Frankfurt a. M., den 11. Oktober 1815. Nachmittag halb 5 Uhr.
Erst diesen Vormittag erhielt ich deinen Brief vom 5. Sie lesen deine Briefe gewiß auf jeder Post, sonst ist ihr langsamer Gang nicht zu begreifen. Mögen sie! Ich muß dich nur prä- veniren, daß ich Blutsteigen nach dem Kopf habe, und daß dann keine Herkules-Laune von Lustigkeit vorhalten kann; auch physische Herzensschwäche, so fing's nämlich heute an. Gestern erschrak ich mich nach einem hölzernen Tag sehr, Abends um 11. über drei Russen in völliger Armirung, die betrunken auch an meine drei Thüren, die einzigen im Stock- werk wo ich wohne, polterten und mit Gewalt herein wollten, da sie Kammeraden zum Ausmarsch, dessen Ordre sie eben spät den Abend bekommen, abholen wollten. Das und ähn- liche Augst, und dürres Leben, mag mir wohl geschadet ha- ben: da, ich bemerke es, ich gar nichts mehr vertragen kann, und mein bisheriges, besonders letztjähriges Leben mir nun anheim kommt. Doch ist das nur momentan: und ich muß es dir mittheilen können. Sonst leb' ich gar nicht. Also ich prävenire dich, daß dieser Brief, ohne meine Schuld, nicht lustig werden kann. Ich erschrak auch, als ich heute Morgen in deinem Brief las, "in vierzehn Tagen werden wir wohl reisen;" weil ich nicht gleich berechnete, daß sieben davon schon hingestrichen sind. Ach August, wie ist's mit unserm Leben, mit seiner Optik der Zeit! Ein Gedanke hämmert mir jetzt bald den Kopf entzwei. Der nämlich, daß die Zukunft uns
An Varnhagen, in Paris.
Frankfurt a. M., den 11. Oktober 1815. Nachmittag halb 5 Uhr.
Erſt dieſen Vormittag erhielt ich deinen Brief vom 5. Sie leſen deine Briefe gewiß auf jeder Poſt, ſonſt iſt ihr langſamer Gang nicht zu begreifen. Mögen ſie! Ich muß dich nur prä- veniren, daß ich Blutſteigen nach dem Kopf habe, und daß dann keine Herkules-Laune von Luſtigkeit vorhalten kann; auch phyſiſche Herzensſchwäche, ſo fing’s nämlich heute an. Geſtern erſchrak ich mich nach einem hölzernen Tag ſehr, Abends um 11. über drei Ruſſen in völliger Armirung, die betrunken auch an meine drei Thüren, die einzigen im Stock- werk wo ich wohne, polterten und mit Gewalt herein wollten, da ſie Kammeraden zum Ausmarſch, deſſen Ordre ſie eben ſpät den Abend bekommen, abholen wollten. Das und ähn- liche Augſt, und dürres Leben, mag mir wohl geſchadet ha- ben: da, ich bemerke es, ich gar nichts mehr vertragen kann, und mein bisheriges, beſonders letztjähriges Leben mir nun anheim kommt. Doch iſt das nur momentan: und ich muß es dir mittheilen können. Sonſt leb’ ich gar nicht. Alſo ich prävenire dich, daß dieſer Brief, ohne meine Schuld, nicht luſtig werden kann. Ich erſchrak auch, als ich heute Morgen in deinem Brief las, „in vierzehn Tagen werden wir wohl reiſen;“ weil ich nicht gleich berechnete, daß ſieben davon ſchon hingeſtrichen ſind. Ach Auguſt, wie iſt’s mit unſerm Leben, mit ſeiner Optik der Zeit! Ein Gedanke hämmert mir jetzt bald den Kopf entzwei. Der nämlich, daß die Zukunft uns
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An Varnhagen, in Paris.
Frankfurt a. M., den 11. Oktober 1815.
Nachmittag halb 5 Uhr.
Erſt dieſen Vormittag erhielt ich deinen Brief vom 5. Sie
leſen deine Briefe gewiß auf jeder Poſt, ſonſt iſt ihr langſamer
Gang nicht zu begreifen. Mögen ſie! Ich muß dich nur prä-
veniren, daß ich Blutſteigen nach dem Kopf habe, und daß
dann keine Herkules-Laune von Luſtigkeit vorhalten kann;
auch phyſiſche Herzensſchwäche, ſo fing’s nämlich heute an.
Geſtern erſchrak ich mich nach einem hölzernen Tag ſehr,
Abends um 11. über drei Ruſſen in völliger Armirung, die
betrunken auch an meine drei Thüren, die einzigen im Stock-
werk wo ich wohne, polterten und mit Gewalt herein wollten,
da ſie Kammeraden zum Ausmarſch, deſſen Ordre ſie eben
ſpät den Abend bekommen, abholen wollten. Das und ähn-
liche Augſt, und dürres Leben, mag mir wohl geſchadet ha-
ben: da, ich bemerke es, ich gar nichts mehr vertragen kann,
und mein bisheriges, beſonders letztjähriges Leben mir nun
anheim kommt. Doch iſt das nur momentan: und ich muß
es dir mittheilen können. Sonſt leb’ ich gar nicht. Alſo ich
prävenire dich, daß dieſer Brief, ohne meine Schuld, nicht
luſtig werden kann. Ich erſchrak auch, als ich heute Morgen
in deinem Brief las, „in vierzehn Tagen werden wir wohl
reiſen;“ weil ich nicht gleich berechnete, daß ſieben davon ſchon
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/359>, abgerufen am 23.11.2024.
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