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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
seines Vaters veränderte diesen ganzen Plan. Er
ward im ein und zwanzigsten Jahre mündig, und
zugleich Herr von weitläuftigen Gütern, ohne von
seiner Mutter und dem Hofmeister abzuhangen.
Nun fühlte er, daß er ohne Zügel war. Diese
Freyheit war ihm ganz neu; er wußte sich nicht
darein zu schicken. Die vernünftige Mittelstraße,
zwischen einer pedantischen Sklaverey und einer
ausschweifenden Freyheit, hatte man ihn niemals
kennen gelehrt. Von jener riß er sich mit einer
jugendlichen Wildheit los; in diese stürzte er sich
blindlings. Den Hofmeister jagte er auf eine
schimpfliche Art von sich, und verschwur zugleich
alles, was zur Gelehrsamkeit und zu den schönen
Wissenschaften gehört. Diesen Schwur hielt er
Zeitlebens so heilig, daß er dümmer starb, als er
geboren war. Seine Mutter konnte er nicht lie-
ben; er scheute sich noch immer vor ihr, aber er
flohe sie. Und, da er merkte, daß er sich vor ihr
weiter nicht zu fürchten hatte, so fieng er an, sie
zu verachten, und endlich spottete er ihrer Heilig-
keit auf eine unanständige Weise. Er konnte es
nicht vergessen, daß er zum Gebete so oft geprügelt
worden war. Wie ruhig war er nun, da ihn
niemand weiter dazu zwang! Noch einige Zeit
fuhr er fort, in den gewöhnlichen Stunden zu be-
ten; so wie ein Rad sich noch einige Minuten
durch die Gewalt des letzten Drucks bewegt. Nach
und nach ward er in seiner maschinenmäßigen An-
dacht gleichgültig. Ein übelgewählter Umgang
machte ihn im kurzen leichtsinnig. Die Gesell-

schaft

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
ſeines Vaters veraͤnderte dieſen ganzen Plan. Er
ward im ein und zwanzigſten Jahre muͤndig, und
zugleich Herr von weitlaͤuftigen Guͤtern, ohne von
ſeiner Mutter und dem Hofmeiſter abzuhangen.
Nun fuͤhlte er, daß er ohne Zuͤgel war. Dieſe
Freyheit war ihm ganz neu; er wußte ſich nicht
darein zu ſchicken. Die vernuͤnftige Mittelſtraße,
zwiſchen einer pedantiſchen Sklaverey und einer
ausſchweifenden Freyheit, hatte man ihn niemals
kennen gelehrt. Von jener riß er ſich mit einer
jugendlichen Wildheit los; in dieſe ſtuͤrzte er ſich
blindlings. Den Hofmeiſter jagte er auf eine
ſchimpfliche Art von ſich, und verſchwur zugleich
alles, was zur Gelehrſamkeit und zu den ſchoͤnen
Wiſſenſchaften gehoͤrt. Dieſen Schwur hielt er
Zeitlebens ſo heilig, daß er duͤmmer ſtarb, als er
geboren war. Seine Mutter konnte er nicht lie-
ben; er ſcheute ſich noch immer vor ihr, aber er
flohe ſie. Und, da er merkte, daß er ſich vor ihr
weiter nicht zu fuͤrchten hatte, ſo fieng er an, ſie
zu verachten, und endlich ſpottete er ihrer Heilig-
keit auf eine unanſtaͤndige Weiſe. Er konnte es
nicht vergeſſen, daß er zum Gebete ſo oft gepruͤgelt
worden war. Wie ruhig war er nun, da ihn
niemand weiter dazu zwang! Noch einige Zeit
fuhr er fort, in den gewoͤhnlichen Stunden zu be-
ten; ſo wie ein Rad ſich noch einige Minuten
durch die Gewalt des letzten Drucks bewegt. Nach
und nach ward er in ſeiner maſchinenmaͤßigen An-
dacht gleichguͤltig. Ein uͤbelgewaͤhlter Umgang
machte ihn im kurzen leichtſinnig. Die Geſell-

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[143/0165] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. ſeines Vaters veraͤnderte dieſen ganzen Plan. Er ward im ein und zwanzigſten Jahre muͤndig, und zugleich Herr von weitlaͤuftigen Guͤtern, ohne von ſeiner Mutter und dem Hofmeiſter abzuhangen. Nun fuͤhlte er, daß er ohne Zuͤgel war. Dieſe Freyheit war ihm ganz neu; er wußte ſich nicht darein zu ſchicken. Die vernuͤnftige Mittelſtraße, zwiſchen einer pedantiſchen Sklaverey und einer ausſchweifenden Freyheit, hatte man ihn niemals kennen gelehrt. Von jener riß er ſich mit einer jugendlichen Wildheit los; in dieſe ſtuͤrzte er ſich blindlings. Den Hofmeiſter jagte er auf eine ſchimpfliche Art von ſich, und verſchwur zugleich alles, was zur Gelehrſamkeit und zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften gehoͤrt. Dieſen Schwur hielt er Zeitlebens ſo heilig, daß er duͤmmer ſtarb, als er geboren war. Seine Mutter konnte er nicht lie- ben; er ſcheute ſich noch immer vor ihr, aber er flohe ſie. Und, da er merkte, daß er ſich vor ihr weiter nicht zu fuͤrchten hatte, ſo fieng er an, ſie zu verachten, und endlich ſpottete er ihrer Heilig- keit auf eine unanſtaͤndige Weiſe. Er konnte es nicht vergeſſen, daß er zum Gebete ſo oft gepruͤgelt worden war. Wie ruhig war er nun, da ihn niemand weiter dazu zwang! Noch einige Zeit fuhr er fort, in den gewoͤhnlichen Stunden zu be- ten; ſo wie ein Rad ſich noch einige Minuten durch die Gewalt des letzten Drucks bewegt. Nach und nach ward er in ſeiner maſchinenmaͤßigen An- dacht gleichguͤltig. Ein uͤbelgewaͤhlter Umgang machte ihn im kurzen leichtſinnig. Die Geſell- ſchaft

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/165>, abgerufen am 23.11.2024.