Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Der 10te Januar.
muß erst einen verklärten Körper, oder einen Geist haben, der
nicht so sehr von groben Sinnen abhängt; ich muß erst beßre Ge-
sellschafter und ein von Vorwürfen freieres Gewissen haben, ehe
ich beständigen Sonnenschein erwarten darf. Sünde und Freude
leben in der größten Antlpathie.

Wie murren denn die Leute im Leben also? ein jeglicher
murre wider seine Sünde! Gerne vergönnte uns Gott Freuden
und Entzücken: aber er versagt sie uns Unmündigen, so ofte sie ein
Scheer messer in unsrer Hand würden. Ja, er thut noch mehr:
er mischet etwas herbes in unsern Freudenkelch, damit wir uns
nicht so leichte berauschen sollen. Das thust du, o Vater! und
wir schreien über Gewalt? Argwöhnisches Herz! wann wirst du
doch aufhören, der allgütigen Vorsicht Regeln vorzuschreiben!
Wie lange foderst du noch unmögliche Dinge: heitere Erdluft
ohne Stürme und Wintertage ohne Nacht! O! kenntest du dei-
nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft würdest du
zum Lachen sprechen: du bist toll! und zur Freude was machest
du? Von allen unsern Stunden an jenem Tage Rechenschaft zu
geben, wird eine erschreckliche Arbeit seyn: lustige Stunden aber
sind die gefährlichsten, und machen sich mehrentheils am Ende
mit Thränen bezahlt. Ein Beweis daß wir für diese Welt nicht
blos bestimmt sind!

So danke ich dir denn, Allgütigster! nicht allein für die
aufgeklärte Minuten des verflossenen Tages, sondern auch für die
trübe Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa-
ren. Niemals soll mir deine Gnade verdächtig werden, wenn ich
gleich durch Thränen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne
über meinen jezigen Kummer hinaus sehe ich mein wahres Va-
terland den Himmel, wo der Wechsel von Freude und Leid weder
nöthig noch möglich ist. Da will ich nach ausgeweintem mir
gütigst bestimmtem Maaß von Thränen, mich ewig freuen, und
dir, Herr Jesu! meine Freude verdanken!

Der

Der 10te Januar.
muß erſt einen verklaͤrten Koͤrper, oder einen Geiſt haben, der
nicht ſo ſehr von groben Sinnen abhaͤngt; ich muß erſt beßre Ge-
ſellſchafter und ein von Vorwuͤrfen freieres Gewiſſen haben, ehe
ich beſtaͤndigen Sonnenſchein erwarten darf. Suͤnde und Freude
leben in der groͤßten Antlpathie.

Wie murren denn die Leute im Leben alſo? ein jeglicher
murre wider ſeine Suͤnde! Gerne vergoͤnnte uns Gott Freuden
und Entzuͤcken: aber er verſagt ſie uns Unmuͤndigen, ſo ofte ſie ein
Scheer meſſer in unſrer Hand wuͤrden. Ja, er thut noch mehr:
er miſchet etwas herbes in unſern Freudenkelch, damit wir uns
nicht ſo leichte berauſchen ſollen. Das thuſt du, o Vater! und
wir ſchreien uͤber Gewalt? Argwoͤhniſches Herz! wann wirſt du
doch aufhoͤren, der allguͤtigen Vorſicht Regeln vorzuſchreiben!
Wie lange foderſt du noch unmoͤgliche Dinge: heitere Erdluft
ohne Stuͤrme und Wintertage ohne Nacht! O! kennteſt du dei-
nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft wuͤrdeſt du
zum Lachen ſprechen: du biſt toll! und zur Freude was macheſt
du? Von allen unſern Stunden an jenem Tage Rechenſchaft zu
geben, wird eine erſchreckliche Arbeit ſeyn: luſtige Stunden aber
ſind die gefaͤhrlichſten, und machen ſich mehrentheils am Ende
mit Thraͤnen bezahlt. Ein Beweis daß wir fuͤr dieſe Welt nicht
blos beſtimmt ſind!

So danke ich dir denn, Allguͤtigſter! nicht allein fuͤr die
aufgeklaͤrte Minuten des verfloſſenen Tages, ſondern auch fuͤr die
truͤbe Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa-
ren. Niemals ſoll mir deine Gnade verdaͤchtig werden, wenn ich
gleich durch Thraͤnen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne
uͤber meinen jezigen Kummer hinaus ſehe ich mein wahres Va-
terland den Himmel, wo der Wechſel von Freude und Leid weder
noͤthig noch moͤglich iſt. Da will ich nach ausgeweintem mir
guͤtigſt beſtimmtem Maaß von Thraͤnen, mich ewig freuen, und
dir, Herr Jeſu! meine Freude verdanken!

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0059" n="22[52]"/><fw place="top" type="header">Der 10<hi rendition="#sup">te</hi> Januar.</fw><lb/>
muß er&#x017F;t einen verkla&#x0364;rten Ko&#x0364;rper, oder einen Gei&#x017F;t haben, der<lb/>
nicht &#x017F;o &#x017F;ehr von groben Sinnen abha&#x0364;ngt; ich muß er&#x017F;t beßre Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chafter und ein von Vorwu&#x0364;rfen freieres Gewi&#x017F;&#x017F;en haben, ehe<lb/>
ich be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Sonnen&#x017F;chein erwarten darf. Su&#x0364;nde und Freude<lb/>
leben in der gro&#x0364;ßten Antlpathie.</p><lb/>
            <p>Wie murren denn die Leute im Leben al&#x017F;o? ein jeglicher<lb/>
murre wider &#x017F;eine Su&#x0364;nde! Gerne vergo&#x0364;nnte uns Gott Freuden<lb/>
und Entzu&#x0364;cken: aber er ver&#x017F;agt &#x017F;ie uns Unmu&#x0364;ndigen, &#x017F;o ofte &#x017F;ie ein<lb/>
Scheer me&#x017F;&#x017F;er in un&#x017F;rer Hand wu&#x0364;rden. Ja, er thut noch mehr:<lb/>
er mi&#x017F;chet etwas herbes in un&#x017F;ern Freudenkelch, damit wir uns<lb/>
nicht &#x017F;o leichte berau&#x017F;chen &#x017F;ollen. Das thu&#x017F;t du, o Vater! und<lb/>
wir &#x017F;chreien u&#x0364;ber Gewalt? Argwo&#x0364;hni&#x017F;ches Herz! wann wir&#x017F;t du<lb/>
doch aufho&#x0364;ren, der allgu&#x0364;tigen Vor&#x017F;icht Regeln vorzu&#x017F;chreiben!<lb/>
Wie lange foder&#x017F;t du noch unmo&#x0364;gliche Dinge: heitere Erdluft<lb/>
ohne Stu&#x0364;rme und Wintertage ohne Nacht! O! kennte&#x017F;t du dei-<lb/>
nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft wu&#x0364;rde&#x017F;t du<lb/>
zum Lachen &#x017F;prechen: du bi&#x017F;t toll! und zur Freude was mache&#x017F;t<lb/>
du? Von allen un&#x017F;ern Stunden an jenem Tage Rechen&#x017F;chaft zu<lb/>
geben, wird eine er&#x017F;chreckliche Arbeit &#x017F;eyn: lu&#x017F;tige Stunden aber<lb/>
&#x017F;ind die gefa&#x0364;hrlich&#x017F;ten, und machen &#x017F;ich mehrentheils am Ende<lb/>
mit Thra&#x0364;nen bezahlt. Ein Beweis daß wir fu&#x0364;r die&#x017F;e Welt nicht<lb/>
blos be&#x017F;timmt &#x017F;ind!</p><lb/>
            <p>So danke ich dir denn, Allgu&#x0364;tig&#x017F;ter! nicht allein fu&#x0364;r die<lb/>
aufgekla&#x0364;rte Minuten des verflo&#x017F;&#x017F;enen Tages, &#x017F;ondern auch fu&#x0364;r die<lb/>
tru&#x0364;be Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa-<lb/>
ren. Niemals &#x017F;oll mir deine Gnade verda&#x0364;chtig werden, wenn ich<lb/>
gleich durch Thra&#x0364;nen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne<lb/>
u&#x0364;ber meinen jezigen Kummer hinaus &#x017F;ehe ich mein wahres Va-<lb/>
terland den Himmel, wo der Wech&#x017F;el von Freude und Leid weder<lb/>
no&#x0364;thig noch mo&#x0364;glich i&#x017F;t. Da will ich nach ausgeweintem mir<lb/>
gu&#x0364;tig&#x017F;t be&#x017F;timmtem Maaß von Thra&#x0364;nen, mich ewig freuen, und<lb/>
dir, Herr Je&#x017F;u! meine Freude verdanken!</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22[52]/0059] Der 10te Januar. muß erſt einen verklaͤrten Koͤrper, oder einen Geiſt haben, der nicht ſo ſehr von groben Sinnen abhaͤngt; ich muß erſt beßre Ge- ſellſchafter und ein von Vorwuͤrfen freieres Gewiſſen haben, ehe ich beſtaͤndigen Sonnenſchein erwarten darf. Suͤnde und Freude leben in der groͤßten Antlpathie. Wie murren denn die Leute im Leben alſo? ein jeglicher murre wider ſeine Suͤnde! Gerne vergoͤnnte uns Gott Freuden und Entzuͤcken: aber er verſagt ſie uns Unmuͤndigen, ſo ofte ſie ein Scheer meſſer in unſrer Hand wuͤrden. Ja, er thut noch mehr: er miſchet etwas herbes in unſern Freudenkelch, damit wir uns nicht ſo leichte berauſchen ſollen. Das thuſt du, o Vater! und wir ſchreien uͤber Gewalt? Argwoͤhniſches Herz! wann wirſt du doch aufhoͤren, der allguͤtigen Vorſicht Regeln vorzuſchreiben! Wie lange foderſt du noch unmoͤgliche Dinge: heitere Erdluft ohne Stuͤrme und Wintertage ohne Nacht! O! kennteſt du dei- nen wahren Vortheil, (Gott aber kennet ihn!) oft wuͤrdeſt du zum Lachen ſprechen: du biſt toll! und zur Freude was macheſt du? Von allen unſern Stunden an jenem Tage Rechenſchaft zu geben, wird eine erſchreckliche Arbeit ſeyn: luſtige Stunden aber ſind die gefaͤhrlichſten, und machen ſich mehrentheils am Ende mit Thraͤnen bezahlt. Ein Beweis daß wir fuͤr dieſe Welt nicht blos beſtimmt ſind! So danke ich dir denn, Allguͤtigſter! nicht allein fuͤr die aufgeklaͤrte Minuten des verfloſſenen Tages, ſondern auch fuͤr die truͤbe Stunden, welche meiner Sinnlichkeit nicht helle genug wa- ren. Niemals ſoll mir deine Gnade verdaͤchtig werden, wenn ich gleich durch Thraͤnen zu dir hinauf blicken muß. Eine Spanne uͤber meinen jezigen Kummer hinaus ſehe ich mein wahres Va- terland den Himmel, wo der Wechſel von Freude und Leid weder noͤthig noch moͤglich iſt. Da will ich nach ausgeweintem mir guͤtigſt beſtimmtem Maaß von Thraͤnen, mich ewig freuen, und dir, Herr Jeſu! meine Freude verdanken! Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/59
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 22[52]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/59>, abgerufen am 23.11.2024.