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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920.

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16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Woher ich komm', wohin ich gehe,
Weiß ich nicht,
Noch, wann alles dies soll enden;
Bin selbst ein Stück von Gottes Gnad',
Mein Sein
Ruht ganz in seinen Händen.
Gott kenn' ich nur, weil ich mich sühl'
Ein Spiegel,
Der die Welt erkennet,
Ohn' mich kein Gott, so gibt es nichts.
Was mein Sein von dem seinen trennet.
Getrost seh' ich, wie's kommt und geht
Durch endenlose Zeiten;
Und fahr' ich hin, ich hör' wie Gott nie auf;
Die Welt hat grenzenlose Weiten.

In diesen Versen spiegelt sich die in bestem Sinne naive
Persönlichkeit Hans Thomas. Mit einem Optimismus, der
alles, auch das unscheinbarste Ding dieser Welt zu golden weiß,
schaut der Meister die Wunder dieser Erde. Ehrfürchtig und
doch stolz, demütig und doch des eigenen Wertes stets bewußt,
so erscheint dieser deutsche Mann, der als Mensch, Künstler und
Dichter in gleicher Weise einer Zeit, die zerfahren und zerrissen
ist wie selten eine, Vorbild sein sollte. Heute, wo allenthalben
der kalte, nüchterne Geist herrscht, wo die Maschinen und nicht
mehr die Menschen den Rhythmus des Geschehens angeben, wo
die Ruhe, die Stille, die Abgeklärtheit als veraltet und über-
wunden angesehen werden, wo die Unrast die Göttin ist, der
alle zu Füßen liegen, ragt eine Persönlichkeit wie ein mächtiger
Baum auf einsamer Gipfelhöhe empor, die in diesen Worten
von der Kunst spricht:

Nützt es der Kunst, sie also aufzubauschen,
Als wär allein, was glänzt und gleißt von Golde,
Was lärmt und schreit und prahlt mit hohem Solde,
Als wär sie da, die Menschheit zu berauschen?
Das heißt doch ihren echten Sinn vertauschen!
Denn still und ruhig ist die Kunst die holde,
Vom Himmel nicht gemünzt nach ird'schem Golde;
Wer recht sie liebt, muß ihrer Stille lauschen.
Wie der Natur so still ist auch ihr Bilden,
Sie drängt nicht auf, auch läßt sie sich nicht haschen,
Nur wo sie will, da ist sie auch zu finden.
Was soll das Lärmen denn um sie von Wilden?
Die drängen sich, um ihre Frucht zu naschen,
Sie sprechen von ihr, wie vom Licht die Blinden.

Hoffen wir, daß die Zeiten nicht allzu ferne sind, da der
Geist, die Seele Hans Thomas wieder ein Echo finden im Her-
zen des ganzen Volkes! Dann, und nur dann, werden wir ge-
nesen von dem Siechtum der Gegenwart und zurückkehren zu
den Gärten, die vereinsamt liegen und warten der Stunde, da
die Besten in ihnen wieder finden den Schatz, dessen stilles
Leuchten herrlicher ist, denn alle Weisheit dieser Welt.

Feuilleton
Die Inokulation der Liebe.
Eine Erzählung von Herrn von Thümmel.
An den Herrn Kreissteuereinnehmer Weiße in Leipzig.*)

(Fortsetzung.)

Dem droht der Ueberdruß vergebens,
Der manchen Ehemann gleich nach der Trau befällt,
Wer die Gefährtin seines Lebens
Aus einer Beaumont-Hand erhält;
Der kluge Mann wird nichts vermissen.
Ihm bleibt zu weiterm Unterricht
[Spaltenumbruch] Nichts übrig, als die Kunst, zu küssen.
O, warum konnte doch die gute Mutter nicht
Soviel als eine Beaumont wissen!
Das, was sie wußte, lehrte sie:
Sie lehrt' das Kind erst reden und dann singen
Und wußt' ihm ohne viele Müh'
Geschmack am Lesen beizubringen.
Sie wagt' es ohne Lockversuch,
Die Unterweisung abzuändern:
Sie lasen manches gute Buch.
Und wechselten mit Hauskalendern.
In diesen Uebungen verfloß
Die lange Zeit von fünfzehn Jahren,
Das Fräulein war nun hübsch und groß.
Empfindlich: aber unerfahren.
Einst las sie Zeitungen, und fing von Frankfurt an,
Die selt'ne Neuigkeit zu lesen:
"Es sei Dimsdal, der große Mann,
"Der Blatterimpfer dagewesen." --
Drauf, wie man denken kann, drauf fuhr
Die Zeitung fort, die Leser zu belehren,
Wie viele Mädchen schon mit Hilfe seiner Kur
Vor dem Verlust der Reize der Natur
Zu ihrem Trost gesichert wären." --
Ihr Krankheitsbändiger mit tötendem Gesicht,
Ihr habt wohl recht, auf diese Kur zu schimpfen! --
Auch unser Mütterchen, das doch sonst eben nicht
Schwergläubig war, fing an dabei das Maul zu rümpfen. --
Die Blattern? schrie sie, was? die Blattern einzuimpfen? --
Unmöglich ist das gut: doch wollt ich, der Bericht
Wär' wahr! Ich weiß, was sie mir einst verdarben.
Auch ich war einstens schön. -- Da sah mich jedermann
Mit freundlichen und güt'gen Augen an:
Doch itzt! -- Wie bald ist es um uns getan?
Bei dieser Larve voller Narben
Denkt weiter keine Seele dran. --
Das junge Fräulein hört zum erstenmal erschrocken
Der Alten zu, und sieht zugleich in ihr
Mit angstvoll stiller Neubegier,
Ein traurig Monument der fürchterlichen Pocken;
Denn, wie die Pfirsich nichts von ihrer Güte weiß,
Wenn sie auf der Natur Geheiß
Sich färbt, mit Woll' umzieht und endlich süßgefüllet
Der Lüsternheit entgegenschwillet:
So war bisher auch Fräulein Karolinen
Ihr eigener Wert noch unbewußt.
Sie tändelte noch nicht mit ihrer Schwanenbrust
Und dachte nicht daran, durch schlaugewählte Mienen
Den Ruhm der Schönheit zu verdienen.
Mit sich noch unbekannt und kaum von sich geseh'n,
War sie in stiller Anmut schön.
Doch itzt, da sie mit ihren feinen Zügen
Der Alten Häßlichkeit verglich;
Itzt, da ihr Geist mit heimlichem Vergnügen
Des Körpers Linien beschlich;
Da ihr geschärfter Blick mit lüsternem Bedachte
Die neuen Gegenden durchlief:
Fuhr manche Ahndung auf und manche Sorg' ermachte,
Die still bisher in ihrem Schoße schlief. --
So wäre, rief sie aus mit traurigen Gebärden,
Dies alles nur auf kurze Zeit so schön?
Dies alles könnte noch ein Raub der Blattern werden?
Und gäb' es denn kein Mittel auf der Erden,
Der Schönheit Feinden zu entgeh'n? --
Dürft' ich nur meinen Vater fragen!
Allein ich weiß es schon, es rühren meine Klagen
Ihn niemals: denn sein Kopf ist nur von Zahlen voll
Und stets schmählt er auf mich -- Es sei! -- man kann ja wohl
Für seine Schönheit etwas wagen? --
Der väterliche Trost war der Erwartung wert.
So heuchlerisch, so schriftgelehrt,
Als ob er ihn in -- -- studiert: --
"Das ist ein Tor, wer seine Schmerzen häuft,
Ein Sünder, welcher Gott in seine Rechte greift,
Ein Bösewicht, -- wer sich inokulieret." --
16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Woher ich komm’, wohin ich gehe,
Weiß ich nicht,
Noch, wann alles dies ſoll enden;
Bin ſelbſt ein Stück von Gottes Gnad’,
Mein Sein
Ruht ganz in ſeinen Händen.
Gott kenn’ ich nur, weil ich mich ſühl’
Ein Spiegel,
Der die Welt erkennet,
Ohn’ mich kein Gott, ſo gibt es nichts.
Was mein Sein von dem ſeinen trennet.
Getroſt ſeh’ ich, wie’s kommt und geht
Durch endenloſe Zeiten;
Und fahr’ ich hin, ich hör’ wie Gott nie auf;
Die Welt hat grenzenloſe Weiten.

In dieſen Verſen ſpiegelt ſich die in beſtem Sinne naive
Perſönlichkeit Hans Thomas. Mit einem Optimismus, der
alles, auch das unſcheinbarſte Ding dieſer Welt zu golden weiß,
ſchaut der Meiſter die Wunder dieſer Erde. Ehrfürchtig und
doch ſtolz, demütig und doch des eigenen Wertes ſtets bewußt,
ſo erſcheint dieſer deutſche Mann, der als Menſch, Künſtler und
Dichter in gleicher Weiſe einer Zeit, die zerfahren und zerriſſen
iſt wie ſelten eine, Vorbild ſein ſollte. Heute, wo allenthalben
der kalte, nüchterne Geiſt herrſcht, wo die Maſchinen und nicht
mehr die Menſchen den Rhythmus des Geſchehens angeben, wo
die Ruhe, die Stille, die Abgeklärtheit als veraltet und über-
wunden angeſehen werden, wo die Unraſt die Göttin iſt, der
alle zu Füßen liegen, ragt eine Perſönlichkeit wie ein mächtiger
Baum auf einſamer Gipfelhöhe empor, die in dieſen Worten
von der Kunſt ſpricht:

Nützt es der Kunſt, ſie alſo aufzubauſchen,
Als wär allein, was glänzt und gleißt von Golde,
Was lärmt und ſchreit und prahlt mit hohem Solde,
Als wär ſie da, die Menſchheit zu berauſchen?
Das heißt doch ihren echten Sinn vertauſchen!
Denn ſtill und ruhig iſt die Kunſt die holde,
Vom Himmel nicht gemünzt nach ird’ſchem Golde;
Wer recht ſie liebt, muß ihrer Stille lauſchen.
Wie der Natur ſo ſtill iſt auch ihr Bilden,
Sie drängt nicht auf, auch läßt ſie ſich nicht haſchen,
Nur wo ſie will, da iſt ſie auch zu finden.
Was ſoll das Lärmen denn um ſie von Wilden?
Die drängen ſich, um ihre Frucht zu naſchen,
Sie ſprechen von ihr, wie vom Licht die Blinden.

Hoffen wir, daß die Zeiten nicht allzu ferne ſind, da der
Geiſt, die Seele Hans Thomas wieder ein Echo finden im Her-
zen des ganzen Volkes! Dann, und nur dann, werden wir ge-
neſen von dem Siechtum der Gegenwart und zurückkehren zu
den Gärten, die vereinſamt liegen und warten der Stunde, da
die Beſten in ihnen wieder finden den Schatz, deſſen ſtilles
Leuchten herrlicher iſt, denn alle Weisheit dieſer Welt.

Feuilleton
Die Inokulation der Liebe.
Eine Erzählung von Herrn von Thümmel.
An den Herrn Kreisſteuereinnehmer Weiße in Leipzig.*)

(Fortſetzung.)

Dem droht der Ueberdruß vergebens,
Der manchen Ehemann gleich nach der Trau befällt,
Wer die Gefährtin ſeines Lebens
Aus einer Beaumont-Hand erhält;
Der kluge Mann wird nichts vermiſſen.
Ihm bleibt zu weiterm Unterricht
[Spaltenumbruch] Nichts übrig, als die Kunſt, zu küſſen.
O, warum konnte doch die gute Mutter nicht
Soviel als eine Beaumont wiſſen!
Das, was ſie wußte, lehrte ſie:
Sie lehrt’ das Kind erſt reden und dann ſingen
Und wußt’ ihm ohne viele Müh’
Geſchmack am Leſen beizubringen.
Sie wagt’ es ohne Lockverſuch,
Die Unterweiſung abzuändern:
Sie laſen manches gute Buch.
Und wechſelten mit Hauskalendern.
In dieſen Uebungen verfloß
Die lange Zeit von fünfzehn Jahren,
Das Fräulein war nun hübſch und groß.
Empfindlich: aber unerfahren.
Einſt las ſie Zeitungen, und fing von Frankfurt an,
Die ſelt’ne Neuigkeit zu leſen:
„Es ſei Dimsdal, der große Mann,
„Der Blatterimpfer dageweſen.“ —
Drauf, wie man denken kann, drauf fuhr
Die Zeitung fort, die Leſer zu belehren,
Wie viele Mädchen ſchon mit Hilfe ſeiner Kur
Vor dem Verluſt der Reize der Natur
Zu ihrem Troſt geſichert wären.“ —
Ihr Krankheitsbändiger mit tötendem Geſicht,
Ihr habt wohl recht, auf dieſe Kur zu ſchimpfen! —
Auch unſer Mütterchen, das doch ſonſt eben nicht
Schwergläubig war, fing an dabei das Maul zu rümpfen. —
Die Blattern? ſchrie ſie, was? die Blattern einzuimpfen? —
Unmöglich iſt das gut: doch wollt ich, der Bericht
Wär’ wahr! Ich weiß, was ſie mir einſt verdarben.
Auch ich war einſtens ſchön. — Da ſah mich jedermann
Mit freundlichen und güt’gen Augen an:
Doch itzt! — Wie bald iſt es um uns getan?
Bei dieſer Larve voller Narben
Denkt weiter keine Seele dran. —
Das junge Fräulein hört zum erſtenmal erſchrocken
Der Alten zu, und ſieht zugleich in ihr
Mit angſtvoll ſtiller Neubegier,
Ein traurig Monument der fürchterlichen Pocken;
Denn, wie die Pfirſich nichts von ihrer Güte weiß,
Wenn ſie auf der Natur Geheiß
Sich färbt, mit Woll’ umzieht und endlich ſüßgefüllet
Der Lüſternheit entgegenſchwillet:
So war bisher auch Fräulein Karolinen
Ihr eigener Wert noch unbewußt.
Sie tändelte noch nicht mit ihrer Schwanenbruſt
Und dachte nicht daran, durch ſchlaugewählte Mienen
Den Ruhm der Schönheit zu verdienen.
Mit ſich noch unbekannt und kaum von ſich geſeh’n,
War ſie in ſtiller Anmut ſchön.
Doch itzt, da ſie mit ihren feinen Zügen
Der Alten Häßlichkeit verglich;
Itzt, da ihr Geiſt mit heimlichem Vergnügen
Des Körpers Linien beſchlich;
Da ihr geſchärfter Blick mit lüſternem Bedachte
Die neuen Gegenden durchlief:
Fuhr manche Ahndung auf und manche Sorg’ ermachte,
Die ſtill bisher in ihrem Schoße ſchlief. —
So wäre, rief ſie aus mit traurigen Gebärden,
Dies alles nur auf kurze Zeit ſo ſchön?
Dies alles könnte noch ein Raub der Blattern werden?
Und gäb’ es denn kein Mittel auf der Erden,
Der Schönheit Feinden zu entgeh’n? —
Dürft’ ich nur meinen Vater fragen!
Allein ich weiß es ſchon, es rühren meine Klagen
Ihn niemals: denn ſein Kopf iſt nur von Zahlen voll
Und ſtets ſchmählt er auf mich — Es ſei! — man kann ja wohl
Für ſeine Schönheit etwas wagen? —
Der väterliche Troſt war der Erwartung wert.
So heuchleriſch, ſo ſchriftgelehrt,
Als ob er ihn in — — ſtudiert: —
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[185/0007] 16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Woher ich komm’, wohin ich gehe, Weiß ich nicht, Noch, wann alles dies ſoll enden; Bin ſelbſt ein Stück von Gottes Gnad’, Mein Sein Ruht ganz in ſeinen Händen. Gott kenn’ ich nur, weil ich mich ſühl’ Ein Spiegel, Der die Welt erkennet, Ohn’ mich kein Gott, ſo gibt es nichts. Was mein Sein von dem ſeinen trennet. Getroſt ſeh’ ich, wie’s kommt und geht Durch endenloſe Zeiten; Und fahr’ ich hin, ich hör’ wie Gott nie auf; Die Welt hat grenzenloſe Weiten. In dieſen Verſen ſpiegelt ſich die in beſtem Sinne naive Perſönlichkeit Hans Thomas. Mit einem Optimismus, der alles, auch das unſcheinbarſte Ding dieſer Welt zu golden weiß, ſchaut der Meiſter die Wunder dieſer Erde. Ehrfürchtig und doch ſtolz, demütig und doch des eigenen Wertes ſtets bewußt, ſo erſcheint dieſer deutſche Mann, der als Menſch, Künſtler und Dichter in gleicher Weiſe einer Zeit, die zerfahren und zerriſſen iſt wie ſelten eine, Vorbild ſein ſollte. Heute, wo allenthalben der kalte, nüchterne Geiſt herrſcht, wo die Maſchinen und nicht mehr die Menſchen den Rhythmus des Geſchehens angeben, wo die Ruhe, die Stille, die Abgeklärtheit als veraltet und über- wunden angeſehen werden, wo die Unraſt die Göttin iſt, der alle zu Füßen liegen, ragt eine Perſönlichkeit wie ein mächtiger Baum auf einſamer Gipfelhöhe empor, die in dieſen Worten von der Kunſt ſpricht: Nützt es der Kunſt, ſie alſo aufzubauſchen, Als wär allein, was glänzt und gleißt von Golde, Was lärmt und ſchreit und prahlt mit hohem Solde, Als wär ſie da, die Menſchheit zu berauſchen? Das heißt doch ihren echten Sinn vertauſchen! Denn ſtill und ruhig iſt die Kunſt die holde, Vom Himmel nicht gemünzt nach ird’ſchem Golde; Wer recht ſie liebt, muß ihrer Stille lauſchen. Wie der Natur ſo ſtill iſt auch ihr Bilden, Sie drängt nicht auf, auch läßt ſie ſich nicht haſchen, Nur wo ſie will, da iſt ſie auch zu finden. Was ſoll das Lärmen denn um ſie von Wilden? Die drängen ſich, um ihre Frucht zu naſchen, Sie ſprechen von ihr, wie vom Licht die Blinden. Hoffen wir, daß die Zeiten nicht allzu ferne ſind, da der Geiſt, die Seele Hans Thomas wieder ein Echo finden im Her- zen des ganzen Volkes! Dann, und nur dann, werden wir ge- neſen von dem Siechtum der Gegenwart und zurückkehren zu den Gärten, die vereinſamt liegen und warten der Stunde, da die Beſten in ihnen wieder finden den Schatz, deſſen ſtilles Leuchten herrlicher iſt, denn alle Weisheit dieſer Welt. Feuilleton Die Inokulation der Liebe. Eine Erzählung von Herrn von Thümmel. An den Herrn Kreisſteuereinnehmer Weiße in Leipzig.*) (Fortſetzung.) Dem droht der Ueberdruß vergebens, Der manchen Ehemann gleich nach der Trau befällt, Wer die Gefährtin ſeines Lebens Aus einer Beaumont-Hand erhält; Der kluge Mann wird nichts vermiſſen. Ihm bleibt zu weiterm Unterricht Nichts übrig, als die Kunſt, zu küſſen. O, warum konnte doch die gute Mutter nicht Soviel als eine Beaumont wiſſen! Das, was ſie wußte, lehrte ſie: Sie lehrt’ das Kind erſt reden und dann ſingen Und wußt’ ihm ohne viele Müh’ Geſchmack am Leſen beizubringen. Sie wagt’ es ohne Lockverſuch, Die Unterweiſung abzuändern: Sie laſen manches gute Buch. Und wechſelten mit Hauskalendern. In dieſen Uebungen verfloß Die lange Zeit von fünfzehn Jahren, Das Fräulein war nun hübſch und groß. Empfindlich: aber unerfahren. Einſt las ſie Zeitungen, und fing von Frankfurt an, Die ſelt’ne Neuigkeit zu leſen: „Es ſei Dimsdal, der große Mann, „Der Blatterimpfer dageweſen.“ — Drauf, wie man denken kann, drauf fuhr Die Zeitung fort, die Leſer zu belehren, Wie viele Mädchen ſchon mit Hilfe ſeiner Kur Vor dem Verluſt der Reize der Natur Zu ihrem Troſt geſichert wären.“ — Ihr Krankheitsbändiger mit tötendem Geſicht, Ihr habt wohl recht, auf dieſe Kur zu ſchimpfen! — Auch unſer Mütterchen, das doch ſonſt eben nicht Schwergläubig war, fing an dabei das Maul zu rümpfen. — Die Blattern? ſchrie ſie, was? die Blattern einzuimpfen? — Unmöglich iſt das gut: doch wollt ich, der Bericht Wär’ wahr! Ich weiß, was ſie mir einſt verdarben. Auch ich war einſtens ſchön. — Da ſah mich jedermann Mit freundlichen und güt’gen Augen an: Doch itzt! — Wie bald iſt es um uns getan? Bei dieſer Larve voller Narben Denkt weiter keine Seele dran. — Das junge Fräulein hört zum erſtenmal erſchrocken Der Alten zu, und ſieht zugleich in ihr Mit angſtvoll ſtiller Neubegier, Ein traurig Monument der fürchterlichen Pocken; Denn, wie die Pfirſich nichts von ihrer Güte weiß, Wenn ſie auf der Natur Geheiß Sich färbt, mit Woll’ umzieht und endlich ſüßgefüllet Der Lüſternheit entgegenſchwillet: So war bisher auch Fräulein Karolinen Ihr eigener Wert noch unbewußt. Sie tändelte noch nicht mit ihrer Schwanenbruſt Und dachte nicht daran, durch ſchlaugewählte Mienen Den Ruhm der Schönheit zu verdienen. Mit ſich noch unbekannt und kaum von ſich geſeh’n, War ſie in ſtiller Anmut ſchön. Doch itzt, da ſie mit ihren feinen Zügen Der Alten Häßlichkeit verglich; Itzt, da ihr Geiſt mit heimlichem Vergnügen Des Körpers Linien beſchlich; Da ihr geſchärfter Blick mit lüſternem Bedachte Die neuen Gegenden durchlief: Fuhr manche Ahndung auf und manche Sorg’ ermachte, Die ſtill bisher in ihrem Schoße ſchlief. — So wäre, rief ſie aus mit traurigen Gebärden, Dies alles nur auf kurze Zeit ſo ſchön? Dies alles könnte noch ein Raub der Blattern werden? Und gäb’ es denn kein Mittel auf der Erden, Der Schönheit Feinden zu entgeh’n? — Dürft’ ich nur meinen Vater fragen! Allein ich weiß es ſchon, es rühren meine Klagen Ihn niemals: denn ſein Kopf iſt nur von Zahlen voll Und ſtets ſchmählt er auf mich — Es ſei! — man kann ja wohl Für ſeine Schönheit etwas wagen? — Der väterliche Troſt war der Erwartung wert. So heuchleriſch, ſo ſchriftgelehrt, Als ob er ihn in — — ſtudiert: — „Das iſt ein Tor, wer ſeine Schmerzen häuft, Ein Sünder, welcher Gott in ſeine Rechte greift, Ein Böſewicht, — wer ſich inokulieret.“ —

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1920/7>, abgerufen am 23.11.2024.