Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Dreyzehnte Betrachtung. Welchen vielfachen unmenschlichen Frevel mußtest Dein Antlitz verspeyen sie! Vielleicht standen dich
Dreyzehnte Betrachtung. Welchen vielfachen unmenſchlichen Frevel mußteſt Dein Antlitz verſpeyen ſie! Vielleicht ſtanden dich
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0084" n="62"/> <fw place="top" type="header">Dreyzehnte Betrachtung.</fw><lb/> <p>Welchen vielfachen unmenſchlichen Frevel mußteſt<lb/> du, mein Jeſus, erdulden! Alle Umſtände vereinigen<lb/> ſich, dir deine Schmach zu vermehren. Der roheſte Haufe<lb/> niederträchtiger Menſchen erlaubt es ſich, dich auf die un-<lb/> erhörteſte Art zu mißhandeln. Denn was kann Mißhand-<lb/> lung ſeyn, wenn es dieſes nicht iſt, einen Unſchuldigen ins<lb/> Angeſicht zu verſpeyen — ihn mit Fäuſten zu ſchlagen —<lb/> ihn zum Gelächter und Spott darzuſtellen? Und dis tha-<lb/> ten dieſe Böſewichter an dir, du Unſchuldigſter, Beſter al-<lb/> ler Menſchenkinder!</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Dein Antlitz verſpeyen ſie!</hi> Vielleicht ſtanden<lb/> noch geronnene Blutstropfen auf demſelben: vielleicht ward<lb/> noch aus allen Zügen der tiefe Schmerz kenntlich, den du<lb/> in Gethſemane empfunden hatteſt. Wenigſtens blickte<lb/> aus allen Zügen deines Antlitzes die leutſeligſte Sanft-<lb/> muth, die aufrichtigſte Menſchenliebe und der ſtärkſte<lb/> Gram hervor. Und dis alles konnte das Herz der Ruch-<lb/> loſen nicht gewinnen? — <hi rendition="#fr">Sie ſchlagen dich mit Fäu-<lb/> ſten!</hi> Dich ſchlagen ſie, der du nie einen Menſchen be-<lb/> leidiget, nie etwas Strafwürdiges verübet, nie anders, als<lb/> ein Wohlthäter der Menſchen, gehandelt hatteſt. Und<lb/> noch iſt ihr Muthwillen nicht zu Ende — <hi rendition="#fr">Sie ſpotten<lb/> deines heiligen Amtes.</hi> Sie treiben das grauſamſte<lb/> Spiel mit dir, indem ſie dein Angeſicht bedecken, und<lb/> dich auffordern, daß du als ein Prophet entdecken ſolleſt,<lb/> wer der ſey, der jetzt ſeinen Muthwillen an dir verübet ha-<lb/> be — Wie? wenn du nun deinen Mund geöfnet hätteſt,<lb/> dieſen Böſewichtern ihren Untergang zu weiſſagen? Aber<lb/> du trugſt mit unbeſchreiblicher Gelaſſenheit dieſen Frevel:<lb/> botſt freywillig dein Angeſicht dem Speichel und deinen<lb/> Rücken den Schlägen dar. Was machte dich ſo bereit-<lb/> willig, alle dieſe Leiden zu übernehmen? Die Liebe zu den<lb/> Sündern, und die Unſchuld deines Herzens, ſtärkten<lb/> <fw place="bottom" type="catch">dich</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [62/0084]
Dreyzehnte Betrachtung.
Welchen vielfachen unmenſchlichen Frevel mußteſt
du, mein Jeſus, erdulden! Alle Umſtände vereinigen
ſich, dir deine Schmach zu vermehren. Der roheſte Haufe
niederträchtiger Menſchen erlaubt es ſich, dich auf die un-
erhörteſte Art zu mißhandeln. Denn was kann Mißhand-
lung ſeyn, wenn es dieſes nicht iſt, einen Unſchuldigen ins
Angeſicht zu verſpeyen — ihn mit Fäuſten zu ſchlagen —
ihn zum Gelächter und Spott darzuſtellen? Und dis tha-
ten dieſe Böſewichter an dir, du Unſchuldigſter, Beſter al-
ler Menſchenkinder!
Dein Antlitz verſpeyen ſie! Vielleicht ſtanden
noch geronnene Blutstropfen auf demſelben: vielleicht ward
noch aus allen Zügen der tiefe Schmerz kenntlich, den du
in Gethſemane empfunden hatteſt. Wenigſtens blickte
aus allen Zügen deines Antlitzes die leutſeligſte Sanft-
muth, die aufrichtigſte Menſchenliebe und der ſtärkſte
Gram hervor. Und dis alles konnte das Herz der Ruch-
loſen nicht gewinnen? — Sie ſchlagen dich mit Fäu-
ſten! Dich ſchlagen ſie, der du nie einen Menſchen be-
leidiget, nie etwas Strafwürdiges verübet, nie anders, als
ein Wohlthäter der Menſchen, gehandelt hatteſt. Und
noch iſt ihr Muthwillen nicht zu Ende — Sie ſpotten
deines heiligen Amtes. Sie treiben das grauſamſte
Spiel mit dir, indem ſie dein Angeſicht bedecken, und
dich auffordern, daß du als ein Prophet entdecken ſolleſt,
wer der ſey, der jetzt ſeinen Muthwillen an dir verübet ha-
be — Wie? wenn du nun deinen Mund geöfnet hätteſt,
dieſen Böſewichtern ihren Untergang zu weiſſagen? Aber
du trugſt mit unbeſchreiblicher Gelaſſenheit dieſen Frevel:
botſt freywillig dein Angeſicht dem Speichel und deinen
Rücken den Schlägen dar. Was machte dich ſo bereit-
willig, alle dieſe Leiden zu übernehmen? Die Liebe zu den
Sündern, und die Unſchuld deines Herzens, ſtärkten
dich
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