Allgemeine Zeitung, Nr. 33, 2. Februar 1850.[Spaltenumbruch]
mannes hieselbst veranlaßt, beginnen übrigens schon wieder Gerüchte von Berlin, 29 Jan. Der zweite hiestge Wahlkreis für Erfurt # Berlin, 29 Jan. Die Beendigung unserer sogenannten "ge- [Spaltenumbruch]
mannes hieſelbſt veranlaßt, beginnen übrigens ſchon wieder Gerüchte von ∸ Berlin, 29 Jan. Der zweite hieſtge Wahlkreis für Erfurt □ Berlin, 29 Jan. Die Beendigung unſerer ſogenannten „ge- <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div type="jComment" n="4"> <p><pb facs="#f0004" n="516"/><cb/> mannes hieſelbſt veranlaßt, beginnen übrigens ſchon wieder Gerüchte von<lb/> ſeinem Rücktritt aus der Bundescommiſſion ſich geltend zu machen. Sie<lb/> ſind ganz unbegründet, finden aber Nahrung in der bekannten Thatſache<lb/> daß das Wiener Cabinet beim gegenſeitigen Meinungstauſch über die<lb/> von den beiden Großmächten zu Bundescommiſſarien bezeichneten Perſön-<lb/> lichkeiten zwar die ausgezeichnete Befähigung und alle ſonſtigen vortreff-<lb/> lichen Eigenſchaften des Generals im hohen Grade anerkannt, aber doch<lb/> auch ganz verſtändlich auf ſeinen Oeſterreich principiell widerſprechen den<lb/> Standpunkt in der deutſchen Frage hingedeutet hat. Der öſterreichiſche<lb/> Wink blieb damals unbeachtet; ich habe Grund zu vermuthen daß, wenn er<lb/> erneuert würde, ihm eine gleiche Aufnahme bevorſtände. Jenes Te-<lb/> ſtimonium wäre vielleicht kein unintereſſanter Beitrag für den neueſten<lb/> Biographen v. Radowitz’s geweſen. Ich meine Emil Frensdorf, den Ver-<lb/> faſſer des gediegenen Buches <hi rendition="#aq">sur la Belgique,</hi> ſowie der Biographie Camp-<lb/> hauſens. Seine biographiſche Skizze „Joſeph v. Radowitz“, auf welche ich<lb/> Sie hier beiläufig aufmerkſam machen möchte, iſt wohl der erſte beachtens-<lb/> werthe Verſuch auf thatſächlichem Boden uns die wahre Charakteriſtik<lb/> einer Perſönlichkeit zu geben welche die Schlacken der Tagespreſſe bis zur<lb/> Unkenntlichkeit entſtellt hatten. Der Verfaſſer hatte, wie ich höre, Gele-<lb/> genheit durch Vermittelung eines angeſehenen Abgeordneten von dem<lb/> General ſelbſt Aufſchlüſſe über zweifelhafte Thatſachen zu erhalten, und<lb/> ſich dadurch die Kritik eines wahren Wuſtes von Fictionen zu erleichtern.<lb/> Der Hauptvorzug des Buchs beſteht in einer um ſo mehr anzuerkennenden<lb/> Objectivität, als der Verfaſſer zwar zur Gothaer Partei gehört, ſonſt aber<lb/> in Fragen der innern und äußern Politik als v. Radowitz’s politiſcher<lb/> Gegner zu betrachten iſt. Es iſt unrichtig daß Graf Rechberg, der frü-<lb/> here öſterreichiſche Bevollmächtigte bei der Centralgewalt, ein neues Cre-<lb/> ditiv als Bevollmächtigter bei der Bundescommiſſion erhalten, und deß-<lb/> halb nach Frankfurt zurückgekehrt ſey. Ebenſowenig wird ein preußiſcher<lb/> Bevollmächtigter daſelbſt beglaubigt werden. Von den neuen Verfaſſungs-<lb/> grundlinien der vier Königreiche iſt noch keine, weder officielle noch ver-<lb/> trauliche, Mittheilung hieher erfolgt. Die erſte Kammer wird nun doch<lb/> erſt nach ausführlicher Discuſſion über die Beſchlüſſe der zweiten Kammer<lb/> ſelbſt beſchließen.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="4"> <dateline>∸ <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 29 Jan.</dateline><lb/> <p>Der zweite hieſtge Wahlkreis für Erfurt<lb/> ward heute durch eine eigenthümliche Meldung überraſcht. Die ſtreng<lb/> conſervative Fraction hatte ſich in ihrer Privatverſammlung, erſchreckt<lb/> durch die Nachricht daß auf der conſtitutionellen Seite Heinrich v. Gagern<lb/> viele Ausſicht habe, für einen Candidaten ihrer Färbung in der Perſon<lb/> des Geheimenrathes v. Jordan vereinigt. Die conſtitutionelle ſchwankte<lb/> zwiſchen Gagern und v. Patow. Die Nachricht jener Vereinigung be-<lb/> wog ſie, um auf den Localpatriotismus in ihrer Partei rechnen zu dür-<lb/> fen, von Gagern abzugehen, wie ſchmerzlich dieß auch vielen war, und<lb/> allein auf Hrn. v. Patow ihre ganze Kraft zu werfen. Inzwiſchen war<lb/> die Nachricht gekommen daß auf den ausdrücklichen Wunſch des Königs<lb/> Graf Brandenburg ſeine ſrühern Bedenken aufgegeben, und ſich als Can-<lb/> didat für Berlin mit der Erklärung gemeldet daß es ſein dringender<lb/> Wunſch ſey Berlin in Erfurt zu vertreten, und daß man ſeine Wahl als<lb/> ein Zeichen der Dankbarkeit und loyalen Geſinnung der Berliner anneh-<lb/> men würde. Sofort ward von der Partel ihr Candidat v. Jordan ver-<lb/> laſſen, und ſie ging durch Acclamation (natürlich in ihrer Privatver-<lb/> ſammlung) zum Miniſterpräſidenten über. Bei der Abſtimmung in der<lb/> Geſammtvereinigung der Fractionen heut Abend (im Saal des Schau-<lb/> ſpielhauſes) erhielten außer einigen zerſplitterten, Graf Brandenburg 80,<lb/> Frhr. v. Patow 70 Stimmen. Da viele Wahlmänner fehlten, könnte ſich<lb/> bei der morgenden Vorwahl das Reſultat noch ſehr anders geſtalten,<lb/> wenn dieß nicht ſchon durch eine Rede geſchieht welche Profeſſor Henſel,<lb/> ein Mitvorſtand der conſervativen Vereine, an die Wahlmänner zum<lb/> Schluſſe hielt. Der ungefähre Inhalt war: ein loyaler Berliner könne<lb/> nun nicht in Zweifel ſeyn wem er ſeine Stimme gebe. Wenn es ſich<lb/> ſchon von ſelbſt verſtehe daß ihm die hohe Perſon, der Berlin es verdanke<lb/> daß ſie Wiens Schickſal entgangen, über alle Candidaten gehen müſſe, ſo<lb/> ſey es nach der hohen Weiſung gar nicht mehr Wahl, ſondern ein politi-<lb/> ſcher Staatsact. Wenn der König Berlin würdige durch ſeinen Miniſter-<lb/> präſidenten in Erfurt vertreten zu werden, ſo wäre es unerhört, unglaub-<lb/> lich und gar nicht anzunehmen daß Verlin dieſe Ehre nicht würdigen ſolle.<lb/> Den Grafen Brandenburg nicht wählen heiße ſoviel als ein Proteſt gegen<lb/> das Miniſterium Brandenburg, zu welchem doch niemand aus der conſer-<lb/> vativen Verſammlung ſich bekennen wolle. „Blinder Eifer ſchadet nur,“<lb/> heißt es in der Fabel, ob das hier der Fall ſeyn wird und ob die Wahl-<lb/> männer dieſe Auslegung des freien Wahlrechts werden gelten laſſen,<lb/> ſteht dahin. Die Rede wurde mit Murren und Bravos unterbrochen.<lb/> Sie erinnerte an eine ähnliche im Julius verſuchte Octroyirung, welche<lb/> damals Geheimerath v. Mühler zu Gunſten des Grafen Brandenburg un-<lb/> ternahm, die aber ſo unglücklich ausſchlug daß der Miniſterpräfident ſtei-<lb/><cb/> willig zurücktrat. Gegen die hochehrenwerthe Perſönlichkeit dieſes ritter-<lb/> lichen Charakters wird niemand etwas einwenden, der edle Mann, der<lb/> durch ſeinen Muth und ſeine lovale Hingabe an die Sache ſeines Königs<lb/> und Vaterlandes ſchon ſo große Opfer gebracht, deſſen wohlthätigen Einfluß<lb/> in den Vermittlungen zwiſchen König und Miniſterium jeder anerkennt,<lb/> iſt aber zu bedauern daß übereifrige Freunde ihn in ſo kritiſche Lagen<lb/> bringen, welche ſo hochgeſtellte Männer um jeden Preis vermeiden ſoll-<lb/> ten. Ob die Beſorgniß daß Berlin Heinrich v. Gagern wählen könne<lb/> zu dieſem außergewöhnlichen Verfahren Anlaß geweſen, weiß noch<lb/> niemand.</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="4"> <dateline>□ <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 29 Jan.</dateline><lb/> <p>Die Beendigung unſerer ſogenannten „ge-<lb/> fahrvollen Kriſts“ kann kaum eine Löſung nach irgendeiner Seite hin ge-<lb/> nannt werden! Die halboſſtciellen Organe nennen heut den parlamenta-<lb/> riſchen Kampf der in der Nacht vom 26 auf den 27 d. M. gekämpft wor-<lb/> den, „einen verhängnißvollen,“ aber dieß Verhängniß, welches nach den<lb/> Verſicherungen der miniſteriellen Preſſe ſchon dicht hinter uns geſtanden<lb/> oder das vielleicht auch noch vor uns ſteht, hat weder durch den Sieg auf<lb/> der einen noch durch die Niederlage auf der andern Seite an Räthſelhaf-<lb/> tigkeit etwas verloren. Wenn wir aufrichtig ſeyn wollen, müſſen wir ſa-<lb/> gen daß wir eigentlich gar nicht wiſſen wie uns geſchehen iſt! Die neue<lb/> Befeſtigung des Miniſteriums Brandenburg iſt das klarſte und ſicherſte<lb/> was uns zunächſt aus dem uns umdunkelnden Chaos wieder entgegentritt.<lb/> Das Miniſterium kann ſich indeß nicht verhehlen daß ſein Sieg nicht mit<lb/> einer ſolchen Majorität erfochten worden iſt wie dieſelbe ſonſt, nach der<lb/> rein conſtitutionellen Convenienz, als Prüſſtein für den Beſtand eines<lb/> Cabinets gefordert zu werden pflegt. Der Sieg, der gewonnen und be-<lb/> reits in Beſitz genommen wurde, ſchaukelt ſich auf einer Majorität von<lb/> 12 Stimmen, welche das Amendement Arnim-Boytzenburg zur Annahme<lb/> brachte. Schon während der entſcheidungsvollen Abſtimmung wurde es<lb/> klar daß nur durch den bekannten ſyſtematiſchen Eigenſinn der polniſchen<lb/> Kammer-Mitglieder die Pairie, und mithin der Kern der königlichen Bot-<lb/> ſchaft den Sieg davon tragen würde. Die in der zweiten Kammer befind-<lb/> lichen 14 Polen glaubten auch dießmal der Abſtimmung ſich enthalten zu<lb/> müſſen, weil ſie überhaupt ihren Antheil an der preußiſchen und deutſchen<lb/> Volksvertretung nur ſo weit faſſen als ſie zu einer Demonſtration für die<lb/> ihnen davon abgeſonderte polniſche Nationalſache auf dieſem Wege Gele-<lb/> genheit finden können. Wenn ſie daher in allen den preußiſchen Staat<lb/> betreffenden organiſchen Fragen nicht mitſtimmen, ſo glauben ſie auch<lb/> ſchon durch dieſe bloße Negation ihr nationales Recht zu wahren, denn<lb/> nach ihrer rein principiellen Taktik würden ſie es ſchon zu compromittiren<lb/> meinen wenn ſie gleich den andern preußiſchen Abgeordneten an dem<lb/> neuen Staatsorganismus ſelbſt mitarbeiten. Dieſe polniſche Taktik, de-<lb/> ren innere Zweckmäßigkeit wir hier dahingeſtellt ſeyn laſſen wollen, hat<lb/> die preußiſche Pairiefrage und den Fortbeſtand des Miniſteriums Bran-<lb/> denburg entſchieden. Es werden darüber jetzt ſehr harte, dem polniſchen<lb/> Nationalcharakter ungünſtige Urtheile laut, und man ſcheint namentlich<lb/> im conſtitutionell-liberalen Parteilager geneigt die Polen deßhalb in ei-<lb/> nen Anklagezuſtand bei der öffentlichen Meinung zu verſetzen. Das Mi-<lb/> niſterium ſeinerſeits iſt geneigt die geringe Majorität mit der es aus die-<lb/> ſer Kriſts hervorgegangen, ſich keineswegs ungünſtig zu deuten. Es hat<lb/> inſofern Recht als bei einem Bankerott der ganzen Verfaſſungsurkunde,<lb/> wie er in Ausſicht ſtand, es auf die ſtrenge Einhaltung der conſtitutio-<lb/> nellen Etikette nicht ankommen konnte. Die miniſteriellen Organe ſtellen<lb/> heut die ſtnnreiche Auſicht auf daß die Inſtitution einer erblichen Pairie,<lb/> welche gewiſſermaßen die politiſche Bevorzugung einer „glücklicher ſituir-<lb/> ten Minderheit“ ſey, eigentlich gar nicht recht zum Gegenſtande der Ab-<lb/> ſtimmung einer „minder glücklichen Mehrheit“ gemacht werden könne, ſon-<lb/> dern am beſten von oben herab <hi rendition="#g">geſchaffen</hi> werde. Dieſe höchſt ergötz-<lb/> liche Betrachtung, welche unmittelbar aus dem litjerariſchen Cabinet des<lb/> Miniſteriums geſtoſſen, charakteriſtrt eigentlich am meiſten den Umſchlag<lb/> der Meinungen der bei uns ſeit kurzem ſtattgefunden hat. Mit ähnli-<lb/> chen, faſt ans Sentimentale anſtreifenden Gründen wird man freilich auch<lb/> bald deduciren können daß überhaupt mit der conſtitutionellen Majorität<lb/> nicht zu regieren iſt, und daß es einer ſtarken Regierung bei weitem wür-<lb/> diger ſey ſich auf die ausgeſprochene Minorität zu ſtützen. Niemand kann<lb/> einſehen daß durch die Art und Weiſe wie die königliche Botſchaft mit<lb/> ihren weſentlichſten Vorlagen angenommen worden iſt, das conſtitutionelle<lb/> Princip in Preußen eine Stärkung erfahren habe. Wo das Schickſal ei-<lb/> ner ganzen Staatsorganiſation an einem ſo loſen Faden hing, da darf<lb/> man ſich vielfachen und gerechten Zweifeln auch für die Zukunft über-<lb/> laſſen. Die geheime Geſchichte des Arnim-Boytzenburgiſchen Amende-<lb/> ments ſoll reich an intereſſanten und charakteriſtiſchen Momenten ſeyn.<lb/> Die entſcheidende Taktik des Grafen Arnim beſtand eigentlicb bei dieſem<lb/> Amendement darin daß er den Grafen Schwerin, den Präſidenten der<lb/> zweiten Kammer, zur Mitunterzeichnung und Mitvertretung zu bewegen<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [516/0004]
mannes hieſelbſt veranlaßt, beginnen übrigens ſchon wieder Gerüchte von
ſeinem Rücktritt aus der Bundescommiſſion ſich geltend zu machen. Sie
ſind ganz unbegründet, finden aber Nahrung in der bekannten Thatſache
daß das Wiener Cabinet beim gegenſeitigen Meinungstauſch über die
von den beiden Großmächten zu Bundescommiſſarien bezeichneten Perſön-
lichkeiten zwar die ausgezeichnete Befähigung und alle ſonſtigen vortreff-
lichen Eigenſchaften des Generals im hohen Grade anerkannt, aber doch
auch ganz verſtändlich auf ſeinen Oeſterreich principiell widerſprechen den
Standpunkt in der deutſchen Frage hingedeutet hat. Der öſterreichiſche
Wink blieb damals unbeachtet; ich habe Grund zu vermuthen daß, wenn er
erneuert würde, ihm eine gleiche Aufnahme bevorſtände. Jenes Te-
ſtimonium wäre vielleicht kein unintereſſanter Beitrag für den neueſten
Biographen v. Radowitz’s geweſen. Ich meine Emil Frensdorf, den Ver-
faſſer des gediegenen Buches sur la Belgique, ſowie der Biographie Camp-
hauſens. Seine biographiſche Skizze „Joſeph v. Radowitz“, auf welche ich
Sie hier beiläufig aufmerkſam machen möchte, iſt wohl der erſte beachtens-
werthe Verſuch auf thatſächlichem Boden uns die wahre Charakteriſtik
einer Perſönlichkeit zu geben welche die Schlacken der Tagespreſſe bis zur
Unkenntlichkeit entſtellt hatten. Der Verfaſſer hatte, wie ich höre, Gele-
genheit durch Vermittelung eines angeſehenen Abgeordneten von dem
General ſelbſt Aufſchlüſſe über zweifelhafte Thatſachen zu erhalten, und
ſich dadurch die Kritik eines wahren Wuſtes von Fictionen zu erleichtern.
Der Hauptvorzug des Buchs beſteht in einer um ſo mehr anzuerkennenden
Objectivität, als der Verfaſſer zwar zur Gothaer Partei gehört, ſonſt aber
in Fragen der innern und äußern Politik als v. Radowitz’s politiſcher
Gegner zu betrachten iſt. Es iſt unrichtig daß Graf Rechberg, der frü-
here öſterreichiſche Bevollmächtigte bei der Centralgewalt, ein neues Cre-
ditiv als Bevollmächtigter bei der Bundescommiſſion erhalten, und deß-
halb nach Frankfurt zurückgekehrt ſey. Ebenſowenig wird ein preußiſcher
Bevollmächtigter daſelbſt beglaubigt werden. Von den neuen Verfaſſungs-
grundlinien der vier Königreiche iſt noch keine, weder officielle noch ver-
trauliche, Mittheilung hieher erfolgt. Die erſte Kammer wird nun doch
erſt nach ausführlicher Discuſſion über die Beſchlüſſe der zweiten Kammer
ſelbſt beſchließen.
∸ Berlin, 29 Jan.
Der zweite hieſtge Wahlkreis für Erfurt
ward heute durch eine eigenthümliche Meldung überraſcht. Die ſtreng
conſervative Fraction hatte ſich in ihrer Privatverſammlung, erſchreckt
durch die Nachricht daß auf der conſtitutionellen Seite Heinrich v. Gagern
viele Ausſicht habe, für einen Candidaten ihrer Färbung in der Perſon
des Geheimenrathes v. Jordan vereinigt. Die conſtitutionelle ſchwankte
zwiſchen Gagern und v. Patow. Die Nachricht jener Vereinigung be-
wog ſie, um auf den Localpatriotismus in ihrer Partei rechnen zu dür-
fen, von Gagern abzugehen, wie ſchmerzlich dieß auch vielen war, und
allein auf Hrn. v. Patow ihre ganze Kraft zu werfen. Inzwiſchen war
die Nachricht gekommen daß auf den ausdrücklichen Wunſch des Königs
Graf Brandenburg ſeine ſrühern Bedenken aufgegeben, und ſich als Can-
didat für Berlin mit der Erklärung gemeldet daß es ſein dringender
Wunſch ſey Berlin in Erfurt zu vertreten, und daß man ſeine Wahl als
ein Zeichen der Dankbarkeit und loyalen Geſinnung der Berliner anneh-
men würde. Sofort ward von der Partel ihr Candidat v. Jordan ver-
laſſen, und ſie ging durch Acclamation (natürlich in ihrer Privatver-
ſammlung) zum Miniſterpräſidenten über. Bei der Abſtimmung in der
Geſammtvereinigung der Fractionen heut Abend (im Saal des Schau-
ſpielhauſes) erhielten außer einigen zerſplitterten, Graf Brandenburg 80,
Frhr. v. Patow 70 Stimmen. Da viele Wahlmänner fehlten, könnte ſich
bei der morgenden Vorwahl das Reſultat noch ſehr anders geſtalten,
wenn dieß nicht ſchon durch eine Rede geſchieht welche Profeſſor Henſel,
ein Mitvorſtand der conſervativen Vereine, an die Wahlmänner zum
Schluſſe hielt. Der ungefähre Inhalt war: ein loyaler Berliner könne
nun nicht in Zweifel ſeyn wem er ſeine Stimme gebe. Wenn es ſich
ſchon von ſelbſt verſtehe daß ihm die hohe Perſon, der Berlin es verdanke
daß ſie Wiens Schickſal entgangen, über alle Candidaten gehen müſſe, ſo
ſey es nach der hohen Weiſung gar nicht mehr Wahl, ſondern ein politi-
ſcher Staatsact. Wenn der König Berlin würdige durch ſeinen Miniſter-
präſidenten in Erfurt vertreten zu werden, ſo wäre es unerhört, unglaub-
lich und gar nicht anzunehmen daß Verlin dieſe Ehre nicht würdigen ſolle.
Den Grafen Brandenburg nicht wählen heiße ſoviel als ein Proteſt gegen
das Miniſterium Brandenburg, zu welchem doch niemand aus der conſer-
vativen Verſammlung ſich bekennen wolle. „Blinder Eifer ſchadet nur,“
heißt es in der Fabel, ob das hier der Fall ſeyn wird und ob die Wahl-
männer dieſe Auslegung des freien Wahlrechts werden gelten laſſen,
ſteht dahin. Die Rede wurde mit Murren und Bravos unterbrochen.
Sie erinnerte an eine ähnliche im Julius verſuchte Octroyirung, welche
damals Geheimerath v. Mühler zu Gunſten des Grafen Brandenburg un-
ternahm, die aber ſo unglücklich ausſchlug daß der Miniſterpräfident ſtei-
willig zurücktrat. Gegen die hochehrenwerthe Perſönlichkeit dieſes ritter-
lichen Charakters wird niemand etwas einwenden, der edle Mann, der
durch ſeinen Muth und ſeine lovale Hingabe an die Sache ſeines Königs
und Vaterlandes ſchon ſo große Opfer gebracht, deſſen wohlthätigen Einfluß
in den Vermittlungen zwiſchen König und Miniſterium jeder anerkennt,
iſt aber zu bedauern daß übereifrige Freunde ihn in ſo kritiſche Lagen
bringen, welche ſo hochgeſtellte Männer um jeden Preis vermeiden ſoll-
ten. Ob die Beſorgniß daß Berlin Heinrich v. Gagern wählen könne
zu dieſem außergewöhnlichen Verfahren Anlaß geweſen, weiß noch
niemand.
□ Berlin, 29 Jan.
Die Beendigung unſerer ſogenannten „ge-
fahrvollen Kriſts“ kann kaum eine Löſung nach irgendeiner Seite hin ge-
nannt werden! Die halboſſtciellen Organe nennen heut den parlamenta-
riſchen Kampf der in der Nacht vom 26 auf den 27 d. M. gekämpft wor-
den, „einen verhängnißvollen,“ aber dieß Verhängniß, welches nach den
Verſicherungen der miniſteriellen Preſſe ſchon dicht hinter uns geſtanden
oder das vielleicht auch noch vor uns ſteht, hat weder durch den Sieg auf
der einen noch durch die Niederlage auf der andern Seite an Räthſelhaf-
tigkeit etwas verloren. Wenn wir aufrichtig ſeyn wollen, müſſen wir ſa-
gen daß wir eigentlich gar nicht wiſſen wie uns geſchehen iſt! Die neue
Befeſtigung des Miniſteriums Brandenburg iſt das klarſte und ſicherſte
was uns zunächſt aus dem uns umdunkelnden Chaos wieder entgegentritt.
Das Miniſterium kann ſich indeß nicht verhehlen daß ſein Sieg nicht mit
einer ſolchen Majorität erfochten worden iſt wie dieſelbe ſonſt, nach der
rein conſtitutionellen Convenienz, als Prüſſtein für den Beſtand eines
Cabinets gefordert zu werden pflegt. Der Sieg, der gewonnen und be-
reits in Beſitz genommen wurde, ſchaukelt ſich auf einer Majorität von
12 Stimmen, welche das Amendement Arnim-Boytzenburg zur Annahme
brachte. Schon während der entſcheidungsvollen Abſtimmung wurde es
klar daß nur durch den bekannten ſyſtematiſchen Eigenſinn der polniſchen
Kammer-Mitglieder die Pairie, und mithin der Kern der königlichen Bot-
ſchaft den Sieg davon tragen würde. Die in der zweiten Kammer befind-
lichen 14 Polen glaubten auch dießmal der Abſtimmung ſich enthalten zu
müſſen, weil ſie überhaupt ihren Antheil an der preußiſchen und deutſchen
Volksvertretung nur ſo weit faſſen als ſie zu einer Demonſtration für die
ihnen davon abgeſonderte polniſche Nationalſache auf dieſem Wege Gele-
genheit finden können. Wenn ſie daher in allen den preußiſchen Staat
betreffenden organiſchen Fragen nicht mitſtimmen, ſo glauben ſie auch
ſchon durch dieſe bloße Negation ihr nationales Recht zu wahren, denn
nach ihrer rein principiellen Taktik würden ſie es ſchon zu compromittiren
meinen wenn ſie gleich den andern preußiſchen Abgeordneten an dem
neuen Staatsorganismus ſelbſt mitarbeiten. Dieſe polniſche Taktik, de-
ren innere Zweckmäßigkeit wir hier dahingeſtellt ſeyn laſſen wollen, hat
die preußiſche Pairiefrage und den Fortbeſtand des Miniſteriums Bran-
denburg entſchieden. Es werden darüber jetzt ſehr harte, dem polniſchen
Nationalcharakter ungünſtige Urtheile laut, und man ſcheint namentlich
im conſtitutionell-liberalen Parteilager geneigt die Polen deßhalb in ei-
nen Anklagezuſtand bei der öffentlichen Meinung zu verſetzen. Das Mi-
niſterium ſeinerſeits iſt geneigt die geringe Majorität mit der es aus die-
ſer Kriſts hervorgegangen, ſich keineswegs ungünſtig zu deuten. Es hat
inſofern Recht als bei einem Bankerott der ganzen Verfaſſungsurkunde,
wie er in Ausſicht ſtand, es auf die ſtrenge Einhaltung der conſtitutio-
nellen Etikette nicht ankommen konnte. Die miniſteriellen Organe ſtellen
heut die ſtnnreiche Auſicht auf daß die Inſtitution einer erblichen Pairie,
welche gewiſſermaßen die politiſche Bevorzugung einer „glücklicher ſituir-
ten Minderheit“ ſey, eigentlich gar nicht recht zum Gegenſtande der Ab-
ſtimmung einer „minder glücklichen Mehrheit“ gemacht werden könne, ſon-
dern am beſten von oben herab geſchaffen werde. Dieſe höchſt ergötz-
liche Betrachtung, welche unmittelbar aus dem litjerariſchen Cabinet des
Miniſteriums geſtoſſen, charakteriſtrt eigentlich am meiſten den Umſchlag
der Meinungen der bei uns ſeit kurzem ſtattgefunden hat. Mit ähnli-
chen, faſt ans Sentimentale anſtreifenden Gründen wird man freilich auch
bald deduciren können daß überhaupt mit der conſtitutionellen Majorität
nicht zu regieren iſt, und daß es einer ſtarken Regierung bei weitem wür-
diger ſey ſich auf die ausgeſprochene Minorität zu ſtützen. Niemand kann
einſehen daß durch die Art und Weiſe wie die königliche Botſchaft mit
ihren weſentlichſten Vorlagen angenommen worden iſt, das conſtitutionelle
Princip in Preußen eine Stärkung erfahren habe. Wo das Schickſal ei-
ner ganzen Staatsorganiſation an einem ſo loſen Faden hing, da darf
man ſich vielfachen und gerechten Zweifeln auch für die Zukunft über-
laſſen. Die geheime Geſchichte des Arnim-Boytzenburgiſchen Amende-
ments ſoll reich an intereſſanten und charakteriſtiſchen Momenten ſeyn.
Die entſcheidende Taktik des Grafen Arnim beſtand eigentlicb bei dieſem
Amendement darin daß er den Grafen Schwerin, den Präſidenten der
zweiten Kammer, zur Mitunterzeichnung und Mitvertretung zu bewegen
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(2021-08-16T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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