Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

wanderungswesens zwei Stadien durchgemacht hat und daher auch zwei
ganz verschiedene Gesichtspunkte darbietet.

I. Der erste Standpunkt der Theorie ist der, den wir bereits in
der vorigen Epoche siegreich gegen das polizeiliche Recht zum Durchbruche
gelangen sehen. Es ist die Vertretung der, allerdings nur negativen,
rechtlichen Freiheit der Auswanderung. Die Grundsätze, welche schon
Berg und andere aufstellen, gelangen zur vollen Anerkennung; die
Theorie ist sich einig, daß gesetzliche Verbote unzulässig seien. Was
Bentham, Des recompenses et des peines bei Roscher (§. 256)
sagt, hat, wie wir gesehen, ein Menschenalter zuvor schon Justi viel
besser ausgesprochen, selbst Jacobs (Polizeigesetzgebung, §. 96) spricht
sich genau in derselben Weise aus; und Hallers Zugeständniß für die
Auswanderungsfreiheit (Restauration der Staatswissenschaft I. 429 und
508) ist ein Beweis, daß die freiere Anschauung unwiderstehlich ge-
worden ist. Dagegen verliert die neue Staatswissenschaft den recht-
lichen
Gesichtspunkt ganz aus den Augen und spricht nur vom popu-
lationistischen. Berg ist wieder der letzte, der denselben festzuhalten
versteht, und darin ist er im Grunde der Ausdruck des Geistes, der sich
in den neuern Gesetzen Bahn bricht. "Es ist billig, daß keinem Unter-
thanen verstattet werde, ohne Vorwissen des Staats auszuwandern
-- doch darf ihnen ohne rechtliche Ursachen die Entlassung nicht versagt
werden," was namentlich Seidensticker aus den bestehenden Rechten
als gemeingültigen Grundsatz bewies (De jure emigrandi ex moribus
Germanorum jure communi et legibus imperii constituto,
1788). Es
kam demnach nur noch darauf an, die Vorschriften des öffentlichen
Rechts zu bezeichnen, welche dieß Verhältniß juristisch ordnen sollten.
Und hier läßt uns plötzlich die Theorie im Stich und übergibt diese
Frage gänzlich der Gesetzgebung, während sie sich in ziemlich allge-
meinen Bemerkungen der populationistischen Seite der Frage zuwendet.
Diese Richtung ward ihr wiederum namentlich durch Malthus und
durch das Gefühl der neuen Gestalt der gesellschaftlichen Gegensätze
gegeben, wie sie sich in unserm Jahrhundert entwickeln. Wir haben
sie bereits bezeichnet. Die staatsbürgerliche Gesellschaft erzeugt die
Ordnung, welche die Vertheilung des Besitzes gibt. Sie hat daher
keine andere Ordnung, als die der drei Classen, und das ist äußerlich
ihr wesentlicher Unterschied von den früheren Gesellschaftsordnungen.
Andererseits beruht sie auf dem, für alle Classen gleich gültigen Grund-
satz, daß das Staatsbürgerthum für alle ein gleiches Recht auf gleiche
Stellung in der gesellschaftlichen Ordnung enthalte. Der Gegensatz,
der in diesen Elementen liegt, erscheint nun äußerlich als die Gefahr
der Uebervölkerung, und wir haben deßhalb schon oben gesagt, daß

wanderungsweſens zwei Stadien durchgemacht hat und daher auch zwei
ganz verſchiedene Geſichtspunkte darbietet.

I. Der erſte Standpunkt der Theorie iſt der, den wir bereits in
der vorigen Epoche ſiegreich gegen das polizeiliche Recht zum Durchbruche
gelangen ſehen. Es iſt die Vertretung der, allerdings nur negativen,
rechtlichen Freiheit der Auswanderung. Die Grundſätze, welche ſchon
Berg und andere aufſtellen, gelangen zur vollen Anerkennung; die
Theorie iſt ſich einig, daß geſetzliche Verbote unzuläſſig ſeien. Was
Bentham, Des récompenses et des peines bei Roſcher (§. 256)
ſagt, hat, wie wir geſehen, ein Menſchenalter zuvor ſchon Juſti viel
beſſer ausgeſprochen, ſelbſt Jacobs (Polizeigeſetzgebung, §. 96) ſpricht
ſich genau in derſelben Weiſe aus; und Hallers Zugeſtändniß für die
Auswanderungsfreiheit (Reſtauration der Staatswiſſenſchaft I. 429 und
508) iſt ein Beweis, daß die freiere Anſchauung unwiderſtehlich ge-
worden iſt. Dagegen verliert die neue Staatswiſſenſchaft den recht-
lichen
Geſichtspunkt ganz aus den Augen und ſpricht nur vom popu-
lationiſtiſchen. Berg iſt wieder der letzte, der denſelben feſtzuhalten
verſteht, und darin iſt er im Grunde der Ausdruck des Geiſtes, der ſich
in den neuern Geſetzen Bahn bricht. „Es iſt billig, daß keinem Unter-
thanen verſtattet werde, ohne Vorwiſſen des Staats auszuwandern
— doch darf ihnen ohne rechtliche Urſachen die Entlaſſung nicht verſagt
werden,“ was namentlich Seidenſticker aus den beſtehenden Rechten
als gemeingültigen Grundſatz bewies (De jure emigrandi ex moribus
Germanorum jure communi et legibus imperii constituto,
1788). Es
kam demnach nur noch darauf an, die Vorſchriften des öffentlichen
Rechts zu bezeichnen, welche dieß Verhältniß juriſtiſch ordnen ſollten.
Und hier läßt uns plötzlich die Theorie im Stich und übergibt dieſe
Frage gänzlich der Geſetzgebung, während ſie ſich in ziemlich allge-
meinen Bemerkungen der populationiſtiſchen Seite der Frage zuwendet.
Dieſe Richtung ward ihr wiederum namentlich durch Malthus und
durch das Gefühl der neuen Geſtalt der geſellſchaftlichen Gegenſätze
gegeben, wie ſie ſich in unſerm Jahrhundert entwickeln. Wir haben
ſie bereits bezeichnet. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erzeugt die
Ordnung, welche die Vertheilung des Beſitzes gibt. Sie hat daher
keine andere Ordnung, als die der drei Claſſen, und das iſt äußerlich
ihr weſentlicher Unterſchied von den früheren Geſellſchaftsordnungen.
Andererſeits beruht ſie auf dem, für alle Claſſen gleich gültigen Grund-
ſatz, daß das Staatsbürgerthum für alle ein gleiches Recht auf gleiche
Stellung in der geſellſchaftlichen Ordnung enthalte. Der Gegenſatz,
der in dieſen Elementen liegt, erſcheint nun äußerlich als die Gefahr
der Uebervölkerung, und wir haben deßhalb ſchon oben geſagt, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0224" n="202"/>
wanderungswe&#x017F;ens zwei Stadien durchgemacht hat und daher auch zwei<lb/>
ganz ver&#x017F;chiedene Ge&#x017F;ichtspunkte darbietet.</p><lb/>
                      <p><hi rendition="#aq">I.</hi> Der <hi rendition="#g">er&#x017F;te</hi> Standpunkt der Theorie i&#x017F;t der, den wir bereits in<lb/>
der vorigen Epoche &#x017F;iegreich gegen das polizeiliche Recht zum Durchbruche<lb/>
gelangen &#x017F;ehen. Es i&#x017F;t die Vertretung der, allerdings nur negativen,<lb/><hi rendition="#g">rechtlichen</hi> Freiheit der Auswanderung. Die Grund&#x017F;ätze, welche &#x017F;chon<lb/><hi rendition="#g">Berg</hi> und andere auf&#x017F;tellen, gelangen zur vollen Anerkennung; die<lb/>
Theorie i&#x017F;t &#x017F;ich einig, daß ge&#x017F;etzliche <hi rendition="#g">Verbote</hi> unzulä&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;eien. Was<lb/><hi rendition="#g">Bentham</hi>, <hi rendition="#aq">Des récompenses et des peines</hi> bei <hi rendition="#g">Ro&#x017F;cher</hi> (§. 256)<lb/>
&#x017F;agt, hat, wie wir ge&#x017F;ehen, ein Men&#x017F;chenalter zuvor &#x017F;chon <hi rendition="#g">Ju&#x017F;ti</hi> viel<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er ausge&#x017F;prochen, &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">Jacobs</hi> (Polizeige&#x017F;etzgebung, §. 96) &#x017F;pricht<lb/>
&#x017F;ich genau in der&#x017F;elben Wei&#x017F;e aus; und <hi rendition="#g">Hallers</hi> Zuge&#x017F;tändniß für die<lb/>
Auswanderungsfreiheit (Re&#x017F;tauration der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft <hi rendition="#aq">I.</hi> 429 und<lb/>
508) i&#x017F;t ein Beweis, daß die freiere An&#x017F;chauung unwider&#x017F;tehlich ge-<lb/>
worden i&#x017F;t. Dagegen verliert die neue Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft den <hi rendition="#g">recht-<lb/>
lichen</hi> Ge&#x017F;ichtspunkt ganz aus den Augen und &#x017F;pricht nur vom popu-<lb/>
lationi&#x017F;ti&#x017F;chen. <hi rendition="#g">Berg</hi> i&#x017F;t wieder der letzte, der den&#x017F;elben fe&#x017F;tzuhalten<lb/>
ver&#x017F;teht, und darin i&#x017F;t er im Grunde der Ausdruck des Gei&#x017F;tes, der &#x017F;ich<lb/>
in den neuern Ge&#x017F;etzen Bahn bricht. &#x201E;Es i&#x017F;t billig, daß keinem Unter-<lb/>
thanen ver&#x017F;tattet werde, <hi rendition="#g">ohne Vorwi&#x017F;&#x017F;en</hi> des Staats auszuwandern<lb/>
&#x2014; doch darf ihnen ohne rechtliche Ur&#x017F;achen die Entla&#x017F;&#x017F;ung nicht ver&#x017F;agt<lb/>
werden,&#x201C; was namentlich <hi rendition="#g">Seiden&#x017F;ticker</hi> aus den be&#x017F;tehenden Rechten<lb/>
als gemeingültigen Grund&#x017F;atz bewies (<hi rendition="#aq">De jure emigrandi ex moribus<lb/>
Germanorum jure communi et legibus imperii constituto,</hi> 1788). Es<lb/>
kam demnach nur noch darauf an, die Vor&#x017F;chriften des öffentlichen<lb/>
Rechts zu bezeichnen, welche dieß Verhältniß juri&#x017F;ti&#x017F;ch ordnen &#x017F;ollten.<lb/>
Und hier läßt uns plötzlich die Theorie im Stich und übergibt die&#x017F;e<lb/>
Frage gänzlich der Ge&#x017F;etzgebung, während &#x017F;ie &#x017F;ich in ziemlich allge-<lb/>
meinen Bemerkungen der populationi&#x017F;ti&#x017F;chen Seite der Frage zuwendet.<lb/>
Die&#x017F;e Richtung ward ihr wiederum namentlich durch <hi rendition="#g">Malthus</hi> und<lb/>
durch das Gefühl der neuen Ge&#x017F;talt der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Gegen&#x017F;ätze<lb/>
gegeben, wie &#x017F;ie &#x017F;ich in un&#x017F;erm Jahrhundert entwickeln. Wir haben<lb/>
&#x017F;ie bereits bezeichnet. Die &#x017F;taatsbürgerliche Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft erzeugt die<lb/>
Ordnung, welche die Vertheilung des Be&#x017F;itzes gibt. Sie hat daher<lb/>
keine andere Ordnung, als die der drei Cla&#x017F;&#x017F;en, und das i&#x017F;t äußerlich<lb/>
ihr we&#x017F;entlicher Unter&#x017F;chied von den früheren Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnungen.<lb/>
Anderer&#x017F;eits beruht &#x017F;ie auf dem, für alle Cla&#x017F;&#x017F;en gleich gültigen Grund-<lb/>
&#x017F;atz, daß das Staatsbürgerthum für alle ein gleiches Recht auf gleiche<lb/>
Stellung in der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Ordnung enthalte. Der Gegen&#x017F;atz,<lb/>
der in die&#x017F;en Elementen liegt, er&#x017F;cheint nun äußerlich als die Gefahr<lb/>
der <hi rendition="#g">Uebervölkerung</hi>, und wir haben deßhalb &#x017F;chon oben ge&#x017F;agt, daß<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0224] wanderungsweſens zwei Stadien durchgemacht hat und daher auch zwei ganz verſchiedene Geſichtspunkte darbietet. I. Der erſte Standpunkt der Theorie iſt der, den wir bereits in der vorigen Epoche ſiegreich gegen das polizeiliche Recht zum Durchbruche gelangen ſehen. Es iſt die Vertretung der, allerdings nur negativen, rechtlichen Freiheit der Auswanderung. Die Grundſätze, welche ſchon Berg und andere aufſtellen, gelangen zur vollen Anerkennung; die Theorie iſt ſich einig, daß geſetzliche Verbote unzuläſſig ſeien. Was Bentham, Des récompenses et des peines bei Roſcher (§. 256) ſagt, hat, wie wir geſehen, ein Menſchenalter zuvor ſchon Juſti viel beſſer ausgeſprochen, ſelbſt Jacobs (Polizeigeſetzgebung, §. 96) ſpricht ſich genau in derſelben Weiſe aus; und Hallers Zugeſtändniß für die Auswanderungsfreiheit (Reſtauration der Staatswiſſenſchaft I. 429 und 508) iſt ein Beweis, daß die freiere Anſchauung unwiderſtehlich ge- worden iſt. Dagegen verliert die neue Staatswiſſenſchaft den recht- lichen Geſichtspunkt ganz aus den Augen und ſpricht nur vom popu- lationiſtiſchen. Berg iſt wieder der letzte, der denſelben feſtzuhalten verſteht, und darin iſt er im Grunde der Ausdruck des Geiſtes, der ſich in den neuern Geſetzen Bahn bricht. „Es iſt billig, daß keinem Unter- thanen verſtattet werde, ohne Vorwiſſen des Staats auszuwandern — doch darf ihnen ohne rechtliche Urſachen die Entlaſſung nicht verſagt werden,“ was namentlich Seidenſticker aus den beſtehenden Rechten als gemeingültigen Grundſatz bewies (De jure emigrandi ex moribus Germanorum jure communi et legibus imperii constituto, 1788). Es kam demnach nur noch darauf an, die Vorſchriften des öffentlichen Rechts zu bezeichnen, welche dieß Verhältniß juriſtiſch ordnen ſollten. Und hier läßt uns plötzlich die Theorie im Stich und übergibt dieſe Frage gänzlich der Geſetzgebung, während ſie ſich in ziemlich allge- meinen Bemerkungen der populationiſtiſchen Seite der Frage zuwendet. Dieſe Richtung ward ihr wiederum namentlich durch Malthus und durch das Gefühl der neuen Geſtalt der geſellſchaftlichen Gegenſätze gegeben, wie ſie ſich in unſerm Jahrhundert entwickeln. Wir haben ſie bereits bezeichnet. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erzeugt die Ordnung, welche die Vertheilung des Beſitzes gibt. Sie hat daher keine andere Ordnung, als die der drei Claſſen, und das iſt äußerlich ihr weſentlicher Unterſchied von den früheren Geſellſchaftsordnungen. Andererſeits beruht ſie auf dem, für alle Claſſen gleich gültigen Grund- ſatz, daß das Staatsbürgerthum für alle ein gleiches Recht auf gleiche Stellung in der geſellſchaftlichen Ordnung enthalte. Der Gegenſatz, der in dieſen Elementen liegt, erſcheint nun äußerlich als die Gefahr der Uebervölkerung, und wir haben deßhalb ſchon oben geſagt, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/224
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/224>, abgerufen am 23.11.2024.