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Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

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Verdienste, die der gerechte Mann, der einmal das zum dringenden Bedürfniß gewordene Buch über die Volkspoesie in den Alpen schreiben wird, jedenfalls zu der ihnen gebührenden Anerkennung bringen muß.

Die Zillerthaler also sangen schon lange Zeit, ehe Joseph Rainer zu Leipzig auf den Gedanken verfiel, ihre Alpenlieder in die große Welt zu tragen. Diese unermeßliche Erweiterung des Publicums blieb aber nicht ohne Rückwirkung auf den Gesang selbst. Zu der Zeit nämlich, als die Geschwister Rainer auf Reisen gingen, war der Schnaderhaggen fast die einzige Form, in welcher sich die Volkspoesie erging. Jetzt aber fand man, daß im jodelnden Kunstgesang der vierzeilige Satz nicht ausreichte - er war schlechterdings zu kurz und die Verbindung unzusammenhängender Strophen schien aus ästhetischen Gründen nicht zu rechtfertigen. Man bemühte sich nun längere Lieder zu finden, von der Art, daß sich am Schlusse jedes "Gesatzels" ein Jodler anhängen ließ. So sind eine Anzahl Lieder in den Bereich des Alpengesanges gezogen worden, die ursprünglich kaum dafür berechnet waren oder die von studirten Volksfreunden verfaßt wurden. Hie und da versuchte auch ein Aelpler seine Gefühle in längern Gedichten auszuhauchen und den Landsleuten zu brauchbaren Texten zu verhelfen, wie wir das von dem Schullehrer zu Finkenberg wissen. So ergibt sich denn, daß das Meiste, was jetzt im Auslande gesungen wird, eigens, für diesen Zweck gemacht wurde. Das alte, einheimische Volkslied von der Bürgal, welches im zweiten Bande des Sammlers mitgetheilt ist, dasselbe, welches sich Lewald angeblich wieder von Maria, der schönen Duxerin, vorsingen ließ, ist schon längst vergessen.

Ueber die Schnaderhaggen oder Schnaderhüpfel die man im Zillerthale und in Dux schlechtweg Liedeln und G'sangeln nennt, enthält derselbe Band des Sammlers einen gutgeschriebenen Aufsatz, dessen ausgiebige Benützung wir uns wenig zu Gewissen nehmen, weil der Verfasser J. Strolz noch ein andres Zillerthal vor Augen hatte, als wir es kennen. Er erzählt uns wie diese G'sangeln zuvörderst beim öffentlichen Tanze erklangen, und um dieß recht aufzufassen, müssen wir uns

Verdienste, die der gerechte Mann, der einmal das zum dringenden Bedürfniß gewordene Buch über die Volkspoesie in den Alpen schreiben wird, jedenfalls zu der ihnen gebührenden Anerkennung bringen muß.

Die Zillerthaler also sangen schon lange Zeit, ehe Joseph Rainer zu Leipzig auf den Gedanken verfiel, ihre Alpenlieder in die große Welt zu tragen. Diese unermeßliche Erweiterung des Publicums blieb aber nicht ohne Rückwirkung auf den Gesang selbst. Zu der Zeit nämlich, als die Geschwister Rainer auf Reisen gingen, war der Schnaderhaggen fast die einzige Form, in welcher sich die Volkspoesie erging. Jetzt aber fand man, daß im jodelnden Kunstgesang der vierzeilige Satz nicht ausreichte – er war schlechterdings zu kurz und die Verbindung unzusammenhängender Strophen schien aus ästhetischen Gründen nicht zu rechtfertigen. Man bemühte sich nun längere Lieder zu finden, von der Art, daß sich am Schlusse jedes „Gesatzels“ ein Jodler anhängen ließ. So sind eine Anzahl Lieder in den Bereich des Alpengesanges gezogen worden, die ursprünglich kaum dafür berechnet waren oder die von studirten Volksfreunden verfaßt wurden. Hie und da versuchte auch ein Aelpler seine Gefühle in längern Gedichten auszuhauchen und den Landsleuten zu brauchbaren Texten zu verhelfen, wie wir das von dem Schullehrer zu Finkenberg wissen. So ergibt sich denn, daß das Meiste, was jetzt im Auslande gesungen wird, eigens, für diesen Zweck gemacht wurde. Das alte, einheimische Volkslied von der Bürgal, welches im zweiten Bande des Sammlers mitgetheilt ist, dasselbe, welches sich Lewald angeblich wieder von Maria, der schönen Duxerin, vorsingen ließ, ist schon längst vergessen.

Ueber die Schnaderhaggen oder Schnaderhüpfel die man im Zillerthale und in Dux schlechtweg Liedeln und G’sangeln nennt, enthält derselbe Band des Sammlers einen gutgeschriebenen Aufsatz, dessen ausgiebige Benützung wir uns wenig zu Gewissen nehmen, weil der Verfasser J. Strolz noch ein andres Zillerthal vor Augen hatte, als wir es kennen. Er erzählt uns wie diese G’sangeln zuvörderst beim öffentlichen Tanze erklangen, und um dieß recht aufzufassen, müssen wir uns

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[561/0565] Verdienste, die der gerechte Mann, der einmal das zum dringenden Bedürfniß gewordene Buch über die Volkspoesie in den Alpen schreiben wird, jedenfalls zu der ihnen gebührenden Anerkennung bringen muß. Die Zillerthaler also sangen schon lange Zeit, ehe Joseph Rainer zu Leipzig auf den Gedanken verfiel, ihre Alpenlieder in die große Welt zu tragen. Diese unermeßliche Erweiterung des Publicums blieb aber nicht ohne Rückwirkung auf den Gesang selbst. Zu der Zeit nämlich, als die Geschwister Rainer auf Reisen gingen, war der Schnaderhaggen fast die einzige Form, in welcher sich die Volkspoesie erging. Jetzt aber fand man, daß im jodelnden Kunstgesang der vierzeilige Satz nicht ausreichte – er war schlechterdings zu kurz und die Verbindung unzusammenhängender Strophen schien aus ästhetischen Gründen nicht zu rechtfertigen. Man bemühte sich nun längere Lieder zu finden, von der Art, daß sich am Schlusse jedes „Gesatzels“ ein Jodler anhängen ließ. So sind eine Anzahl Lieder in den Bereich des Alpengesanges gezogen worden, die ursprünglich kaum dafür berechnet waren oder die von studirten Volksfreunden verfaßt wurden. Hie und da versuchte auch ein Aelpler seine Gefühle in längern Gedichten auszuhauchen und den Landsleuten zu brauchbaren Texten zu verhelfen, wie wir das von dem Schullehrer zu Finkenberg wissen. So ergibt sich denn, daß das Meiste, was jetzt im Auslande gesungen wird, eigens, für diesen Zweck gemacht wurde. Das alte, einheimische Volkslied von der Bürgal, welches im zweiten Bande des Sammlers mitgetheilt ist, dasselbe, welches sich Lewald angeblich wieder von Maria, der schönen Duxerin, vorsingen ließ, ist schon längst vergessen. Ueber die Schnaderhaggen oder Schnaderhüpfel die man im Zillerthale und in Dux schlechtweg Liedeln und G’sangeln nennt, enthält derselbe Band des Sammlers einen gutgeschriebenen Aufsatz, dessen ausgiebige Benützung wir uns wenig zu Gewissen nehmen, weil der Verfasser J. Strolz noch ein andres Zillerthal vor Augen hatte, als wir es kennen. Er erzählt uns wie diese G’sangeln zuvörderst beim öffentlichen Tanze erklangen, und um dieß recht aufzufassen, müssen wir uns

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Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/565>, abgerufen am 23.11.2024.