Menschen, die die Hand des Todes warm gedrückt haben, die ihn, wenn er auf Morgenauen herum¬ geht, friedlich fragen können: "suchest du mich heu¬ "te" -- zur lechzenden Seele, die sich unter dem Zypressenbaum kühlet -- zu den Menschen mit Thränen, mit Träumen, mit Flügeln, zu allen die¬ sen sag' ich: "Verwandte meines Emanuels, euer "Bruder strecket nach euch seine Hand durch die "kürzeste Nacht aus, ergreifet sie, er will von euch "Abschied nehmen!"
Die erhabene Vormitternacht.
Viktor stand aus seinen Träumen, in denen er nichts als Gräber und Trauergerüste für seinen Freund gesehen hatte, wehmüthig auf; aber er faßte beim Morgengruß geheime Hoffnungen, da er ihn ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Aenderun¬ gen in seinen angeblichen Todesmorgen treten sah. Ihm war jetzt blos vor dem Eindruck bange, den die getäuschte Hoffnung des Scheidens auf das schon halb aus dem irdischen Boden gerissene und von Erde entblößte Herz des Geliebten machen würde. Dieser hingegen hielt noch seine Träume fest, denen sogar seine nächtlichen Nahrung gaben; und er sah sehnend in das ungestirnte Blau und berechnete den langen Weg bis zur zwölften Nachtstunde, wo aus dem Himmel die Sterne und der Tod mit seinem
Hesperus. IIl. Th. R
Menſchen, die die Hand des Todes warm gedruͤckt haben, die ihn, wenn er auf Morgenauen herum¬ geht, friedlich fragen koͤnnen: »ſucheſt du mich heu¬ »te» — zur lechzenden Seele, die ſich unter dem Zypreſſenbaum kuͤhlet — zu den Menſchen mit Thraͤnen, mit Traͤumen, mit Fluͤgeln, zu allen die¬ ſen ſag' ich: »Verwandte meines Emanuels, euer »Bruder ſtrecket nach euch ſeine Hand durch die »kuͤrzeſte Nacht aus, ergreifet ſie, er will von euch »Abſchied nehmen!«
Die erhabene Vormitternacht.
Viktor ſtand aus ſeinen Traͤumen, in denen er nichts als Graͤber und Trauergeruͤſte fuͤr ſeinen Freund geſehen hatte, wehmuͤthig auf; aber er faßte beim Morgengruß geheime Hoffnungen, da er ihn ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Aenderun¬ gen in ſeinen angeblichen Todesmorgen treten ſah. Ihm war jetzt blos vor dem Eindruck bange, den die getaͤuſchte Hoffnung des Scheidens auf das ſchon halb aus dem irdiſchen Boden geriſſene und von Erde entbloͤßte Herz des Geliebten machen wuͤrde. Dieſer hingegen hielt noch ſeine Traͤume feſt, denen ſogar ſeine naͤchtlichen Nahrung gaben; und er ſah ſehnend in das ungeſtirnte Blau und berechnete den langen Weg bis zur zwoͤlften Nachtſtunde, wo aus dem Himmel die Sterne und der Tod mit ſeinem
Heſperus. IIl. Th. R
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Menſchen, die die Hand des Todes warm gedruͤckt
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geht, friedlich fragen koͤnnen: »ſucheſt du mich heu¬
»te» — zur lechzenden Seele, die ſich unter dem
Zypreſſenbaum kuͤhlet — zu den Menſchen mit
Thraͤnen, mit Traͤumen, mit Fluͤgeln, zu allen die¬
ſen ſag' ich: »Verwandte meines Emanuels, euer
»Bruder ſtrecket nach euch ſeine Hand durch die
»kuͤrzeſte Nacht aus, ergreifet ſie, er will von euch
»Abſchied nehmen!«
Die erhabene Vormitternacht.
Viktor ſtand aus ſeinen Traͤumen, in denen er
nichts als Graͤber und Trauergeruͤſte fuͤr ſeinen
Freund geſehen hatte, wehmuͤthig auf; aber er faßte
beim Morgengruß geheime Hoffnungen, da er ihn
ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Aenderun¬
gen in ſeinen angeblichen Todesmorgen treten ſah.
Ihm war jetzt blos vor dem Eindruck bange, den
die getaͤuſchte Hoffnung des Scheidens auf das ſchon
halb aus dem irdiſchen Boden geriſſene und von
Erde entbloͤßte Herz des Geliebten machen wuͤrde.
Dieſer hingegen hielt noch ſeine Traͤume feſt, denen
ſogar ſeine naͤchtlichen Nahrung gaben; und er ſah
ſehnend in das ungeſtirnte Blau und berechnete den
langen Weg bis zur zwoͤlften Nachtſtunde, wo aus
dem Himmel die Sterne und der Tod mit ſeinem
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/267>, abgerufen am 23.11.2024.
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