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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lei
Den, der sich schädlichen Leidenschaften ohne Wieder-
stand überläßt, muß er auf eine natürliche, höchst
wahrscheinliche Weise, in so nachtheilige und un-
glükliche Umstände gerathen lassen, daß er sich auf
keinerley Weise, oder doch nur durch die äusserste
Anstrengung seiner Kräfte, und nachdem er sehr viel
ausgestanden hat, daraus retten könne. Auf der
andern Seite muß er eben so lebhaft die Vortheile
heilsamer Leidenschaften vor Augen zu legen wissen.
Er muß zeigen, wie Muth und Herzhaftigkeit die
besten Hülfsmittel gegen Gefahr, Großmuth die
sicherste Nache gegen gewisse Feinde; Eyfer für das
allgemeine Beste, der geradeste Weg zur Ehre, und
wie überhaupt jede edle Leidenschaft ihre eigene Be-
lohnung sey.

Hiezu dienet auch noch, daß solche Personen in
die Handlung eingeführt werden, die entweder durch
ihr Betragen, oder durch ihre Reden, jene, durch
die Schilderung erwekten Eindrüke noch mehr ver-
stärken. So wird in der Noachide der Unwillen,
den wir bereits aus der Beschreibung der leichtsinnigen
Wollust, welche die Einwohner in Lud beherrscht
empfunden haben, durch die Vorwürfe, die Raphael
ihnen deswegen macht, ungemein verstärkt.

-- den Seraph
Färbete Scham im Hören und Zorn mit der Röthe des
Morgens;
Strafende Worte stürzten von seinen Lippen; er sagte:
O! des Unsinns! der göttliche Geist verhauchet sein Feuer
Jn der Eitelkeit Dienste; da liegt die Stärke der Seele
Niedergedrukt, vertilgt der große Gedanke, die Freude
Daß der Schöpfer sie ewig erschuff. u. s. w. (*)

Durch dergleichen Mittel muß der Dichter, wo es
nöthig ist, dem Nachdenken des Lesers zu Hülfe
kommen, damit bey den Schilderungen der Leiden-
schaften die Eindrüke des Guten und Bösen unaus-
löschlich werden. Das Drama giebt dazu die beste
Gelegenheit, und nicht selten haben die Alten mit
Vortheil die Chöre desselben dazu gebraucht.

Leidenschaftlich.
(Schöne Künste)

Wir haben uns in gegenwärtigen Werk dieses
Worts ofte bedienet, um überhaupt etwas, das die
Leidenschaften angehet, dadurch auszudrüken. So
nennen wir einen Ausdruk, einen Ton, einen Ge-
genstand leidenschaftlich, wenn er aus Leidenschaft
entsteht, oder abzielt, sie zu erweken. Der Stoff
[Spaltenumbruch]

Lei
eines Werks der Kunst ist leidenschaftlich, wenn in
diesem Werke Leidenschaften, oder Aeußerungen, oder
Gegenstände derselben geschildert werden. Wir be-
greifen unter dieser Benennung auch das, was die
alten Kunstrichter das pathos, pathetisch, genennt
haben, in so fern sie es von dem ethos, von dem
sittlichen unterscheiden. (*)

Leitton.
(Musik.)

Man kann dieses Wort füglich brauchen, um in
der Musik einen solchen Ton zu bezeichnen, der das
Gehör natürlicher Weise, auf einen andern Ton lei-
tet,
oder das Gefühl desselben zum voraus erwekt.
So leitet im aufsteigenden Gesang die große Sep-
time natürlicher Weise in die Octave; weil jeder
fühlt, daß sie nun nothwendig folgen müsse. Es
giebt in der Musik mehrere Töne von dieser Art;
der vornehmste aber ist die erwähnte große Septime,
die insgemein das Subsemitonium Modi, von den
französischen Tonsezern ton, oder note sensible genannt
wird. Wenn also in der Harmonie irgendwo anstatt
der kleinen Terz, welche der Tonart, darin man ist,
natürlich wäre, die große Terz genommen wird, welche
meistentheils die große Septime des Tones, in den
man ausweichen will, ist; (*) so ist diese der Leit-
ton,
weil sie dem Gehör die Erwartung desjenigen
Tones erwekt, dessen große Septime sie ist.

Es giebt aber außer der großen Septime noch
andere Leittöne, die unter dem französischen Namen
ton sensible nicht begriffen sind. So ist bey jedem
Hauptschluß die Dominante in dem Baß der Leit-
ton, weil sie allemal die Erwartung des Tones, des-
sen Quinte sie ist, erweket. Ferner ist die kleine Sep-
time in dem wesentlichen Septimenaccord auf der
Dominante ein Leitton, weil dieselbe allezeit einen
Grad unter sich in die Terz des folgenden Grund-
tones treten muß. (*)

Aber auch bey einer einzigen Stimme, die von
keiner Harmonie begleitet wird, haben die Leittöne
statt. Wann man z. B. in dem Ton C dur herauf-
steiget, und auf die große Septime h gekommen ist;
so muß man nothwendig von ihr auf c steigen: und
so kann man im heruntersteigen, wenn man auf den
Ton f gekommen ist, auf demselben nicht stehen blei-
ben, sondern muß noch einen halben Ton ins e herab.
Eben so wird in dem Gesang nothwendig, daß auf
einen Ton, der durch ein x welches der Tonart nicht

zuge-
(*) II
Gesang.
(*) S.
Sittlich.
(*) S.
Auswei-
chung.
(*) S.
Septimen-
accord.
Rr rr 3

[Spaltenumbruch]

Lei
Den, der ſich ſchaͤdlichen Leidenſchaften ohne Wieder-
ſtand uͤberlaͤßt, muß er auf eine natuͤrliche, hoͤchſt
wahrſcheinliche Weiſe, in ſo nachtheilige und un-
gluͤkliche Umſtaͤnde gerathen laſſen, daß er ſich auf
keinerley Weiſe, oder doch nur durch die aͤuſſerſte
Anſtrengung ſeiner Kraͤfte, und nachdem er ſehr viel
ausgeſtanden hat, daraus retten koͤnne. Auf der
andern Seite muß er eben ſo lebhaft die Vortheile
heilſamer Leidenſchaften vor Augen zu legen wiſſen.
Er muß zeigen, wie Muth und Herzhaftigkeit die
beſten Huͤlfsmittel gegen Gefahr, Großmuth die
ſicherſte Nache gegen gewiſſe Feinde; Eyfer fuͤr das
allgemeine Beſte, der geradeſte Weg zur Ehre, und
wie uͤberhaupt jede edle Leidenſchaft ihre eigene Be-
lohnung ſey.

Hiezu dienet auch noch, daß ſolche Perſonen in
die Handlung eingefuͤhrt werden, die entweder durch
ihr Betragen, oder durch ihre Reden, jene, durch
die Schilderung erwekten Eindruͤke noch mehr ver-
ſtaͤrken. So wird in der Noachide der Unwillen,
den wir bereits aus der Beſchreibung der leichtſinnigen
Wolluſt, welche die Einwohner in Lud beherrſcht
empfunden haben, durch die Vorwuͤrfe, die Raphael
ihnen deswegen macht, ungemein verſtaͤrkt.

— den Seraph
Faͤrbete Scham im Hoͤren und Zorn mit der Roͤthe des
Morgens;
Strafende Worte ſtuͤrzten von ſeinen Lippen; er ſagte:
O! des Unſinns! der goͤttliche Geiſt verhauchet ſein Feuer
Jn der Eitelkeit Dienſte; da liegt die Staͤrke der Seele
Niedergedrukt, vertilgt der große Gedanke, die Freude
Daß der Schoͤpfer ſie ewig erſchuff. u. ſ. w. (*)

Durch dergleichen Mittel muß der Dichter, wo es
noͤthig iſt, dem Nachdenken des Leſers zu Huͤlfe
kommen, damit bey den Schilderungen der Leiden-
ſchaften die Eindruͤke des Guten und Boͤſen unaus-
loͤſchlich werden. Das Drama giebt dazu die beſte
Gelegenheit, und nicht ſelten haben die Alten mit
Vortheil die Choͤre deſſelben dazu gebraucht.

Leidenſchaftlich.
(Schoͤne Kuͤnſte)

Wir haben uns in gegenwaͤrtigen Werk dieſes
Worts ofte bedienet, um uͤberhaupt etwas, das die
Leidenſchaften angehet, dadurch auszudruͤken. So
nennen wir einen Ausdruk, einen Ton, einen Ge-
genſtand leidenſchaftlich, wenn er aus Leidenſchaft
entſteht, oder abzielt, ſie zu erweken. Der Stoff
[Spaltenumbruch]

Lei
eines Werks der Kunſt iſt leidenſchaftlich, wenn in
dieſem Werke Leidenſchaften, oder Aeußerungen, oder
Gegenſtaͤnde derſelben geſchildert werden. Wir be-
greifen unter dieſer Benennung auch das, was die
alten Kunſtrichter das παθος, pathetiſch, genennt
haben, in ſo fern ſie es von dem ηθος, von dem
ſittlichen unterſcheiden. (*)

Leitton.
(Muſik.)

Man kann dieſes Wort fuͤglich brauchen, um in
der Muſik einen ſolchen Ton zu bezeichnen, der das
Gehoͤr natuͤrlicher Weiſe, auf einen andern Ton lei-
tet,
oder das Gefuͤhl deſſelben zum voraus erwekt.
So leitet im aufſteigenden Geſang die große Sep-
time natuͤrlicher Weiſe in die Octave; weil jeder
fuͤhlt, daß ſie nun nothwendig folgen muͤſſe. Es
giebt in der Muſik mehrere Toͤne von dieſer Art;
der vornehmſte aber iſt die erwaͤhnte große Septime,
die insgemein das Subſemitonium Modi, von den
franzoͤſiſchen Tonſezern ton, oder note ſenſible genannt
wird. Wenn alſo in der Harmonie irgendwo anſtatt
der kleinen Terz, welche der Tonart, darin man iſt,
natuͤrlich waͤre, die große Terz genommen wird, welche
meiſtentheils die große Septime des Tones, in den
man ausweichen will, iſt; (*) ſo iſt dieſe der Leit-
ton,
weil ſie dem Gehoͤr die Erwartung desjenigen
Tones erwekt, deſſen große Septime ſie iſt.

Es giebt aber außer der großen Septime noch
andere Leittoͤne, die unter dem franzoͤſiſchen Namen
ton ſenſible nicht begriffen ſind. So iſt bey jedem
Hauptſchluß die Dominante in dem Baß der Leit-
ton, weil ſie allemal die Erwartung des Tones, deſ-
ſen Quinte ſie iſt, erweket. Ferner iſt die kleine Sep-
time in dem weſentlichen Septimenaccord auf der
Dominante ein Leitton, weil dieſelbe allezeit einen
Grad unter ſich in die Terz des folgenden Grund-
tones treten muß. (*)

Aber auch bey einer einzigen Stimme, die von
keiner Harmonie begleitet wird, haben die Leittoͤne
ſtatt. Wann man z. B. in dem Ton C dur herauf-
ſteiget, und auf die große Septime h gekommen iſt;
ſo muß man nothwendig von ihr auf c ſteigen: und
ſo kann man im herunterſteigen, wenn man auf den
Ton f gekommen iſt, auf demſelben nicht ſtehen blei-
ben, ſondern muß noch einen halben Ton ins e herab.
Eben ſo wird in dem Geſang nothwendig, daß auf
einen Ton, der durch ein x welches der Tonart nicht

zuge-
(*) II
Geſang.
(*) S.
Sittlich.
(*) S.
Auswei-
chung.
(*) S.
Septimen-
accord.
Rr rr 3
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[703[685]/0120] Lei Lei Den, der ſich ſchaͤdlichen Leidenſchaften ohne Wieder- ſtand uͤberlaͤßt, muß er auf eine natuͤrliche, hoͤchſt wahrſcheinliche Weiſe, in ſo nachtheilige und un- gluͤkliche Umſtaͤnde gerathen laſſen, daß er ſich auf keinerley Weiſe, oder doch nur durch die aͤuſſerſte Anſtrengung ſeiner Kraͤfte, und nachdem er ſehr viel ausgeſtanden hat, daraus retten koͤnne. Auf der andern Seite muß er eben ſo lebhaft die Vortheile heilſamer Leidenſchaften vor Augen zu legen wiſſen. Er muß zeigen, wie Muth und Herzhaftigkeit die beſten Huͤlfsmittel gegen Gefahr, Großmuth die ſicherſte Nache gegen gewiſſe Feinde; Eyfer fuͤr das allgemeine Beſte, der geradeſte Weg zur Ehre, und wie uͤberhaupt jede edle Leidenſchaft ihre eigene Be- lohnung ſey. Hiezu dienet auch noch, daß ſolche Perſonen in die Handlung eingefuͤhrt werden, die entweder durch ihr Betragen, oder durch ihre Reden, jene, durch die Schilderung erwekten Eindruͤke noch mehr ver- ſtaͤrken. So wird in der Noachide der Unwillen, den wir bereits aus der Beſchreibung der leichtſinnigen Wolluſt, welche die Einwohner in Lud beherrſcht empfunden haben, durch die Vorwuͤrfe, die Raphael ihnen deswegen macht, ungemein verſtaͤrkt. — den Seraph Faͤrbete Scham im Hoͤren und Zorn mit der Roͤthe des Morgens; Strafende Worte ſtuͤrzten von ſeinen Lippen; er ſagte: O! des Unſinns! der goͤttliche Geiſt verhauchet ſein Feuer Jn der Eitelkeit Dienſte; da liegt die Staͤrke der Seele Niedergedrukt, vertilgt der große Gedanke, die Freude Daß der Schoͤpfer ſie ewig erſchuff. u. ſ. w. (*) Durch dergleichen Mittel muß der Dichter, wo es noͤthig iſt, dem Nachdenken des Leſers zu Huͤlfe kommen, damit bey den Schilderungen der Leiden- ſchaften die Eindruͤke des Guten und Boͤſen unaus- loͤſchlich werden. Das Drama giebt dazu die beſte Gelegenheit, und nicht ſelten haben die Alten mit Vortheil die Choͤre deſſelben dazu gebraucht. Leidenſchaftlich. (Schoͤne Kuͤnſte) Wir haben uns in gegenwaͤrtigen Werk dieſes Worts ofte bedienet, um uͤberhaupt etwas, das die Leidenſchaften angehet, dadurch auszudruͤken. So nennen wir einen Ausdruk, einen Ton, einen Ge- genſtand leidenſchaftlich, wenn er aus Leidenſchaft entſteht, oder abzielt, ſie zu erweken. Der Stoff eines Werks der Kunſt iſt leidenſchaftlich, wenn in dieſem Werke Leidenſchaften, oder Aeußerungen, oder Gegenſtaͤnde derſelben geſchildert werden. Wir be- greifen unter dieſer Benennung auch das, was die alten Kunſtrichter das παθος, pathetiſch, genennt haben, in ſo fern ſie es von dem ηθος, von dem ſittlichen unterſcheiden. (*) Leitton. (Muſik.) Man kann dieſes Wort fuͤglich brauchen, um in der Muſik einen ſolchen Ton zu bezeichnen, der das Gehoͤr natuͤrlicher Weiſe, auf einen andern Ton lei- tet, oder das Gefuͤhl deſſelben zum voraus erwekt. So leitet im aufſteigenden Geſang die große Sep- time natuͤrlicher Weiſe in die Octave; weil jeder fuͤhlt, daß ſie nun nothwendig folgen muͤſſe. Es giebt in der Muſik mehrere Toͤne von dieſer Art; der vornehmſte aber iſt die erwaͤhnte große Septime, die insgemein das Subſemitonium Modi, von den franzoͤſiſchen Tonſezern ton, oder note ſenſible genannt wird. Wenn alſo in der Harmonie irgendwo anſtatt der kleinen Terz, welche der Tonart, darin man iſt, natuͤrlich waͤre, die große Terz genommen wird, welche meiſtentheils die große Septime des Tones, in den man ausweichen will, iſt; (*) ſo iſt dieſe der Leit- ton, weil ſie dem Gehoͤr die Erwartung desjenigen Tones erwekt, deſſen große Septime ſie iſt. Es giebt aber außer der großen Septime noch andere Leittoͤne, die unter dem franzoͤſiſchen Namen ton ſenſible nicht begriffen ſind. So iſt bey jedem Hauptſchluß die Dominante in dem Baß der Leit- ton, weil ſie allemal die Erwartung des Tones, deſ- ſen Quinte ſie iſt, erweket. Ferner iſt die kleine Sep- time in dem weſentlichen Septimenaccord auf der Dominante ein Leitton, weil dieſelbe allezeit einen Grad unter ſich in die Terz des folgenden Grund- tones treten muß. (*) Aber auch bey einer einzigen Stimme, die von keiner Harmonie begleitet wird, haben die Leittoͤne ſtatt. Wann man z. B. in dem Ton C dur herauf- ſteiget, und auf die große Septime h gekommen iſt; ſo muß man nothwendig von ihr auf c ſteigen: und ſo kann man im herunterſteigen, wenn man auf den Ton f gekommen iſt, auf demſelben nicht ſtehen blei- ben, ſondern muß noch einen halben Ton ins e herab. Eben ſo wird in dem Geſang nothwendig, daß auf einen Ton, der durch ein x welches der Tonart nicht zuge- (*) II Geſang. (*) S. Sittlich. (*) S. Auswei- chung. (*) S. Septimen- accord. Rr rr 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 703[685]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/120>, abgerufen am 23.11.2024.