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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] zu leisten; da wird die Thüre aufgerissen. -- Die Hochher-
zigkeit und der Adel der Gesinnung haben Charles Rofe
nicht abgehalten, zu lauschen oder durch das Schlüsselloch
zu gucken. Die eben vernommenen Worte -- so bricht der
Gast das Schweigen -- hätten ihn früher in ein Meer
von Wonne versenkt, jetzt, seitdem Ella ihm an jenem
Abende geboten, als er um das Bleiben bei dem Heil
seiner Seele gefleht, er möge sich entfernen, jetzt sey das
Geständniß für ihn ohne Werth, er habe seiner Liebe
entsagt. Eine Verbeugung, und William Tailfourd ist ver-
schwunden. Auch ihm sey eine Frau nichts werth, fährt
der Gatte fort, die offen eingestanden, daß sie, obwohl
ihm angetraut, ihre Liebe einem andern zugewendet, sein
Stolz erwache, auch er scheide für immer von Ella. Ein
heiserer, gellender Schrei entringt sich der gequälten Brust
des Weibes, sie stürzt dem forteilenden Gatten nach;
unter dem Rufe: Charles! bricht sie ohnmächtig zu-
sammen.

Der letzte Akt führt uns hinter die Coulissen des
Theaters, auf dem Dido gegeben wird. Das Publikum
hat gezischt, weil es empört ist, daß Ella in dieser Rolle
aufzutreten wagt, dann aber, durch das geniale Spiel
hingerissen, lebhaft applaudirt. Die Schauspielerin wartet
auf ihr Stichwort, verworrene Bilder tauchen in ihr auf,
sie ist entschlossen, sich in der Schlußscene als Dido wirk-
lich den Dolch in die Brust zu bohren. Kemble erräth
ihre Gefühle, er läßt schnell die Scene durch eine andere
Schauspielerin geben, während Ella in der leidenschaft-
lichen Bewegung den Verlauf der Zeit nicht bemerkt. Die
Vorstellung ist beendigt, Kemble, Charles und Tailfourd
erscheinen hinter der Bühne. Was soll ich thun? fragt
Ella. Kemble räth, sie möge sich für alle Zeit der Kunst
weihen, die Kunst werde ihre Schmerzen heilen. "Dort
steht dein Gatte!" ruft der Dichter. Ella wirft sich Charles
in die Arme, der die Weinende innig an die Brust
drückt und sie auffordert, an "dem mondumglänzten Tod-
tenhügel " Frieden zu suchen und Beruhigung. So kom-
men "die Rechte des Herzens" zur Geltung, schließt er;
die Heiligkeit der Ehe bleibe das ficherste Fundament der
Gesellschaft. Tailfourd breitet segnend im Hintergrunde
die Hände gegen die versöhnten Gatten aus.

Gutzkow bewährt in Ella Rose seine alte und mit
Recht gerühmte Gewandtheit in der Exposition. Das Ta-
lent, geschickt und verständig vorzubereiten und zu spannen,
die Aufmerksamkeit und Neugierde des Publikums zu er-
regen, die handelnden Personen in Situationen auftreten
zu lassen, welche neu sind und in wirksamer Weise fesseln,
dieses Vermögen mag zwar wohlfeiler zu erlangen seyn,
als die Kunst, mit dramatischer Kraft große und tiefe
Leidenschaften an Thatsachen zur Anschauung zu bringen
und die Ereignisse zu einer erschütternden Katastrophe zu-
sammenzudrängen; aber dennoch bleibt es ein Verdienst,
und bei unserer Kritik "der Rechte des Herzens" wollen
wir es an die Spitze unseres Urtheils stellen, daß die
Fäden, welche Gutzkow zusammengesponnen, meisterhaft
[Spaltenumbruch] verwoben sind. Freilich ist der Anerkennung sofort ein
Tadel hinzuzufügen. Die Exposition leidet an einer Menge
rein äußerlicher Reizmittel, die weder aus der Natur der
Handlung oder der Charaktere, noch aus den leitenden
poetischen Stimmungen entspringen; die Virtuosität der
Exposition wird zum Theil durch die Virtuosität erkauft,
mit der Gutzkow von rohen Theatereffekten Gebrauch macht.
Nicht allein in der Scenerie und Ornamentik, in den jäh
und bunt wechselnden Gruppirungen, in den großen Ab-
gängen, in der Anwendung von Jnsirumentalmitteln läßt
Gutzkow die Kotzebue, Werner, Birch=Pfeiffer weit hinter
sich; er sucht durch Wortspiele und witzige Antithesen,
öfters auch durch den bloßen sonoren Klang banaler Re-
densarten, durch volltönende Phrasen und Schellen, denen
meist nicht nur die Poesie, auch der Jnhalt mangelt, zu
berauschen. Hieher gehört z. B. der "mondumglänzte
Todtenhügel," an den so oft erinnert wird; ferner
Ellas Deklamation von der Schlange, die mit golde-
ner Krone im grünen Grase spielt, die Abfertigung Tail-
fourds, dem, als er mit Beziehung auf Theseus der
Schauspielerin seine Liebe gestehen will, geantwortet wird,
er möge Theseus ruhen lassen und sich mit der ersten
Sylbe, mit einer Tasse Thee begnügen, worauf er erwie-
dert, ein Glas Tuttifrutti thue es auch u. a. m. Außer-
dem, was schwerer wiegt, erlaubt sich Gutzkow, sehr un-
bekümmert, daß er, indem er die gedankenlose Menge
anzieht, den gebildeten Geschmack in gleichem Grade ver-
letzt, die Fortentwicklung wiederholt durch die Einlage
von Scenen zu retardiren, welche zu dem Tenor des
Ganzen ungefähr in demselben Verhältniß stehen, wie der
Nonnentanz oder der Schlittschuhlauf im Propheten und
Robert dem Teufel. Man nehme belegshalber die fol-
gende Scene. Trübe brennen die Kerzen; Ella erscheint
vom Wirbel bis zur Zehe in tiefste Trauer gehüllt. Weh-
müthig ruht der umflorte Blick auf einem mysteriösen
Paket, das sie in der Rechten hält. Sie drückt dasselbe
krampfhaft an den Busen, heftet Küsse auf dasselbe. Es
sind die Kleider des Todten vom mondumglänzten Hügel.
Eine geschickte Darstellerin der Rolle wird hier applaudirt
werden; aber wir fragen: was soll das Ganze? in wel-
chem nothwendigen Zusammenhang, oder auch nur in
welchem Zusammenhang überhaupt steht die Scene mit dem
übrigen Stück? -- Noch einen zweiten Vorzug hat Ella
Rose mit allen Gutzkow'schen Dramen gemein, ein Vorzug,
mit dem aber wiederum ein Mangel verbunden ist. Der
Charakter der modernen Bildung ist dem Stück unver-
kennbar auf die Stirne geprägt; nirgends haben wir nö-
thig, von gewohnten Vorstellungen und Anschauungen zu
abstrahiren, es sind durchaus moderne Conflikte und Em-
pfindungen, die uns vorgeführt werden, wir sind stets
vollständig zu Hause, überall wohl orientirt. Jndem
aber Gutzkow den vollen und ungetheilten Accent auf
das Moderne, auf die Zustände und Verhältnisse, auf
das Raisonnement, das dialektische Raffinement, die
Sophistik des Tages mit Nachdruck und Bewußtseyn legt,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] zu leisten; da wird die Thüre aufgerissen. — Die Hochher-
zigkeit und der Adel der Gesinnung haben Charles Rofe
nicht abgehalten, zu lauschen oder durch das Schlüsselloch
zu gucken. Die eben vernommenen Worte — so bricht der
Gast das Schweigen — hätten ihn früher in ein Meer
von Wonne versenkt, jetzt, seitdem Ella ihm an jenem
Abende geboten, als er um das Bleiben bei dem Heil
seiner Seele gefleht, er möge sich entfernen, jetzt sey das
Geständniß für ihn ohne Werth, er habe seiner Liebe
entsagt. Eine Verbeugung, und William Tailfourd ist ver-
schwunden. Auch ihm sey eine Frau nichts werth, fährt
der Gatte fort, die offen eingestanden, daß sie, obwohl
ihm angetraut, ihre Liebe einem andern zugewendet, sein
Stolz erwache, auch er scheide für immer von Ella. Ein
heiserer, gellender Schrei entringt sich der gequälten Brust
des Weibes, sie stürzt dem forteilenden Gatten nach;
unter dem Rufe: Charles! bricht sie ohnmächtig zu-
sammen.

Der letzte Akt führt uns hinter die Coulissen des
Theaters, auf dem Dido gegeben wird. Das Publikum
hat gezischt, weil es empört ist, daß Ella in dieser Rolle
aufzutreten wagt, dann aber, durch das geniale Spiel
hingerissen, lebhaft applaudirt. Die Schauspielerin wartet
auf ihr Stichwort, verworrene Bilder tauchen in ihr auf,
sie ist entschlossen, sich in der Schlußscene als Dido wirk-
lich den Dolch in die Brust zu bohren. Kemble erräth
ihre Gefühle, er läßt schnell die Scene durch eine andere
Schauspielerin geben, während Ella in der leidenschaft-
lichen Bewegung den Verlauf der Zeit nicht bemerkt. Die
Vorstellung ist beendigt, Kemble, Charles und Tailfourd
erscheinen hinter der Bühne. Was soll ich thun? fragt
Ella. Kemble räth, sie möge sich für alle Zeit der Kunst
weihen, die Kunst werde ihre Schmerzen heilen. „Dort
steht dein Gatte!“ ruft der Dichter. Ella wirft sich Charles
in die Arme, der die Weinende innig an die Brust
drückt und sie auffordert, an „dem mondumglänzten Tod-
tenhügel “ Frieden zu suchen und Beruhigung. So kom-
men „die Rechte des Herzens“ zur Geltung, schließt er;
die Heiligkeit der Ehe bleibe das ficherste Fundament der
Gesellschaft. Tailfourd breitet segnend im Hintergrunde
die Hände gegen die versöhnten Gatten aus.

Gutzkow bewährt in Ella Rose seine alte und mit
Recht gerühmte Gewandtheit in der Exposition. Das Ta-
lent, geschickt und verständig vorzubereiten und zu spannen,
die Aufmerksamkeit und Neugierde des Publikums zu er-
regen, die handelnden Personen in Situationen auftreten
zu lassen, welche neu sind und in wirksamer Weise fesseln,
dieses Vermögen mag zwar wohlfeiler zu erlangen seyn,
als die Kunst, mit dramatischer Kraft große und tiefe
Leidenschaften an Thatsachen zur Anschauung zu bringen
und die Ereignisse zu einer erschütternden Katastrophe zu-
sammenzudrängen; aber dennoch bleibt es ein Verdienst,
und bei unserer Kritik „der Rechte des Herzens“ wollen
wir es an die Spitze unseres Urtheils stellen, daß die
Fäden, welche Gutzkow zusammengesponnen, meisterhaft
[Spaltenumbruch] verwoben sind. Freilich ist der Anerkennung sofort ein
Tadel hinzuzufügen. Die Exposition leidet an einer Menge
rein äußerlicher Reizmittel, die weder aus der Natur der
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poetischen Stimmungen entspringen; die Virtuosität der
Exposition wird zum Theil durch die Virtuosität erkauft,
mit der Gutzkow von rohen Theatereffekten Gebrauch macht.
Nicht allein in der Scenerie und Ornamentik, in den jäh
und bunt wechselnden Gruppirungen, in den großen Ab-
gängen, in der Anwendung von Jnsirumentalmitteln läßt
Gutzkow die Kotzebue, Werner, Birch=Pfeiffer weit hinter
sich; er sucht durch Wortspiele und witzige Antithesen,
öfters auch durch den bloßen sonoren Klang banaler Re-
densarten, durch volltönende Phrasen und Schellen, denen
meist nicht nur die Poesie, auch der Jnhalt mangelt, zu
berauschen. Hieher gehört z. B. der „mondumglänzte
Todtenhügel,“ an den so oft erinnert wird; ferner
Ellas Deklamation von der Schlange, die mit golde-
ner Krone im grünen Grase spielt, die Abfertigung Tail-
fourds, dem, als er mit Beziehung auf Theseus der
Schauspielerin seine Liebe gestehen will, geantwortet wird,
er möge Theseus ruhen lassen und sich mit der ersten
Sylbe, mit einer Tasse Thee begnügen, worauf er erwie-
dert, ein Glas Tuttifrutti thue es auch u. a. m. Außer-
dem, was schwerer wiegt, erlaubt sich Gutzkow, sehr un-
bekümmert, daß er, indem er die gedankenlose Menge
anzieht, den gebildeten Geschmack in gleichem Grade ver-
letzt, die Fortentwicklung wiederholt durch die Einlage
von Scenen zu retardiren, welche zu dem Tenor des
Ganzen ungefähr in demselben Verhältniß stehen, wie der
Nonnentanz oder der Schlittschuhlauf im Propheten und
Robert dem Teufel. Man nehme belegshalber die fol-
gende Scene. Trübe brennen die Kerzen; Ella erscheint
vom Wirbel bis zur Zehe in tiefste Trauer gehüllt. Weh-
müthig ruht der umflorte Blick auf einem mysteriösen
Paket, das sie in der Rechten hält. Sie drückt dasselbe
krampfhaft an den Busen, heftet Küsse auf dasselbe. Es
sind die Kleider des Todten vom mondumglänzten Hügel.
Eine geschickte Darstellerin der Rolle wird hier applaudirt
werden; aber wir fragen: was soll das Ganze? in wel-
chem nothwendigen Zusammenhang, oder auch nur in
welchem Zusammenhang überhaupt steht die Scene mit dem
übrigen Stück? — Noch einen zweiten Vorzug hat Ella
Rose mit allen Gutzkow'schen Dramen gemein, ein Vorzug,
mit dem aber wiederum ein Mangel verbunden ist. Der
Charakter der modernen Bildung ist dem Stück unver-
kennbar auf die Stirne geprägt; nirgends haben wir nö-
thig, von gewohnten Vorstellungen und Anschauungen zu
abstrahiren, es sind durchaus moderne Conflikte und Em-
pfindungen, die uns vorgeführt werden, wir sind stets
vollständig zu Hause, überall wohl orientirt. Jndem
aber Gutzkow den vollen und ungetheilten Accent auf
das Moderne, auf die Zustände und Verhältnisse, auf
das Raisonnement, das dialektische Raffinement, die
Sophistik des Tages mit Nachdruck und Bewußtseyn legt,
[Ende Spaltensatz]

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Der letzte Akt führt uns hinter die Coulissen des Theaters, auf dem Dido gegeben wird. Das Publikum hat gezischt, weil es empört ist, daß Ella in dieser Rolle aufzutreten wagt, dann aber, durch das geniale Spiel hingerissen, lebhaft applaudirt. Die Schauspielerin wartet auf ihr Stichwort, verworrene Bilder tauchen in ihr auf, sie ist entschlossen, sich in der Schlußscene als Dido wirk- lich den Dolch in die Brust zu bohren. Kemble erräth ihre Gefühle, er läßt schnell die Scene durch eine andere Schauspielerin geben, während Ella in der leidenschaft- lichen Bewegung den Verlauf der Zeit nicht bemerkt. Die Vorstellung ist beendigt, Kemble, Charles und Tailfourd erscheinen hinter der Bühne. Was soll ich thun? fragt Ella. Kemble räth, sie möge sich für alle Zeit der Kunst weihen, die Kunst werde ihre Schmerzen heilen. „Dort steht dein Gatte!“ ruft der Dichter. 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Das Ta- lent, geschickt und verständig vorzubereiten und zu spannen, die Aufmerksamkeit und Neugierde des Publikums zu er- regen, die handelnden Personen in Situationen auftreten zu lassen, welche neu sind und in wirksamer Weise fesseln, dieses Vermögen mag zwar wohlfeiler zu erlangen seyn, als die Kunst, mit dramatischer Kraft große und tiefe Leidenschaften an Thatsachen zur Anschauung zu bringen und die Ereignisse zu einer erschütternden Katastrophe zu- sammenzudrängen; aber dennoch bleibt es ein Verdienst, und bei unserer Kritik „der Rechte des Herzens“ wollen wir es an die Spitze unseres Urtheils stellen, daß die Fäden, welche Gutzkow zusammengesponnen, meisterhaft verwoben sind. Freilich ist der Anerkennung sofort ein Tadel hinzuzufügen. Die Exposition leidet an einer Menge rein äußerlicher Reizmittel, die weder aus der Natur der Handlung oder der Charaktere, noch aus den leitenden poetischen Stimmungen entspringen; die Virtuosität der Exposition wird zum Theil durch die Virtuosität erkauft, mit der Gutzkow von rohen Theatereffekten Gebrauch macht. Nicht allein in der Scenerie und Ornamentik, in den jäh und bunt wechselnden Gruppirungen, in den großen Ab- gängen, in der Anwendung von Jnsirumentalmitteln läßt Gutzkow die Kotzebue, Werner, Birch=Pfeiffer weit hinter sich; er sucht durch Wortspiele und witzige Antithesen, öfters auch durch den bloßen sonoren Klang banaler Re- densarten, durch volltönende Phrasen und Schellen, denen meist nicht nur die Poesie, auch der Jnhalt mangelt, zu berauschen. Hieher gehört z. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/19>, abgerufen am 23.11.2024.