Jch habe diesen Morgen an dem gewöhnli- chen Orte einen Brief von ihm gefunden. Jch glaube, daß es eine Antwort auf mein letztes Schreiben vom Freytage ist, das ich erst am Sonnabend hingelegt habe. Jch habe ihn aber noch nicht erbrochen, denn ich will erst abwar- ten, was mein neues Anerbieten wircket.
Wenn ich nur den Mann nicht nehmen darf, den ich hasse, so will auch gern dem entsagen, den ich sonst vorziehen könnte. Wenn ich auch wircklich eine Neigung zu ihm hätte, wie Sie noch immer meinen, so würde dieses Entsagen doch nur mit einem kurtzen und vorübergehen- den Berdruß verknüpft seyn, der mit der Zeit und bey mehrerem Verstande von selbst verflie- gen würde. Ein solches Opfer ist ein Kind sei- nen Eltern und seinen Freunden schuldig, wenn sie es begehren. Allein das andre, nehmlich einen Mann zu nehmen, der einem unerträglich ist, ist nicht allein in Absicht auf den Mann schändlich, sondern kan auch aus einer, die den Vorsatz hat, eine gute Frau zu seyn, eine schlimme oder sehr mittelmäßige Frau machen, wie ich an Herrn Solmes selbst geschrieben habe. Und alsdenn wird sie gewiß ihrem Hau- se nicht wohl vorstehen, sie wird keine treue Freundin seyn, sie wird ihrer Familie Schande machen, und andern ein böses Exempel geben.
Da mir jetzt der Ausgang noch zweiffelhafft ist, so habe ich Lust, diesen Brief gleich für Sie niederzulegen, damit Sie nach dessen Durchle-
sung
Die Geſchichte
Jch habe dieſen Morgen an dem gewoͤhnli- chen Orte einen Brief von ihm gefunden. Jch glaube, daß es eine Antwort auf mein letztes Schreiben vom Freytage iſt, das ich erſt am Sonnabend hingelegt habe. Jch habe ihn aber noch nicht erbrochen, denn ich will erſt abwar- ten, was mein neues Anerbieten wircket.
Wenn ich nur den Mann nicht nehmen darf, den ich haſſe, ſo will auch gern dem entſagen, den ich ſonſt vorziehen koͤnnte. Wenn ich auch wircklich eine Neigung zu ihm haͤtte, wie Sie noch immer meinen, ſo wuͤrde dieſes Entſagen doch nur mit einem kurtzen und voruͤbergehen- den Berdruß verknuͤpft ſeyn, der mit der Zeit und bey mehrerem Verſtande von ſelbſt verflie- gen wuͤrde. Ein ſolches Opfer iſt ein Kind ſei- nen Eltern und ſeinen Freunden ſchuldig, wenn ſie es begehren. Allein das andre, nehmlich einen Mann zu nehmen, der einem unertraͤglich iſt, iſt nicht allein in Abſicht auf den Mann ſchaͤndlich, ſondern kan auch aus einer, die den Vorſatz hat, eine gute Frau zu ſeyn, eine ſchlimme oder ſehr mittelmaͤßige Frau machen, wie ich an Herrn Solmes ſelbſt geſchrieben habe. Und alsdenn wird ſie gewiß ihrem Hau- ſe nicht wohl vorſtehen, ſie wird keine treue Freundin ſeyn, ſie wird ihrer Familie Schande machen, und andern ein boͤſes Exempel geben.
Da mir jetzt der Ausgang noch zweiffelhafft iſt, ſo habe ich Luſt, dieſen Brief gleich fuͤr Sie niederzulegen, damit Sie nach deſſen Durchle-
ſung
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0158"n="152"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Die Geſchichte</hi></hi></fw><lb/><p>Jch habe dieſen Morgen an dem gewoͤhnli-<lb/>
chen Orte einen Brief von ihm gefunden. Jch<lb/>
glaube, daß es eine Antwort auf mein letztes<lb/>
Schreiben vom Freytage iſt, das ich erſt am<lb/>
Sonnabend hingelegt habe. Jch habe ihn aber<lb/>
noch nicht erbrochen, denn ich will erſt abwar-<lb/>
ten, was mein neues Anerbieten wircket.</p><lb/><p>Wenn ich nur den Mann nicht nehmen darf,<lb/>
den ich haſſe, ſo will auch gern dem entſagen,<lb/>
den ich ſonſt vorziehen koͤnnte. Wenn ich auch<lb/>
wircklich eine Neigung zu ihm haͤtte, wie Sie<lb/>
noch immer meinen, ſo wuͤrde dieſes Entſagen<lb/>
doch nur mit einem kurtzen und voruͤbergehen-<lb/>
den Berdruß verknuͤpft ſeyn, der mit der Zeit<lb/>
und bey mehrerem Verſtande von ſelbſt verflie-<lb/>
gen wuͤrde. Ein ſolches Opfer iſt ein Kind ſei-<lb/>
nen Eltern und ſeinen Freunden ſchuldig, wenn<lb/>ſie es begehren. Allein das andre, nehmlich<lb/>
einen Mann zu nehmen, der einem unertraͤglich<lb/>
iſt, iſt nicht allein in Abſicht auf den Mann<lb/>ſchaͤndlich, ſondern kan auch aus einer, die den<lb/>
Vorſatz hat, eine gute Frau zu ſeyn, eine<lb/>ſchlimme oder ſehr mittelmaͤßige Frau machen,<lb/>
wie ich an Herrn <hirendition="#fr">Solmes</hi>ſelbſt geſchrieben<lb/>
habe. Und alsdenn wird ſie gewiß ihrem Hau-<lb/>ſe nicht wohl vorſtehen, ſie wird keine treue<lb/>
Freundin ſeyn, ſie wird ihrer Familie Schande<lb/>
machen, und andern ein boͤſes Exempel geben.</p><lb/><p>Da mir jetzt der Ausgang noch zweiffelhafft<lb/>
iſt, ſo habe ich Luſt, dieſen Brief gleich fuͤr Sie<lb/>
niederzulegen, damit Sie nach deſſen Durchle-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſung</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[152/0158]
Die Geſchichte
Jch habe dieſen Morgen an dem gewoͤhnli-
chen Orte einen Brief von ihm gefunden. Jch
glaube, daß es eine Antwort auf mein letztes
Schreiben vom Freytage iſt, das ich erſt am
Sonnabend hingelegt habe. Jch habe ihn aber
noch nicht erbrochen, denn ich will erſt abwar-
ten, was mein neues Anerbieten wircket.
Wenn ich nur den Mann nicht nehmen darf,
den ich haſſe, ſo will auch gern dem entſagen,
den ich ſonſt vorziehen koͤnnte. Wenn ich auch
wircklich eine Neigung zu ihm haͤtte, wie Sie
noch immer meinen, ſo wuͤrde dieſes Entſagen
doch nur mit einem kurtzen und voruͤbergehen-
den Berdruß verknuͤpft ſeyn, der mit der Zeit
und bey mehrerem Verſtande von ſelbſt verflie-
gen wuͤrde. Ein ſolches Opfer iſt ein Kind ſei-
nen Eltern und ſeinen Freunden ſchuldig, wenn
ſie es begehren. Allein das andre, nehmlich
einen Mann zu nehmen, der einem unertraͤglich
iſt, iſt nicht allein in Abſicht auf den Mann
ſchaͤndlich, ſondern kan auch aus einer, die den
Vorſatz hat, eine gute Frau zu ſeyn, eine
ſchlimme oder ſehr mittelmaͤßige Frau machen,
wie ich an Herrn Solmes ſelbſt geſchrieben
habe. Und alsdenn wird ſie gewiß ihrem Hau-
ſe nicht wohl vorſtehen, ſie wird keine treue
Freundin ſeyn, ſie wird ihrer Familie Schande
machen, und andern ein boͤſes Exempel geben.
Da mir jetzt der Ausgang noch zweiffelhafft
iſt, ſo habe ich Luſt, dieſen Brief gleich fuͤr Sie
niederzulegen, damit Sie nach deſſen Durchle-
ſung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/158>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.