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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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All
ähnliches. Die vollkommenste Allegorie, die au-
ßer der Sinnlichkeit verschiedene ästhetische Kräfte
vereiniget, bierhet sich einem scharfsinnigen Beob-
achter der Natur an, der nicht blos bey dem
äußerlichen stehen bleibt, sondern in das unsicht-
bare der Körperwelt eindringen kann. Dieses
Studium ist also dem Dichter bestens zu empfeh-
len. Die neuern Geschichtschreiber der Natur ha-
ben den unermeßlichen Schauplaz derselben uns
in einer Ordnung und Klarheit vor Augen ge-
legt, die den Alten unbekannt gewesen. Aber
nur philosophische Dichter können auf diesem
Feld erndten, und ihnen wird es nicht schwer in
diesem Stük die Alten weit zu übertreffen. Ein
(*) Herr
Meyer
von Kno-
nau.
neuerer Fabeldichter (*) ist durch dieses Mittel
in einer so sehr bearbeiteten Gattung noch ein
Original worden. Aber unsere Odendichter ha-
ben wahrhaftig diese Quelle noch nicht recht ge-
nutzet.

Die Sitten und Gebräuche sind fürnehmlich
die Quelle, woraus die leichtere Gattung der Al-
legorie, die hauptsächlich die Kürze und Faßlich-
keit zur Absicht hat, kann geschöpft werden.
Von den häuffigen Allegorien des Horaz sind die
meisten daher genommen. Die Gebräuche der noch
halb rohen Völker haben insonderheit noch sehr viel
bedeutendes, das gute Allegorien darbiethet. So
findet man Z. B. daß die alten Celten die Gewohn-
heit gehabt, wenn sie in ein fremdes Land gekommen
sind, ihre Spieße mit der Spize vorwärts zu tra-
gen, wenn sie als Feinde kamen und umgekehrt,
wenn sie nichts feindliches vorhatten. Diese Lage
des Spießes biethet sich von selbst, als eine Allego-
rie der feindlichen oder friedlichen Gesinnungen dar.
So hat Aeschylus eine schöne Allegorie von der
Gewohnheit der alten Seefahrer, die Bilder ihrer
Schuzgötter auf dem Hintertheile der Schiffe zu
(*) S.
Aeschy-
lus.
sezzen, hergenommen. (*)

Die Wissenschaften und vorzüglich die Künste,
die blos mit körperlichen Dingen umgehen, ent-
halten endlich einen großen Reichthum von Sa-
chen die zur Allegorie dienlich sind. Sie sind dazu
um soviel geschikter, je bekannter sie sind, und je
leichter sie insgemein können gefaßt werden. Wer
die Verrichtungen der Künstler und die Werke der
Kunst in der Absicht in genaue Betrachtung nehmen
wollte, das was darinn bedeutend seyn kann, zu be-
merken, der würde Dichtern und Rednern gute
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All
Dienste leisten können. Unter unsern Dichtern sind
Hagedorn und Bodmer am meisten beflissen gewe-
sen aus dieser Quelle zu schöpfen. Anspielungen,
Bilder, Gleichnisse und Allegorien von Künsten und
Wissenschaften genommen, finden sich sehr oft bey
ihnen.

Man ziehe überhaupt aus diesen Anmerkungen
die Lehre, daß das Studium der Naturlehre, der
Sitten und Gewohnheiten vieler Völker, der Wis-
senschaften und Künste einen sehr vortheilhaften Ein-
flus nicht nur auf die Erfindung der Materie, son-
dern auch auf den glüklichen Ausdruk habe.

Jzt müssen wir noch die allegorischen Personen,
die so ofte in den Werken der Dichter vorkommen,
als eine ganz eigene Gattung in Betrachtung zie-
hen. Sie zeichnet sich dadurch ab, daß aus Na-
men, oder aus Begriffen, welche diese Namen be-
zeichnen, handelnde Personen gemacht werden. So
werden Tugenden und Eigenschaften, Liebe, Haß,
Zwietracht, Weisheit, in Personen verwandelt: die-
ses geschieht auf mancherley Weise. Entweder blos
mittelbar und im Vorbeygehen, da dem abgezoge-
nen Begrif durch ein oder ein paar Worte eine Be-
stimmung gegeben wird, die nur handelnden We-
sen zukommt; wie wenn der Prophet sagt: vor
ihm her geht die Pest;
oder unmittelbar, wenn
ein solcher abgezogener Begriff einen völlig ausge-
bildeten Körper bekommt, auf den der Dichter un-
ser Aug mit Verweilen richtet, wie in diesem Bey-
spiel:

Te semper anteit saeva necessitas
Clavos trabeales et cuneos manu
Gestans ahena, nec severus
Vncus abest, liquidumque plumbum.
(*)
(*) Hor.
Od. L. I.
35.

Endlich werden solchen Bildern aneinanderhängen-
de Handlungen zugeschrieben, sie werden mit andern
handelnden Personen in der Epopee, bisweilen
auch im Drama eingeführt. So haben die Eris
oder die Zwietracht, die Fama oder das Gerücht,
Amor oder die Liebe und so viel andre allegorische
Wesen bey alten und neuen Dichtern ihren Antheil
an den Handlungen bekommen. Hieher gehören
einigermaßen auch die ganz erdichteten Wesen, die
Sylphen, Gnomen, Dryaden, Faunen u. d. gl.
Darüber werden die Dichter so vielfältig getadelt,
gerechtfertiget, entschuldiget und gelobet, daß der
Gebrauch dieser Bilder noch unter die zweydeuti-
gen Kunstgriffe der Dichtkunst zu gehören scheinet.

Von

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All
aͤhnliches. Die vollkommenſte Allegorie, die au-
ßer der Sinnlichkeit verſchiedene aͤſthetiſche Kraͤfte
vereiniget, bierhet ſich einem ſcharfſinnigen Beob-
achter der Natur an, der nicht blos bey dem
aͤußerlichen ſtehen bleibt, ſondern in das unſicht-
bare der Koͤrperwelt eindringen kann. Dieſes
Studium iſt alſo dem Dichter beſtens zu empfeh-
len. Die neuern Geſchichtſchreiber der Natur ha-
ben den unermeßlichen Schauplaz derſelben uns
in einer Ordnung und Klarheit vor Augen ge-
legt, die den Alten unbekannt geweſen. Aber
nur philoſophiſche Dichter koͤnnen auf dieſem
Feld erndten, und ihnen wird es nicht ſchwer in
dieſem Stuͤk die Alten weit zu uͤbertreffen. Ein
(*) Herr
Meyer
von Kno-
nau.
neuerer Fabeldichter (*) iſt durch dieſes Mittel
in einer ſo ſehr bearbeiteten Gattung noch ein
Original worden. Aber unſere Odendichter ha-
ben wahrhaftig dieſe Quelle noch nicht recht ge-
nutzet.

Die Sitten und Gebraͤuche ſind fuͤrnehmlich
die Quelle, woraus die leichtere Gattung der Al-
legorie, die hauptſaͤchlich die Kuͤrze und Faßlich-
keit zur Abſicht hat, kann geſchoͤpft werden.
Von den haͤuffigen Allegorien des Horaz ſind die
meiſten daher genommen. Die Gebraͤuche der noch
halb rohen Voͤlker haben inſonderheit noch ſehr viel
bedeutendes, das gute Allegorien darbiethet. So
findet man Z. B. daß die alten Celten die Gewohn-
heit gehabt, wenn ſie in ein fremdes Land gekommen
ſind, ihre Spieße mit der Spize vorwaͤrts zu tra-
gen, wenn ſie als Feinde kamen und umgekehrt,
wenn ſie nichts feindliches vorhatten. Dieſe Lage
des Spießes biethet ſich von ſelbſt, als eine Allego-
rie der feindlichen oder friedlichen Geſinnungen dar.
So hat Aeſchylus eine ſchoͤne Allegorie von der
Gewohnheit der alten Seefahrer, die Bilder ihrer
Schuzgoͤtter auf dem Hintertheile der Schiffe zu
(*) S.
Aeſchy-
lus.
ſezzen, hergenommen. (*)

Die Wiſſenſchaften und vorzuͤglich die Kuͤnſte,
die blos mit koͤrperlichen Dingen umgehen, ent-
halten endlich einen großen Reichthum von Sa-
chen die zur Allegorie dienlich ſind. Sie ſind dazu
um ſoviel geſchikter, je bekannter ſie ſind, und je
leichter ſie insgemein koͤnnen gefaßt werden. Wer
die Verrichtungen der Kuͤnſtler und die Werke der
Kunſt in der Abſicht in genaue Betrachtung nehmen
wollte, das was darinn bedeutend ſeyn kann, zu be-
merken, der wuͤrde Dichtern und Rednern gute
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All
Dienſte leiſten koͤnnen. Unter unſern Dichtern ſind
Hagedorn und Bodmer am meiſten befliſſen gewe-
ſen aus dieſer Quelle zu ſchoͤpfen. Anſpielungen,
Bilder, Gleichniſſe und Allegorien von Kuͤnſten und
Wiſſenſchaften genommen, finden ſich ſehr oft bey
ihnen.

Man ziehe uͤberhaupt aus dieſen Anmerkungen
die Lehre, daß das Studium der Naturlehre, der
Sitten und Gewohnheiten vieler Voͤlker, der Wiſ-
ſenſchaften und Kuͤnſte einen ſehr vortheilhaften Ein-
flus nicht nur auf die Erfindung der Materie, ſon-
dern auch auf den gluͤklichen Ausdruk habe.

Jzt muͤſſen wir noch die allegoriſchen Perſonen,
die ſo ofte in den Werken der Dichter vorkommen,
als eine ganz eigene Gattung in Betrachtung zie-
hen. Sie zeichnet ſich dadurch ab, daß aus Na-
men, oder aus Begriffen, welche dieſe Namen be-
zeichnen, handelnde Perſonen gemacht werden. So
werden Tugenden und Eigenſchaften, Liebe, Haß,
Zwietracht, Weisheit, in Perſonen verwandelt: die-
ſes geſchieht auf mancherley Weiſe. Entweder blos
mittelbar und im Vorbeygehen, da dem abgezoge-
nen Begrif durch ein oder ein paar Worte eine Be-
ſtimmung gegeben wird, die nur handelnden We-
ſen zukommt; wie wenn der Prophet ſagt: vor
ihm her geht die Peſt;
oder unmittelbar, wenn
ein ſolcher abgezogener Begriff einen voͤllig ausge-
bildeten Koͤrper bekommt, auf den der Dichter un-
ſer Aug mit Verweilen richtet, wie in dieſem Bey-
ſpiel:

Te ſemper anteit ſaeva neceſſitas
Clavos trabeales et cuneos manu
Geſtans ahena, nec ſeverus
Vncus abeſt, liquidumque plumbum.
(*)
(*) Hor.
Od. L. I.
35.

Endlich werden ſolchen Bildern aneinanderhaͤngen-
de Handlungen zugeſchrieben, ſie werden mit andern
handelnden Perſonen in der Epopee, bisweilen
auch im Drama eingefuͤhrt. So haben die Eris
oder die Zwietracht, die Fama oder das Geruͤcht,
Amor oder die Liebe und ſo viel andre allegoriſche
Weſen bey alten und neuen Dichtern ihren Antheil
an den Handlungen bekommen. Hieher gehoͤren
einigermaßen auch die ganz erdichteten Weſen, die
Sylphen, Gnomen, Dryaden, Faunen u. d. gl.
Daruͤber werden die Dichter ſo vielfaͤltig getadelt,
gerechtfertiget, entſchuldiget und gelobet, daß der
Gebrauch dieſer Bilder noch unter die zweydeuti-
gen Kunſtgriffe der Dichtkunſt zu gehoͤren ſcheinet.

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[31/0043] All All aͤhnliches. Die vollkommenſte Allegorie, die au- ßer der Sinnlichkeit verſchiedene aͤſthetiſche Kraͤfte vereiniget, bierhet ſich einem ſcharfſinnigen Beob- achter der Natur an, der nicht blos bey dem aͤußerlichen ſtehen bleibt, ſondern in das unſicht- bare der Koͤrperwelt eindringen kann. Dieſes Studium iſt alſo dem Dichter beſtens zu empfeh- len. Die neuern Geſchichtſchreiber der Natur ha- ben den unermeßlichen Schauplaz derſelben uns in einer Ordnung und Klarheit vor Augen ge- legt, die den Alten unbekannt geweſen. Aber nur philoſophiſche Dichter koͤnnen auf dieſem Feld erndten, und ihnen wird es nicht ſchwer in dieſem Stuͤk die Alten weit zu uͤbertreffen. Ein neuerer Fabeldichter (*) iſt durch dieſes Mittel in einer ſo ſehr bearbeiteten Gattung noch ein Original worden. Aber unſere Odendichter ha- ben wahrhaftig dieſe Quelle noch nicht recht ge- nutzet. (*) Herr Meyer von Kno- nau. Die Sitten und Gebraͤuche ſind fuͤrnehmlich die Quelle, woraus die leichtere Gattung der Al- legorie, die hauptſaͤchlich die Kuͤrze und Faßlich- keit zur Abſicht hat, kann geſchoͤpft werden. Von den haͤuffigen Allegorien des Horaz ſind die meiſten daher genommen. Die Gebraͤuche der noch halb rohen Voͤlker haben inſonderheit noch ſehr viel bedeutendes, das gute Allegorien darbiethet. So findet man Z. B. daß die alten Celten die Gewohn- heit gehabt, wenn ſie in ein fremdes Land gekommen ſind, ihre Spieße mit der Spize vorwaͤrts zu tra- gen, wenn ſie als Feinde kamen und umgekehrt, wenn ſie nichts feindliches vorhatten. Dieſe Lage des Spießes biethet ſich von ſelbſt, als eine Allego- rie der feindlichen oder friedlichen Geſinnungen dar. So hat Aeſchylus eine ſchoͤne Allegorie von der Gewohnheit der alten Seefahrer, die Bilder ihrer Schuzgoͤtter auf dem Hintertheile der Schiffe zu ſezzen, hergenommen. (*) (*) S. Aeſchy- lus. Die Wiſſenſchaften und vorzuͤglich die Kuͤnſte, die blos mit koͤrperlichen Dingen umgehen, ent- halten endlich einen großen Reichthum von Sa- chen die zur Allegorie dienlich ſind. Sie ſind dazu um ſoviel geſchikter, je bekannter ſie ſind, und je leichter ſie insgemein koͤnnen gefaßt werden. Wer die Verrichtungen der Kuͤnſtler und die Werke der Kunſt in der Abſicht in genaue Betrachtung nehmen wollte, das was darinn bedeutend ſeyn kann, zu be- merken, der wuͤrde Dichtern und Rednern gute Dienſte leiſten koͤnnen. Unter unſern Dichtern ſind Hagedorn und Bodmer am meiſten befliſſen gewe- ſen aus dieſer Quelle zu ſchoͤpfen. Anſpielungen, Bilder, Gleichniſſe und Allegorien von Kuͤnſten und Wiſſenſchaften genommen, finden ſich ſehr oft bey ihnen. Man ziehe uͤberhaupt aus dieſen Anmerkungen die Lehre, daß das Studium der Naturlehre, der Sitten und Gewohnheiten vieler Voͤlker, der Wiſ- ſenſchaften und Kuͤnſte einen ſehr vortheilhaften Ein- flus nicht nur auf die Erfindung der Materie, ſon- dern auch auf den gluͤklichen Ausdruk habe. Jzt muͤſſen wir noch die allegoriſchen Perſonen, die ſo ofte in den Werken der Dichter vorkommen, als eine ganz eigene Gattung in Betrachtung zie- hen. Sie zeichnet ſich dadurch ab, daß aus Na- men, oder aus Begriffen, welche dieſe Namen be- zeichnen, handelnde Perſonen gemacht werden. So werden Tugenden und Eigenſchaften, Liebe, Haß, Zwietracht, Weisheit, in Perſonen verwandelt: die- ſes geſchieht auf mancherley Weiſe. Entweder blos mittelbar und im Vorbeygehen, da dem abgezoge- nen Begrif durch ein oder ein paar Worte eine Be- ſtimmung gegeben wird, die nur handelnden We- ſen zukommt; wie wenn der Prophet ſagt: vor ihm her geht die Peſt; oder unmittelbar, wenn ein ſolcher abgezogener Begriff einen voͤllig ausge- bildeten Koͤrper bekommt, auf den der Dichter un- ſer Aug mit Verweilen richtet, wie in dieſem Bey- ſpiel: Te ſemper anteit ſaeva neceſſitas Clavos trabeales et cuneos manu Geſtans ahena, nec ſeverus Vncus abeſt, liquidumque plumbum. (*) Endlich werden ſolchen Bildern aneinanderhaͤngen- de Handlungen zugeſchrieben, ſie werden mit andern handelnden Perſonen in der Epopee, bisweilen auch im Drama eingefuͤhrt. So haben die Eris oder die Zwietracht, die Fama oder das Geruͤcht, Amor oder die Liebe und ſo viel andre allegoriſche Weſen bey alten und neuen Dichtern ihren Antheil an den Handlungen bekommen. Hieher gehoͤren einigermaßen auch die ganz erdichteten Weſen, die Sylphen, Gnomen, Dryaden, Faunen u. d. gl. Daruͤber werden die Dichter ſo vielfaͤltig getadelt, gerechtfertiget, entſchuldiget und gelobet, daß der Gebrauch dieſer Bilder noch unter die zweydeuti- gen Kunſtgriffe der Dichtkunſt zu gehoͤren ſcheinet. Von

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/43>, abgerufen am 29.03.2024.