Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.[Beginn Spaltensatz]
hier am Uferrande sind mehr werth als jene stolzen Villen Gegen neun Uhr Morgens hielt das Dampfschiff vor Für die Jsola=Bella hat die Architektur mehr als die Mehr Vergnügen noch gewährte uns das ländliche Boote, welche der Dampfer besorgt, bringen den ( Schluß folgt. ) Verantwortlicher Redakteur: Hauff. [Beginn Spaltensatz]
hier am Uferrande sind mehr werth als jene stolzen Villen Gegen neun Uhr Morgens hielt das Dampfschiff vor Für die Jsola=Bella hat die Architektur mehr als die Mehr Vergnügen noch gewährte uns das ländliche Boote, welche der Dampfer besorgt, bringen den ( Schluß folgt. ) Verantwortlicher Redakteur: Hauff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <p><pb facs="#f0024" n="744"/><fw type="pageNum" place="top">744</fw><cb type="start"/> hier am Uferrande sind mehr werth als jene stolzen Villen<lb/> am Comersee. Aber der Fluch ist doch auch in diesem<lb/> Paradiese. Schon seit fünf Jahren gibt der ganze Hügel-<lb/> zug über Lesa keinen Wein mehr; die Trauben sind krank. </p><lb/> <p>Gegen neun Uhr Morgens hielt das Dampfschiff vor<lb/> Pallanza. Wir hätten ein anderes, das eben vorbei flog,<lb/> nach Arona hin, noch benützen können für die borromei-<lb/> schen Jnseln, an denen es vorbei segelt, zogen indessen<lb/> eine kleine Barke vor. Die ganze Kette vor Dossola lag<lb/> strahlend vor uns, als wir an Jsola Madre landeten,<lb/> zwischen dem ewigen Schnee jener Gipfel, dem ewigen<lb/> Grün dieser Jnseln. Man sieht sich hier plötzlich in den<lb/> Süden gezaubert. Aloen strecken sich uns schon von den<lb/> Felsen entgegen, neben der Sagostaude, und gleich wan-<lb/> deln wir im dichten Schatten von Lorbeer= und Myrthen-<lb/> gebüsch, schauen durch den Rahmen von Pinien und Cy-<lb/> pressen hier von der Terrasse hinaus auf den spiegelnden<lb/> blauen See, der mit dem Himmel eins werden zu wollen<lb/> scheint; dort zwischen exotischen Stämmen auf sammetne<lb/> Rasenflecken voll fremdem Gevögel — um das Paradies<lb/> fertig zu machen — unter tropischer Vegetation jeder<lb/> Art: weiße Pfauen, Perlhühner u. s. w. </p><lb/> <p>Für die Jsola=Bella hat die Architektur mehr als die<lb/> Botanik gethan. Es blieben uns drei Stunden uns den<lb/> » <hi rendition="#aq">palazzo</hi> « zeigen zu lassen, die Familienheiligthümer der<lb/> Borromeen, all die Schildkröt= und Mosaikkästlein, » <hi rendition="#aq">casala<lb/> del trono</hi> « nicht zu vergessen, so wenig als das Schlaf-<lb/> gemach mit dem Baldachin, unter welchem Napoleon den<lb/> Tag vor der Schlacht von Marengo schlief. Die alten<lb/> merkwürdigen Grabmale in der Kapelle, die Grotten un-<lb/> ter dem Schlosse mit ihren abgeschmackten lebensgroßen<lb/> Chinesen unter Glas, die Gärten, welche nun etwas ei-<lb/> genthümlich Phantastisches haben, eben weil sie ganz un-<lb/> berührt gelassen wurden, besonders das hochragende Castel<lb/> mit lauter Götterfiguren und geschnittenen Hecken, die Hallen<lb/> und Grotten voll üppiger Vegetation, der Saal mit le-<lb/> bendiger grüner Decke: es ist ein in die Wellen getauchtes<lb/> großartiges Capriccio. Daneben duftete ein Orangen-<lb/> wäldchen; der Gärtner schnitt uns Camelien ab, und<lb/> rings um den Weg blühten Veilchen und streuten ihre<lb/> Wohlgerüche. Ueberall gaben vorbereitende Arbeiten die<lb/> Ankunft der Herrschaft kund, die man nächstens er-<lb/> wartete. </p><lb/> <p>Mehr Vergnügen noch gewährte uns das ländliche<lb/> Schifferleben am Ufer; die Fischer, die Kinder, die Wei-<lb/> ber, welche Wäsche aufhängen oder, an der Ecke kauernd,<lb/> nähen; eine alte Spinnerin, die unter der trocknenden<lb/><cb n="2"/> Wäsche lustwandelt wie durch Alleen, ihren Rocken in eine<lb/> von der Schulter niederhängende Schlinge gesteckt. Sie<lb/> netzt mit den Lippen, indem sie aus dem glänzenden Rocken<lb/> just keine feinen Fäden zieht — zu Schiffsseilen. Jener<lb/> Junge im nächsten Kahn strickt rittlings auf dem Brette<lb/> an seinem Netze. Wie anmuthig nimmt sich die Dirne<lb/> beim Umwenden ihrer Wäsche am Seile aus — es sey daß<lb/> sie empor hüpft oder ihren Kopf schalkhaft aus den Linnen<lb/> vorstreckt! Zuweilen donnert es über den See, von Minen<lb/> in den ergiebigen Steinbrüchen über Baveno und Pallanza.<lb/> Alle diese Genrestücke betrachteten wir, dicht über der<lb/> Fluth, vom Balkon des kleinen Gasthofs zum Delphin,<lb/> wo die Leute so äußerst gefällig sind und so bescheidene<lb/> Preise machen. Es gäbe nichts Reizenderes, als hier,<lb/> einfach aber gemächlich, einige Wochen zu verleben, und<lb/> wir möchten es unsern Landsleuten zur Villeggiatur em-<lb/> pfehlen. </p><lb/> <p>Boote, welche der Dampfer besorgt, bringen den<lb/> Reisenden auf das sardinische Schiff. Um drei Uhr lan-<lb/> deten wir zu Arona, gerade noch zeitig genug, um uns<lb/> auf der unfern vom Gestade gelegenen Eisenbahn für<lb/> Genua einschreiben zu können. Man pflegt hier erster<lb/> Klasse zu fahren, in rothsammtenen Wagen, Zellensystem.<lb/> Während wir hinfliegen, taucht der See sirenenhaft im-<lb/> mer wieder auf, Monte Rosa, Simplon, die ganze Alpen-<lb/> kette, jetzt schon vom Abend überhaucht. Mir war als<lb/> hätte ich nie etwas so Schönes gesehen, würde nie wieder<lb/> so Schönes sehen. Dabei saß ein vornehmer Herr schlaf-<lb/> nickend und zog mir vor der Landschaft auf der andern<lb/> Seite sämmtliche purpurne Vorhänge vor der Nase zu,<lb/> um ja die goldene Sonne nicht herein zu lassen. Zum<lb/> Glücke löste ihn zu Novara ein anderer ab, ein Piemon-<lb/> tese, der mir das Schlachtfeld zeigt, die nach dem gefalle-<lb/> nen General Perrone genannte Kaserne, Radetzkys Haupt-<lb/> quartier u. s. w. Wie grün diese Erde wieder ist! nur<lb/> daß viele arme Holzkreuzlein auf ihr hingesäet sind, kaum<lb/> aus dem Boden ragend. Hinter Mortara breiten sich<lb/> Reisfelder aus, die man eben zu bauen anfing, und heer-<lb/> weise schaaren sich Maulbeerbäumchen auf den blühenden<lb/> Wiesen, während im Süden der Apennin sein Schneehaupt<lb/> erhob, den nämlichen Berg, durch den die Lokomotive uns<lb/> bald bringen sollte aus der lachenden, rosenduftigen<lb/> Ebene. Mir gegenüber saß eine Dame, welche nicht von<lb/> ihrem Buche aufblickte. Wie kann man bei einem solchen<lb/> Sonnenuntergange über Jtaliens Fluren lesen! Das ist<lb/> fast so arg wie der Mann mit den seidenen Vorhängen. </p><lb/> <cb type="end"/> <p> <hi rendition="#c">( Schluß folgt. )</hi> </p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> <back> <div type="imprint" n="1"> <p> <hi rendition="#c">Verantwortlicher Redakteur: <hi rendition="#g">Hauff.</hi><lb/> Druck der Buchdruckerei der J. G. <hi rendition="#g">Cotta'</hi> schen Buchhandlung in Stuttgart.</hi> </p> </div><lb/> </back> </text> </TEI> [744/0024]
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hier am Uferrande sind mehr werth als jene stolzen Villen
am Comersee. Aber der Fluch ist doch auch in diesem
Paradiese. Schon seit fünf Jahren gibt der ganze Hügel-
zug über Lesa keinen Wein mehr; die Trauben sind krank.
Gegen neun Uhr Morgens hielt das Dampfschiff vor
Pallanza. Wir hätten ein anderes, das eben vorbei flog,
nach Arona hin, noch benützen können für die borromei-
schen Jnseln, an denen es vorbei segelt, zogen indessen
eine kleine Barke vor. Die ganze Kette vor Dossola lag
strahlend vor uns, als wir an Jsola Madre landeten,
zwischen dem ewigen Schnee jener Gipfel, dem ewigen
Grün dieser Jnseln. Man sieht sich hier plötzlich in den
Süden gezaubert. Aloen strecken sich uns schon von den
Felsen entgegen, neben der Sagostaude, und gleich wan-
deln wir im dichten Schatten von Lorbeer= und Myrthen-
gebüsch, schauen durch den Rahmen von Pinien und Cy-
pressen hier von der Terrasse hinaus auf den spiegelnden
blauen See, der mit dem Himmel eins werden zu wollen
scheint; dort zwischen exotischen Stämmen auf sammetne
Rasenflecken voll fremdem Gevögel — um das Paradies
fertig zu machen — unter tropischer Vegetation jeder
Art: weiße Pfauen, Perlhühner u. s. w.
Für die Jsola=Bella hat die Architektur mehr als die
Botanik gethan. Es blieben uns drei Stunden uns den
» palazzo « zeigen zu lassen, die Familienheiligthümer der
Borromeen, all die Schildkröt= und Mosaikkästlein, » casala
del trono « nicht zu vergessen, so wenig als das Schlaf-
gemach mit dem Baldachin, unter welchem Napoleon den
Tag vor der Schlacht von Marengo schlief. Die alten
merkwürdigen Grabmale in der Kapelle, die Grotten un-
ter dem Schlosse mit ihren abgeschmackten lebensgroßen
Chinesen unter Glas, die Gärten, welche nun etwas ei-
genthümlich Phantastisches haben, eben weil sie ganz un-
berührt gelassen wurden, besonders das hochragende Castel
mit lauter Götterfiguren und geschnittenen Hecken, die Hallen
und Grotten voll üppiger Vegetation, der Saal mit le-
bendiger grüner Decke: es ist ein in die Wellen getauchtes
großartiges Capriccio. Daneben duftete ein Orangen-
wäldchen; der Gärtner schnitt uns Camelien ab, und
rings um den Weg blühten Veilchen und streuten ihre
Wohlgerüche. Ueberall gaben vorbereitende Arbeiten die
Ankunft der Herrschaft kund, die man nächstens er-
wartete.
Mehr Vergnügen noch gewährte uns das ländliche
Schifferleben am Ufer; die Fischer, die Kinder, die Wei-
ber, welche Wäsche aufhängen oder, an der Ecke kauernd,
nähen; eine alte Spinnerin, die unter der trocknenden
Wäsche lustwandelt wie durch Alleen, ihren Rocken in eine
von der Schulter niederhängende Schlinge gesteckt. Sie
netzt mit den Lippen, indem sie aus dem glänzenden Rocken
just keine feinen Fäden zieht — zu Schiffsseilen. Jener
Junge im nächsten Kahn strickt rittlings auf dem Brette
an seinem Netze. Wie anmuthig nimmt sich die Dirne
beim Umwenden ihrer Wäsche am Seile aus — es sey daß
sie empor hüpft oder ihren Kopf schalkhaft aus den Linnen
vorstreckt! Zuweilen donnert es über den See, von Minen
in den ergiebigen Steinbrüchen über Baveno und Pallanza.
Alle diese Genrestücke betrachteten wir, dicht über der
Fluth, vom Balkon des kleinen Gasthofs zum Delphin,
wo die Leute so äußerst gefällig sind und so bescheidene
Preise machen. Es gäbe nichts Reizenderes, als hier,
einfach aber gemächlich, einige Wochen zu verleben, und
wir möchten es unsern Landsleuten zur Villeggiatur em-
pfehlen.
Boote, welche der Dampfer besorgt, bringen den
Reisenden auf das sardinische Schiff. Um drei Uhr lan-
deten wir zu Arona, gerade noch zeitig genug, um uns
auf der unfern vom Gestade gelegenen Eisenbahn für
Genua einschreiben zu können. Man pflegt hier erster
Klasse zu fahren, in rothsammtenen Wagen, Zellensystem.
Während wir hinfliegen, taucht der See sirenenhaft im-
mer wieder auf, Monte Rosa, Simplon, die ganze Alpen-
kette, jetzt schon vom Abend überhaucht. Mir war als
hätte ich nie etwas so Schönes gesehen, würde nie wieder
so Schönes sehen. Dabei saß ein vornehmer Herr schlaf-
nickend und zog mir vor der Landschaft auf der andern
Seite sämmtliche purpurne Vorhänge vor der Nase zu,
um ja die goldene Sonne nicht herein zu lassen. Zum
Glücke löste ihn zu Novara ein anderer ab, ein Piemon-
tese, der mir das Schlachtfeld zeigt, die nach dem gefalle-
nen General Perrone genannte Kaserne, Radetzkys Haupt-
quartier u. s. w. Wie grün diese Erde wieder ist! nur
daß viele arme Holzkreuzlein auf ihr hingesäet sind, kaum
aus dem Boden ragend. Hinter Mortara breiten sich
Reisfelder aus, die man eben zu bauen anfing, und heer-
weise schaaren sich Maulbeerbäumchen auf den blühenden
Wiesen, während im Süden der Apennin sein Schneehaupt
erhob, den nämlichen Berg, durch den die Lokomotive uns
bald bringen sollte aus der lachenden, rosenduftigen
Ebene. Mir gegenüber saß eine Dame, welche nicht von
ihrem Buche aufblickte. Wie kann man bei einem solchen
Sonnenuntergange über Jtaliens Fluren lesen! Das ist
fast so arg wie der Mann mit den seidenen Vorhängen.
( Schluß folgt. )
Verantwortlicher Redakteur: Hauff.
Druck der Buchdruckerei der J. G. Cotta' schen Buchhandlung in Stuttgart.
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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung
Weitere Informationen:Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.
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