scheint für fremde lyrische Poesie nicht den freien und erregbaren Sinn gehabt zu haben, den er für andere Dichtungsarten so herrlich bewährt. Ein Urtheil über Paul Flemming, welches Eckermann mittheilt, bestätigt uns in dieser Meinung. Dieser große, jugendfrische Lyriker, dessen Gefühl und Ausdruck über zwei Jahr¬ hunderte hinaus noch heute dem höchsten poetischen Be¬ dürfnisse genügen kann, befriedigt Göthe'n keineswegs, und fast findet er ihn ungenießbar! Hierin können wir ihm durchaus nicht beistimmen, obwohl wir es ihm sonst nicht verargen, sondern im Gegentheil hoch an¬ rechnen, daß er einer bloß philologischen Bewunde¬ rung und Begeisterung, mit der so viele Leute sich be¬ helfen, gar nicht fähig war. Uebrigens verhehlen wir nicht, daß Flemming's Talent uns dem Uhland'schen wohl zu vergleichen scheint, in sofern beide einer Le¬ bensjahrszeit angehören, welche den Liederblüthen günstig ist, und nach deren Ablauf sich diese verlieren. Denn, wiewohl Flemming diesen Ablauf nicht erlebt hat, son¬ dern nach der Rückkehr von seiner Reise in den Orient inmitten der schönsten Jugend und reichsten Poesie früh¬ zeitig starb, so macht uns doch alles den Eindruck, daß er in seiner Poesie nicht so hätte fortfahren können, sondern daheim in eingerichteten Verhältnissen und ruhi¬ gen Geschäften sich mehr und mehr dem Dichten ent¬ zogen haben würde, bis dieses zuletzt vielleicht versiegt wäre. Dies deutet allerdings darauf hin, daß der
ſcheint fuͤr fremde lyriſche Poeſie nicht den freien und erregbaren Sinn gehabt zu haben, den er fuͤr andere Dichtungsarten ſo herrlich bewaͤhrt. Ein Urtheil uͤber Paul Flemming, welches Eckermann mittheilt, beſtaͤtigt uns in dieſer Meinung. Dieſer große, jugendfriſche Lyriker, deſſen Gefuͤhl und Ausdruck uͤber zwei Jahr¬ hunderte hinaus noch heute dem hoͤchſten poetiſchen Be¬ duͤrfniſſe genuͤgen kann, befriedigt Goͤthe’n keineswegs, und faſt findet er ihn ungenießbar! Hierin koͤnnen wir ihm durchaus nicht beiſtimmen, obwohl wir es ihm ſonſt nicht verargen, ſondern im Gegentheil hoch an¬ rechnen, daß er einer bloß philologiſchen Bewunde¬ rung und Begeiſterung, mit der ſo viele Leute ſich be¬ helfen, gar nicht faͤhig war. Uebrigens verhehlen wir nicht, daß Flemming’s Talent uns dem Uhland’ſchen wohl zu vergleichen ſcheint, in ſofern beide einer Le¬ bensjahrszeit angehoͤren, welche den Liederbluͤthen guͤnſtig iſt, und nach deren Ablauf ſich dieſe verlieren. Denn, wiewohl Flemming dieſen Ablauf nicht erlebt hat, ſon¬ dern nach der Ruͤckkehr von ſeiner Reiſe in den Orient inmitten der ſchoͤnſten Jugend und reichſten Poeſie fruͤh¬ zeitig ſtarb, ſo macht uns doch alles den Eindruck, daß er in ſeiner Poeſie nicht ſo haͤtte fortfahren koͤnnen, ſondern daheim in eingerichteten Verhaͤltniſſen und ruhi¬ gen Geſchaͤften ſich mehr und mehr dem Dichten ent¬ zogen haben wuͤrde, bis dieſes zuletzt vielleicht verſiegt waͤre. Dies deutet allerdings darauf hin, daß der
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ſcheint fuͤr fremde lyriſche Poeſie nicht den freien und
erregbaren Sinn gehabt zu haben, den er fuͤr andere
Dichtungsarten ſo herrlich bewaͤhrt. Ein Urtheil uͤber
Paul Flemming, welches Eckermann mittheilt, beſtaͤtigt
uns in dieſer Meinung. Dieſer große, jugendfriſche
Lyriker, deſſen Gefuͤhl und Ausdruck uͤber zwei Jahr¬
hunderte hinaus noch heute dem hoͤchſten poetiſchen Be¬
duͤrfniſſe genuͤgen kann, befriedigt Goͤthe’n keineswegs,
und faſt findet er ihn ungenießbar! Hierin koͤnnen wir
ihm durchaus nicht beiſtimmen, obwohl wir es ihm
ſonſt nicht verargen, ſondern im Gegentheil hoch an¬
rechnen, daß er einer bloß philologiſchen Bewunde¬
rung und Begeiſterung, mit der ſo viele Leute ſich be¬
helfen, gar nicht faͤhig war. Uebrigens verhehlen wir
nicht, daß Flemming’s Talent uns dem Uhland’ſchen
wohl zu vergleichen ſcheint, in ſofern beide einer Le¬
bensjahrszeit angehoͤren, welche den Liederbluͤthen guͤnſtig
iſt, und nach deren Ablauf ſich dieſe verlieren. Denn,
wiewohl Flemming dieſen Ablauf nicht erlebt hat, ſon¬
dern nach der Ruͤckkehr von ſeiner Reiſe in den Orient
inmitten der ſchoͤnſten Jugend und reichſten Poeſie fruͤh¬
zeitig ſtarb, ſo macht uns doch alles den Eindruck, daß
er in ſeiner Poeſie nicht ſo haͤtte fortfahren koͤnnen,
ſondern daheim in eingerichteten Verhaͤltniſſen und ruhi¬
gen Geſchaͤften ſich mehr und mehr dem Dichten ent¬
zogen haben wuͤrde, bis dieſes zuletzt vielleicht verſiegt
waͤre. Dies deutet allerdings darauf hin, daß der
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/492>, abgerufen am 23.11.2024.
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