alles andere Gedankengewürm verschlingt. Es windet sich frei¬ lich jeder Wurm, sie aber zermalmt ihn in allen "Wendungen".
Ich bin kein Gegner der Kritik, d. h. Ich bin kein Dog¬ matiker, und fühle Mich von dem Zahne des Kritikers, womit er den Dogmatiker zerfleischt, nicht getroffen. Wäre Ich ein "Dogmatiker", so stellte Ich ein Dogma, d. h. einen Gedan¬ ken, eine Idee, ein Princip obenan, und vollendete dieß als "Systematiker", indem Ich's zu einem System, d. h. einem Gedankenbau ausspönne. Wäre Ich umgekehrt ein Kritiker, nämlich ein Gegner des Dogmatikers, so führte Ich den Kampf des freien Denkens gegen den knechtenden Gedanken, verthei¬ digte das Denken gegen das Gedachte. Ich bin aber weder der Champion eines Gedankens, noch der des Denkens; denn "Ich", von dem Ich ausgehe, bin weder ein Gedanke, noch bestehe Ich im Denken. An Mir, dem Unnennbaren, zersplit¬ tert das Reich der Gedanken, des Denkens und des Geistes.
Die Kritik ist der Kampf des Besessenen gegen die Be¬ sessenheit als solche, gegen alle Besessenheit, ein Kampf, der in dem Bewußtsein begründet ist, daß überall Besessenheit oder, wie es der Kritiker nennt, religiöses und theologisches Ver¬ hältniß vorhanden ist. Er weiß, daß man nicht bloß gegen Gott, sondern ebenso gegen andere Ideen, wie Recht, Staat, Gesetz u.s.w. sich religiös oder gläubig verhält, d. h. er er¬ kennt die Besessenheit aller Orten. So will er durch das Denken die Gedanken auflösen, Ich aber sage, nur die Ge¬ dankenlosigkeit rettet Mich wirklich vor den Gedanken. Nicht das Denken, sondern meine Gedankenlosigkeit oder Ich, der Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Besessenheit.
Ein Ruck thut Mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab,
alles andere Gedankengewürm verſchlingt. Es windet ſich frei¬ lich jeder Wurm, ſie aber zermalmt ihn in allen „Wendungen“.
Ich bin kein Gegner der Kritik, d. h. Ich bin kein Dog¬ matiker, und fühle Mich von dem Zahne des Kritikers, womit er den Dogmatiker zerfleiſcht, nicht getroffen. Wäre Ich ein „Dogmatiker“, ſo ſtellte Ich ein Dogma, d. h. einen Gedan¬ ken, eine Idee, ein Princip obenan, und vollendete dieß als „Syſtematiker“, indem Ich's zu einem Syſtem, d. h. einem Gedankenbau ausſpönne. Wäre Ich umgekehrt ein Kritiker, nämlich ein Gegner des Dogmatikers, ſo führte Ich den Kampf des freien Denkens gegen den knechtenden Gedanken, verthei¬ digte das Denken gegen das Gedachte. Ich bin aber weder der Champion eines Gedankens, noch der des Denkens; denn „Ich“, von dem Ich ausgehe, bin weder ein Gedanke, noch beſtehe Ich im Denken. An Mir, dem Unnennbaren, zerſplit¬ tert das Reich der Gedanken, des Denkens und des Geiſtes.
Die Kritik iſt der Kampf des Beſeſſenen gegen die Be¬ ſeſſenheit als ſolche, gegen alle Beſeſſenheit, ein Kampf, der in dem Bewußtſein begründet iſt, daß überall Beſeſſenheit oder, wie es der Kritiker nennt, religiöſes und theologiſches Ver¬ hältniß vorhanden iſt. Er weiß, daß man nicht bloß gegen Gott, ſondern ebenſo gegen andere Ideen, wie Recht, Staat, Geſetz u.ſ.w. ſich religiös oder gläubig verhält, d. h. er er¬ kennt die Beſeſſenheit aller Orten. So will er durch das Denken die Gedanken auflöſen, Ich aber ſage, nur die Ge¬ dankenloſigkeit rettet Mich wirklich vor den Gedanken. Nicht das Denken, ſondern meine Gedankenloſigkeit oder Ich, der Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Beſeſſenheit.
Ein Ruck thut Mir die Dienſte des ſorglichſten Denkens, ein Recken der Glieder ſchüttelt die Qual der Gedanken ab,
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alles andere Gedankengewürm verſchlingt. Es windet ſich frei¬
lich jeder Wurm, ſie aber zermalmt ihn in allen „Wendungen“.
Ich bin kein Gegner der Kritik, d. h. Ich bin kein Dog¬
matiker, und fühle Mich von dem Zahne des Kritikers, womit
er den Dogmatiker zerfleiſcht, nicht getroffen. Wäre Ich ein
„Dogmatiker“, ſo ſtellte Ich ein Dogma, d. h. einen Gedan¬
ken, eine Idee, ein Princip obenan, und vollendete dieß als
„Syſtematiker“, indem Ich's zu einem Syſtem, d. h. einem
Gedankenbau ausſpönne. Wäre Ich umgekehrt ein Kritiker,
nämlich ein Gegner des Dogmatikers, ſo führte Ich den Kampf
des freien Denkens gegen den knechtenden Gedanken, verthei¬
digte das Denken gegen das Gedachte. Ich bin aber weder
der Champion eines Gedankens, noch der des Denkens; denn
„Ich“, von dem Ich ausgehe, bin weder ein Gedanke, noch
beſtehe Ich im Denken. An Mir, dem Unnennbaren, zerſplit¬
tert das Reich der Gedanken, des Denkens und des Geiſtes.
Die Kritik iſt der Kampf des Beſeſſenen gegen die Be¬
ſeſſenheit als ſolche, gegen alle Beſeſſenheit, ein Kampf, der in
dem Bewußtſein begründet iſt, daß überall Beſeſſenheit oder,
wie es der Kritiker nennt, religiöſes und theologiſches Ver¬
hältniß vorhanden iſt. Er weiß, daß man nicht bloß gegen
Gott, ſondern ebenſo gegen andere Ideen, wie Recht, Staat,
Geſetz u.ſ.w. ſich religiös oder gläubig verhält, d. h. er er¬
kennt die Beſeſſenheit aller Orten. So will er durch das
Denken die Gedanken auflöſen, Ich aber ſage, nur die Ge¬
dankenloſigkeit rettet Mich wirklich vor den Gedanken. Nicht
das Denken, ſondern meine Gedankenloſigkeit oder Ich, der
Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Beſeſſenheit.
Ein Ruck thut Mir die Dienſte des ſorglichſten Denkens,
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/204>, abgerufen am 23.11.2024.
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