt es Kreiswahlvorſchläge und Reichs-
wahlvorſchläge. Zunächſt werden jedem Kreiswahlvorſchlag
ſoviel Abgeordnetenſitze zugewieſen, als dieſem Diviſor ent-
ſprechen, und jeder Wahlkreis, deren Zahl jetzt 35 beträgt,
erhält alſo zunächſt die entſprechende Anzahl von Abgeord-
neten. Aber auch die Reſtſtimmen ſollen noch zur Geltung
kommen, und zwar ſoweit eine Liſtenverbindung ſtattgefun-
den hat, in den ſogenannten „Wahlkreisverband“, ſoweit das
nicht der Fall iſt, erſt in der Reichswahl, für die ein be-
ſonderer Reichswahlausſchuß beſtellt iſt. Innerhalb des
Wahlkreisverbandes können mehrere Kreisvorſchläge mit-
einander verbunden werden, jedoch nur, wenn ſie derſelben
Reichswahlliſte angeſchloſſen ſind. Wahlkreisverbände gibt
es 17. In zwei Fällen, nämlich in Oſtpreußen und in
Oberſchleſien, deckt ſich der Wahlkreis mit dem Wahlkreis-
verband, im übrigen aber gehören zwei bis drei Wahlkreiſe
zu einem Verband; die vier bayeriſchen Wahlkreiſe z. B.:
Oberbayern-Schwaben, Niederbayern-Oberpfalz, Franken
und die Pfalz erſcheinen zu je zweien in die Wahlkreis-
verbände Bayern Süd-Oſt und Bayern Nord-Weſt zuſammen-
gefaßt. Ebenſo bilden Württemberg und Baden zuſammen
einen Wahlkreisverband, ferner Heſſen mit der preußiſchen
Provinz Heſſen-Naſſau und die drei ſächſiſchen Wahlkreiſe.
Auf die im Wahlkreisverband zuſammengefaßten Reſtſtim-
men entfällt alſo wieder eine entſprechende Anzahl von Ab-
geordnetenſitzen, die den Kreiswahlvorſchlägen nach der Zahl
ihrer Reſtſtimmen zugeteilt werden, wobei indes die Reſt-
ſtimmen unberückſichtigt bleiben, wenn nicht wenigſtens auf
einen der verbundenen Kreiswahlvorſchläge 30,000 Stimmen
abgegeben worden ſind. Die ſonach nicht verbrauchten oder
nicht berückſichtigten Reſtſtimmen werden dem zugehörigen
Reichswahlvorſchlag überwieſen, und auch da entfällt wieder
auf je 60,000 Reſtſtimmen ein Abgeordnetenſitz, wobei mehr
als 30,000 Stimmen als voll gerechnet werden.

Es iſt ſomit in der Tat das möglichſte getan, um den
Wählern, auch verhältnismäßig kleinen Minderheiten, rein
zahlenmäßig zu ihrem Rechte zu verhelfen und ſo die tatſäch-
lich abgegebenen Wahlſtimmen „reſtlos“ — es gibt ja auch
noch Zuſammenhänge, in denen dieſes ſchrecklich abgehetzte
Modewort am Platze iſt — in Mandate umgemünzt werden.
Die Einrichtung des Reichswahlvorſchlages wird die ideell
begrüßenswerte, wenn auch praktiſch wohl nicht ſehr
bedeutſame Wirkung haben, für einzelne hervorragende Per-
ſönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien ſtehen, die
Wahlausſichten zu verbeſſern. Auf der anderen Seite bleiben
natürlich die grundſätzlichen Bedenken gegen die Liſten-
wahlen beſtehen, die nun einmal die „Verankerung“ der
Parteiherrſchaft bedeuten. Zur Aufſtellung eines Kreiswahl-
vorſchlages genügen ja 50, zur Aufſtellung eines Reichs-
wahlvorſchlages ſogar 20 Wähler, aber ſoweit dieſe Beſtim-
mung nicht eine reine Formalität iſt, gibt ſie höchſtens
einigen Eigenbrötlern die Möglichkeit, ſich einige Tage lang
[Spaltenumbruch] durch ausſichtsloſe Wahlvorſchläge in der Leute Mund zu
bringen; auf ein Mandat kann nur rechnen, wer mindeſtens
30,000 Stimmen aufzubringen vermag. Das bedeutet im all-
gemeinen doch, daß nur der Anſchluß an eine Partei die
wirkliche Geltendmachung des verfaſſungsmäßigen Wahl-
rechtes geſtattet und verbirgt. Die vielen Tauſende deutſcher
Männer und Frauen, für die dieſer Gedanke etwas außer-
ordentlich Unſympathiſches iſt, ſind ſicherlich nicht die ſchlech-
teſten ihrer Art. Iſt ſchon die Politik als ſolche nicht nach
jedermanns Geſchmack, ſo empfinden viele die Politik in der
Form des Parteiweſens als eine ſehr minderwertige Form
menſchlicher Betätigung, und zwar mit gutem Grunde. Zum
Weſen der Partei gehört nun einmal die Einſeitigkeit, und
wenn die Gabe, die Dinge von verſchiedenen Seiten zu ſehen,
die Relativität von Recht und Unrecht, von Wahrheit und
Irrtum ſorgfältig abzuwägen, von jeher als Eigentümlich-
keit und Vorzug des deutſchen Weſens gegolten hat, ſo kann
man wohl ſagen, daß die Herrſchaft oder gar die Allein-
herrſchaft des Parteiweſens dieſer deutſchen Eigenart ſchroff
zuwiderläuft. Hat das von jeher gegolten, ſo gilt es jetzt
erſt recht. Denn heutzutage wird ja in den Porteien weniger
um Ideen und Grundſätze als um Macht geſtritten, und die
Macht wird mehr und mehr zu der Befugnis, die Aemter
der Staatsverwaltung und andere lohnende Dinge an Leute
des eigenen politiſchen Bekenntniſſes zu vergeben.

Wie jedermann weiß, verſteht es ſich in den Vereinigten
Staaten von Amerika von ſelbſt, daß der Uebergang der
Mehrheit an eine andere Partei die Entfernung der bis-
herigen Beamten und die Verteilung ihrer Stellen an die
Sieger bedeutet. Soweit ſind wir glücklicherweiſe in Deutſch-
land heute noch nicht. Wenn vielfach zu beobachten iſt, daß
Aemter mehr nach dem politiſchen Glaubensbekenntnis als
nach ſonſtigen Geſichtspunkten beſetzt werden, ſo iſt das eine
begreifliche und natürliche Folgeerſcheinung der Revolution,
denn es liegt auf der Hand, daß die aus der Revolution
hervorgegangene Regierung nicht ohne Schaden und Gefahr
einen weſentlichen Teil der Exekutive in die Hände von
Männern legen kann, die dem Grundgedanken der neuen
Ordnung feindſelig gegenüberſtehen. Aber wenn das Ge-
meinweſen nicht ſchweren Schaden erleiden ſoll, darf es ſich
dabei nur um eine zeitweilige Erſcheinung, einen Ueber-
gangszuſtand handein. Die Verwaltung iſt das beſte und,
ganz abſolut betrachtet, etwas Vorzügliches an dem bis-
herigen Syſtem geweſen. Was ſein einziger Fehler war, ſind
die ſogenannten politiſchen Beamten, die insbeſondere in
Preußen eine ſehr erhebliche Rolle geſpielt und unendlich
viel Mißſtimmung dadurch verbreitet haben, daß ſie an-
dauernd den Verdacht erweckten, ein politiſcher Gegner werde
auch in Angelegenheiten, die mit der Politik ſchlechterdings
nichts zu tun haben, ſchlechter behandelt als ein politiſch
bequemer und genehmer Mann. Es wäre geradezu ein Ver-
hängnis, wenn die Republik dieſes Syſtem der politiſchen
Beamten nicht nur beibehalten, ſondern womöglich noch aus-
dehnen und ausgeſtalten wollte. Wenn wir aus dem Jammer
der Gegenwart überhaupt herauskommen wollen, ſo muß
mit aller Kraft dahin geſtrebt werden, daß die Verwaltung
mit den tüchtigſten Fachmännern beſetzt und ausſchließlich
nach ſachlichen Geſichtspunkten geführt werde. Namentlich
unter dieſem Geſichtspunkte erſcheint ſomit die Ueberwuche-
rung des Parteiweſens als eine Gefahr für unſere ganze
Zukunft.

Tatſächlich läßt es ſich aber nicht anders bekämpfen als
durch die Parteien ſelbſt. Es wird vielleicht und hoffentlich
wieder einmal dahin kommen, daß man ſich von der Politik
und insbeſondere vom unmittelbaren politiſchen Kampf in
der Zeitung, in der Volksverſammlung oder in der Volks-
vertretung ſelbſt zurückziehen kann, ohne ſich ſelbſt Vorwürfe
machen zu müſſen. Vorläufig iſt dieſer Zeitpunkt jedoch noch
nicht gekommen und er iſt auch noch nicht in Sicht. Solange
um des deutſchen Volkes größte Gegenſtände geſtritten wird,
ſolange es ſich darum handelt, aus den Wirbeln der großen
Umwälzung die neue Ordnung herauszuretten, die jedem
Teil unſeres Volkes, jeder Schicht und jeder Klaſſe ihren
gerochten Anteil an Recht und Macht im Staate ſichern ſoll
— „gerecht“ nach der Bedeutung für das Ganze des Volks-

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[173/0003] 9. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Die kommenden Reichstagswahlen. Am 6. Juni ſoll der erſte ordentliche Reichstag der deut- ſchen Republik gewählt werden, und zwar nach einem Wahl- geſetz, das gegenüber demjenigen, auf Grund deſſen die „Ver- faſſunggebende Nationalverſammlung“ gewählt worden iſt, einige nicht unerhebliche Aenderungen aufweiſt nicht in bezug auf die Wahlberechtigung, die ſelbſtverſtändlich auf alle Deutſchen von mehr als 20 Jahre ausgedehnt bleibt, dagegen hinſichtlich des Wählbarkeitsalters, das von 20 auf 25 Jahre erhöht worden iſt. Ganz neuartig iſt die Beſtim- mung, daß die Zahl der Abgeordneten überhaupt erſt durch die Stärke der Wahlbeteiligung feſtgeſetzt wird. Während für die Wahlen vom 19. Januar 1919 die 38 Wahlkreiſe, unter denen damals auch noch Elſaß-Lothringen figurierte, insgeſamt 433 Abgeordnete zu wählen hatten, und zwar auf Grund einer Berechnung, die auf durchſchnittlich 150,000 Ein- wohner einen Abgeordneten entfallen ließ. In Zukunft ſoll auf je 60,000 abgegebene Stimmen ein Abgeordneter kommen, und zwar gibt es Kreiswahlvorſchläge und Reichs- wahlvorſchläge. Zunächſt werden jedem Kreiswahlvorſchlag ſoviel Abgeordnetenſitze zugewieſen, als dieſem Diviſor ent- ſprechen, und jeder Wahlkreis, deren Zahl jetzt 35 beträgt, erhält alſo zunächſt die entſprechende Anzahl von Abgeord- neten. Aber auch die Reſtſtimmen ſollen noch zur Geltung kommen, und zwar ſoweit eine Liſtenverbindung ſtattgefun- den hat, in den ſogenannten „Wahlkreisverband“, ſoweit das nicht der Fall iſt, erſt in der Reichswahl, für die ein be- ſonderer Reichswahlausſchuß beſtellt iſt. Innerhalb des Wahlkreisverbandes können mehrere Kreisvorſchläge mit- einander verbunden werden, jedoch nur, wenn ſie derſelben Reichswahlliſte angeſchloſſen ſind. Wahlkreisverbände gibt es 17. In zwei Fällen, nämlich in Oſtpreußen und in Oberſchleſien, deckt ſich der Wahlkreis mit dem Wahlkreis- verband, im übrigen aber gehören zwei bis drei Wahlkreiſe zu einem Verband; die vier bayeriſchen Wahlkreiſe z. B.: Oberbayern-Schwaben, Niederbayern-Oberpfalz, Franken und die Pfalz erſcheinen zu je zweien in die Wahlkreis- verbände Bayern Süd-Oſt und Bayern Nord-Weſt zuſammen- gefaßt. Ebenſo bilden Württemberg und Baden zuſammen einen Wahlkreisverband, ferner Heſſen mit der preußiſchen Provinz Heſſen-Naſſau und die drei ſächſiſchen Wahlkreiſe. Auf die im Wahlkreisverband zuſammengefaßten Reſtſtim- men entfällt alſo wieder eine entſprechende Anzahl von Ab- geordnetenſitzen, die den Kreiswahlvorſchlägen nach der Zahl ihrer Reſtſtimmen zugeteilt werden, wobei indes die Reſt- ſtimmen unberückſichtigt bleiben, wenn nicht wenigſtens auf einen der verbundenen Kreiswahlvorſchläge 30,000 Stimmen abgegeben worden ſind. Die ſonach nicht verbrauchten oder nicht berückſichtigten Reſtſtimmen werden dem zugehörigen Reichswahlvorſchlag überwieſen, und auch da entfällt wieder auf je 60,000 Reſtſtimmen ein Abgeordnetenſitz, wobei mehr als 30,000 Stimmen als voll gerechnet werden. Es iſt ſomit in der Tat das möglichſte getan, um den Wählern, auch verhältnismäßig kleinen Minderheiten, rein zahlenmäßig zu ihrem Rechte zu verhelfen und ſo die tatſäch- lich abgegebenen Wahlſtimmen „reſtlos“ — es gibt ja auch noch Zuſammenhänge, in denen dieſes ſchrecklich abgehetzte Modewort am Platze iſt — in Mandate umgemünzt werden. Die Einrichtung des Reichswahlvorſchlages wird die ideell begrüßenswerte, wenn auch praktiſch wohl nicht ſehr bedeutſame Wirkung haben, für einzelne hervorragende Per- ſönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien ſtehen, die Wahlausſichten zu verbeſſern. Auf der anderen Seite bleiben natürlich die grundſätzlichen Bedenken gegen die Liſten- wahlen beſtehen, die nun einmal die „Verankerung“ der Parteiherrſchaft bedeuten. Zur Aufſtellung eines Kreiswahl- vorſchlages genügen ja 50, zur Aufſtellung eines Reichs- wahlvorſchlages ſogar 20 Wähler, aber ſoweit dieſe Beſtim- mung nicht eine reine Formalität iſt, gibt ſie höchſtens einigen Eigenbrötlern die Möglichkeit, ſich einige Tage lang durch ausſichtsloſe Wahlvorſchläge in der Leute Mund zu bringen; auf ein Mandat kann nur rechnen, wer mindeſtens 30,000 Stimmen aufzubringen vermag. Das bedeutet im all- gemeinen doch, daß nur der Anſchluß an eine Partei die wirkliche Geltendmachung des verfaſſungsmäßigen Wahl- rechtes geſtattet und verbirgt. Die vielen Tauſende deutſcher Männer und Frauen, für die dieſer Gedanke etwas außer- ordentlich Unſympathiſches iſt, ſind ſicherlich nicht die ſchlech- teſten ihrer Art. Iſt ſchon die Politik als ſolche nicht nach jedermanns Geſchmack, ſo empfinden viele die Politik in der Form des Parteiweſens als eine ſehr minderwertige Form menſchlicher Betätigung, und zwar mit gutem Grunde. Zum Weſen der Partei gehört nun einmal die Einſeitigkeit, und wenn die Gabe, die Dinge von verſchiedenen Seiten zu ſehen, die Relativität von Recht und Unrecht, von Wahrheit und Irrtum ſorgfältig abzuwägen, von jeher als Eigentümlich- keit und Vorzug des deutſchen Weſens gegolten hat, ſo kann man wohl ſagen, daß die Herrſchaft oder gar die Allein- herrſchaft des Parteiweſens dieſer deutſchen Eigenart ſchroff zuwiderläuft. Hat das von jeher gegolten, ſo gilt es jetzt erſt recht. Denn heutzutage wird ja in den Porteien weniger um Ideen und Grundſätze als um Macht geſtritten, und die Macht wird mehr und mehr zu der Befugnis, die Aemter der Staatsverwaltung und andere lohnende Dinge an Leute des eigenen politiſchen Bekenntniſſes zu vergeben. Wie jedermann weiß, verſteht es ſich in den Vereinigten Staaten von Amerika von ſelbſt, daß der Uebergang der Mehrheit an eine andere Partei die Entfernung der bis- herigen Beamten und die Verteilung ihrer Stellen an die Sieger bedeutet. Soweit ſind wir glücklicherweiſe in Deutſch- land heute noch nicht. Wenn vielfach zu beobachten iſt, daß Aemter mehr nach dem politiſchen Glaubensbekenntnis als nach ſonſtigen Geſichtspunkten beſetzt werden, ſo iſt das eine begreifliche und natürliche Folgeerſcheinung der Revolution, denn es liegt auf der Hand, daß die aus der Revolution hervorgegangene Regierung nicht ohne Schaden und Gefahr einen weſentlichen Teil der Exekutive in die Hände von Männern legen kann, die dem Grundgedanken der neuen Ordnung feindſelig gegenüberſtehen. Aber wenn das Ge- meinweſen nicht ſchweren Schaden erleiden ſoll, darf es ſich dabei nur um eine zeitweilige Erſcheinung, einen Ueber- gangszuſtand handein. Die Verwaltung iſt das beſte und, ganz abſolut betrachtet, etwas Vorzügliches an dem bis- herigen Syſtem geweſen. Was ſein einziger Fehler war, ſind die ſogenannten politiſchen Beamten, die insbeſondere in Preußen eine ſehr erhebliche Rolle geſpielt und unendlich viel Mißſtimmung dadurch verbreitet haben, daß ſie an- dauernd den Verdacht erweckten, ein politiſcher Gegner werde auch in Angelegenheiten, die mit der Politik ſchlechterdings nichts zu tun haben, ſchlechter behandelt als ein politiſch bequemer und genehmer Mann. Es wäre geradezu ein Ver- hängnis, wenn die Republik dieſes Syſtem der politiſchen Beamten nicht nur beibehalten, ſondern womöglich noch aus- dehnen und ausgeſtalten wollte. Wenn wir aus dem Jammer der Gegenwart überhaupt herauskommen wollen, ſo muß mit aller Kraft dahin geſtrebt werden, daß die Verwaltung mit den tüchtigſten Fachmännern beſetzt und ausſchließlich nach ſachlichen Geſichtspunkten geführt werde. Namentlich unter dieſem Geſichtspunkte erſcheint ſomit die Ueberwuche- rung des Parteiweſens als eine Gefahr für unſere ganze Zukunft. Tatſächlich läßt es ſich aber nicht anders bekämpfen als durch die Parteien ſelbſt. Es wird vielleicht und hoffentlich wieder einmal dahin kommen, daß man ſich von der Politik und insbeſondere vom unmittelbaren politiſchen Kampf in der Zeitung, in der Volksverſammlung oder in der Volks- vertretung ſelbſt zurückziehen kann, ohne ſich ſelbſt Vorwürfe machen zu müſſen. Vorläufig iſt dieſer Zeitpunkt jedoch noch nicht gekommen und er iſt auch noch nicht in Sicht. Solange um des deutſchen Volkes größte Gegenſtände geſtritten wird, ſolange es ſich darum handelt, aus den Wirbeln der großen Umwälzung die neue Ordnung herauszuretten, die jedem Teil unſeres Volkes, jeder Schicht und jeder Klaſſe ihren gerochten Anteil an Recht und Macht im Staate ſichern ſoll — „gerecht“ nach der Bedeutung für das Ganze des Volks-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1920/3>, abgerufen am 23.11.2024.