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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld
in der Stimme: "Ist es denn immer noch nicht Zeit,
Fräulein Rottenmeier?"

Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeits¬
tisch und stickte. Sie hatte eine geheimnißvolle Hülle um
sich, einen großen Kragen oder Halbmantel, welcher der
Persönlichkeit einen feierlichen Anstrich verlieh, der noch
erhöht wurde durch eine Art von hochgebauter Kuppel, die
sie auf dem Kopfe trug. Fräulein Rottenmeier war schon
seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des Hauses ge¬
storben war, im Hause Sesemann, führte die Wirthschaft
und hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.

Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ
daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit
der Bedingung, daß sein Töchterchen in Allem eine Stimme
haben solle und Nichts gegen seinen Wunsch geschehen
dürfe.

Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen
der Ungeduld Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit
noch nicht da sei, da die Erwarteten erscheinen konnten, stand
unten vor der Hausthüre die Dete mit Heidi an der Hand
und fragte den Kutscher Johann, der eben vom Wagen ge¬
stiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät noch
stören dürfe.

"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher;
"klingeln Sie den Sebastian herunter, drinnen im Corridor."

kaum ungeduldig wurde, ſagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld
in der Stimme: „Iſt es denn immer noch nicht Zeit,
Fräulein Rottenmeier?“

Die Letztere ſaß ſehr aufrecht an einem kleinen Arbeits¬
tiſch und ſtickte. Sie hatte eine geheimnißvolle Hülle um
ſich, einen großen Kragen oder Halbmantel, welcher der
Perſönlichkeit einen feierlichen Anſtrich verlieh, der noch
erhöht wurde durch eine Art von hochgebauter Kuppel, die
ſie auf dem Kopfe trug. Fräulein Rottenmeier war ſchon
ſeit mehreren Jahren, ſeitdem die Dame des Hauſes ge¬
ſtorben war, im Hauſe Seſemann, führte die Wirthſchaft
und hatte die Oberaufſicht über das ganze Dienſtperſonal.

Herr Seſemann war meiſtens auf Reiſen, überließ
daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit
der Bedingung, daß ſein Töchterchen in Allem eine Stimme
haben ſolle und Nichts gegen ſeinen Wunſch geſchehen
dürfe.

Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen
der Ungeduld Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit
noch nicht da ſei, da die Erwarteten erſcheinen konnten, ſtand
unten vor der Hausthüre die Dete mit Heidi an der Hand
und fragte den Kutſcher Johann, der eben vom Wagen ge¬
ſtiegen war, ob ſie wohl Fräulein Rottenmeier ſo ſpät noch
ſtören dürfe.

„Das iſt nicht meine Sache“, brummte der Kutſcher;
„klingeln Sie den Sebaſtian herunter, drinnen im Corridor.“

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[90/0100] kaum ungeduldig wurde, ſagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: „Iſt es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?“ Die Letztere ſaß ſehr aufrecht an einem kleinen Arbeits¬ tiſch und ſtickte. Sie hatte eine geheimnißvolle Hülle um ſich, einen großen Kragen oder Halbmantel, welcher der Perſönlichkeit einen feierlichen Anſtrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art von hochgebauter Kuppel, die ſie auf dem Kopfe trug. Fräulein Rottenmeier war ſchon ſeit mehreren Jahren, ſeitdem die Dame des Hauſes ge¬ ſtorben war, im Hauſe Seſemann, führte die Wirthſchaft und hatte die Oberaufſicht über das ganze Dienſtperſonal. Herr Seſemann war meiſtens auf Reiſen, überließ daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, daß ſein Töchterchen in Allem eine Stimme haben ſolle und Nichts gegen ſeinen Wunſch geſchehen dürfe. Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da ſei, da die Erwarteten erſcheinen konnten, ſtand unten vor der Hausthüre die Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutſcher Johann, der eben vom Wagen ge¬ ſtiegen war, ob ſie wohl Fräulein Rottenmeier ſo ſpät noch ſtören dürfe. „Das iſt nicht meine Sache“, brummte der Kutſcher; „klingeln Sie den Sebaſtian herunter, drinnen im Corridor.“

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/100>, abgerufen am 23.11.2024.