Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

ganz anders: und dann hab' ich veränderte Freunde gefunden.
Dieses Finden fand bei mir zwar keine Kränkung vor, denn
diese hab' ich schon genossen, und mein Herz nimmt keine
mehr an. Dies erfuhr ich mit vergnügter, fast stolzer Freude
hier -- in mir, wo man eigentlich nur erfahren kann -- und
diese Erfahrung allein wär' mir die Reise werth, wenn sie
mich nicht sonst auf tausendfältige Weise ergötzte; ein Ort,
wo man gelebt hat, mit angenehmen Gegenden, ist immer
reichhaltig. Weil ich mein Inneres endlich hier so vorfand,
und nur anschlage, was wirklichsten Werth für mich haben
kann, so nannt' ich meinen Gesundheitszustand als "das
Hauptsächliche." Verstehen Sie nun? Ihnen, liebe Golda,
schreibe ich dies, damit Sie sich fassen mögen, in Ihrem Men-
schenverkehr ein Exempel vor sich sehen von Einer Person, die
Sie sehr auszeichnen, mich; damit Sie nicht glauben, ich wolle
Sie nur immer trösten, und tröste nicht auch mich. Man
kann nicht viel von den Menschen fordern; sie sind alle in
zu schlechter Lage; verkehrt in Verkehrtheit hineingeboren; ihre
physischen Naturen schon verzwickt, falsch gemischt, und ver-
stümmelt; in eine Natur hinein geboren -- nicht des Defizits
der politisch-geselligen Welt in allem Sinn, zu gedenken --
hinein, wozu sie nicht Gaben genug haben sie zu verstehen,
und also, zu gebrauchen: wenn die nicht lügen, und prah-
len, so ist das alles was man von ihnen fordren kann; weil
dies zu leer, ennuyant und albern ist: kränken müssen sie
sich untereinander, wie mißverstehen. Wir beide mit einge-
rechnet. Darüber aber, müssen wir uns für unsere Rechnung,
nicht wegsetzen; sondern, sehr fleißig nachsehen. Welches ich

II. 27

ganz anders: und dann hab’ ich veränderte Freunde gefunden.
Dieſes Finden fand bei mir zwar keine Kränkung vor, denn
dieſe hab’ ich ſchon genoſſen, und mein Herz nimmt keine
mehr an. Dies erfuhr ich mit vergnügter, faſt ſtolzer Freude
hier — in mir, wo man eigentlich nur erfahren kann — und
dieſe Erfahrung allein wär’ mir die Reiſe werth, wenn ſie
mich nicht ſonſt auf tauſendfältige Weiſe ergötzte; ein Ort,
wo man gelebt hat, mit angenehmen Gegenden, iſt immer
reichhaltig. Weil ich mein Inneres endlich hier ſo vorfand,
und nur anſchlage, was wirklichſten Werth für mich haben
kann, ſo nannt’ ich meinen Geſundheitszuſtand als „das
Hauptſächliche.“ Verſtehen Sie nun? Ihnen, liebe Golda,
ſchreibe ich dies, damit Sie ſich faſſen mögen, in Ihrem Men-
ſchenverkehr ein Exempel vor ſich ſehen von Einer Perſon, die
Sie ſehr auszeichnen, mich; damit Sie nicht glauben, ich wolle
Sie nur immer tröſten, und tröſte nicht auch mich. Man
kann nicht viel von den Menſchen fordern; ſie ſind alle in
zu ſchlechter Lage; verkehrt in Verkehrtheit hineingeboren; ihre
phyſiſchen Naturen ſchon verzwickt, falſch gemiſcht, und ver-
ſtümmelt; in eine Natur hinein geboren — nicht des Defizits
der politiſch-geſelligen Welt in allem Sinn, zu gedenken —
hinein, wozu ſie nicht Gaben genug haben ſie zu verſtehen,
und alſo, zu gebrauchen: wenn die nicht lügen, und prah-
len, ſo iſt das alles was man von ihnen fordren kann; weil
dies zu leer, ennuyant und albern iſt: kränken müſſen ſie
ſich untereinander, wie mißverſtehen. Wir beide mit einge-
rechnet. Darüber aber, müſſen wir uns für unſere Rechnung,
nicht wegſetzen; ſondern, ſehr fleißig nachſehen. Welches ich

II. 27
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0425" n="417"/>
ganz anders: und dann hab&#x2019; ich veränderte Freunde gefunden.<lb/>
Die&#x017F;es Finden fand bei mir zwar keine Kränkung vor, denn<lb/>
die&#x017F;e hab&#x2019; ich <hi rendition="#g">&#x017F;chon</hi> geno&#x017F;&#x017F;en, und mein Herz nimmt keine<lb/>
mehr an. Dies erfuhr ich mit vergnügter, fa&#x017F;t &#x017F;tolzer Freude<lb/>
hier &#x2014; <hi rendition="#g">in</hi> mir, wo man eigentlich nur erfahren kann &#x2014; und<lb/>
die&#x017F;e Erfahrung allein wär&#x2019; mir die Rei&#x017F;e werth, wenn &#x017F;ie<lb/>
mich nicht &#x017F;on&#x017F;t auf tau&#x017F;endfältige Wei&#x017F;e ergötzte; ein Ort,<lb/>
wo man gelebt hat, mit angenehmen Gegenden, i&#x017F;t immer<lb/>
reichhaltig. Weil ich mein Inneres endlich hier &#x017F;o vorfand,<lb/>
und nur an&#x017F;chlage, was wirklich&#x017F;ten Werth für mich haben<lb/>
kann, &#x017F;o nannt&#x2019; ich meinen Ge&#x017F;undheitszu&#x017F;tand als &#x201E;das<lb/>
Haupt&#x017F;ächliche.&#x201C; Ver&#x017F;tehen Sie nun? Ihnen, liebe Golda,<lb/>
&#x017F;chreibe ich dies, damit Sie &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;en mögen, in Ihrem Men-<lb/>
&#x017F;chenverkehr ein Exempel vor &#x017F;ich &#x017F;ehen von Einer Per&#x017F;on, die<lb/>
Sie &#x017F;ehr auszeichnen, mich; damit Sie nicht glauben, ich wolle<lb/>
Sie nur immer trö&#x017F;ten, und trö&#x017F;te nicht auch mich. Man<lb/>
kann nicht viel von den Men&#x017F;chen fordern; &#x017F;ie &#x017F;ind <hi rendition="#g">alle</hi> in<lb/>
zu &#x017F;chlechter Lage; verkehrt in Verkehrtheit hineingeboren; ihre<lb/>
phy&#x017F;i&#x017F;chen Naturen &#x017F;chon verzwickt, fal&#x017F;ch gemi&#x017F;cht, und ver-<lb/>
&#x017F;tümmelt; in eine Natur hinein geboren &#x2014; nicht des Defizits<lb/>
der politi&#x017F;ch-ge&#x017F;elligen Welt in allem Sinn, zu gedenken &#x2014;<lb/>
hinein, wozu &#x017F;ie nicht Gaben genug haben &#x017F;ie zu ver&#x017F;tehen,<lb/>
und <hi rendition="#g">al&#x017F;o</hi>, zu gebrauchen: wenn die nicht lügen, und prah-<lb/>
len, &#x017F;o i&#x017F;t das alles was man von ihnen fordren kann; weil<lb/>
dies <hi rendition="#g">zu</hi> leer, ennuyant und albern i&#x017F;t: kränken <hi rendition="#g">&#x017F;&#x017F;en</hi> &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich untereinander, wie mißver&#x017F;tehen. Wir beide mit einge-<lb/>
rechnet. Darüber aber, mü&#x017F;&#x017F;en wir uns für <hi rendition="#g">un&#x017F;ere</hi> Rechnung,<lb/>
nicht weg&#x017F;etzen; &#x017F;ondern, &#x017F;ehr fleißig nach&#x017F;ehen. Welches ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II.</hi> 27</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[417/0425] ganz anders: und dann hab’ ich veränderte Freunde gefunden. Dieſes Finden fand bei mir zwar keine Kränkung vor, denn dieſe hab’ ich ſchon genoſſen, und mein Herz nimmt keine mehr an. Dies erfuhr ich mit vergnügter, faſt ſtolzer Freude hier — in mir, wo man eigentlich nur erfahren kann — und dieſe Erfahrung allein wär’ mir die Reiſe werth, wenn ſie mich nicht ſonſt auf tauſendfältige Weiſe ergötzte; ein Ort, wo man gelebt hat, mit angenehmen Gegenden, iſt immer reichhaltig. Weil ich mein Inneres endlich hier ſo vorfand, und nur anſchlage, was wirklichſten Werth für mich haben kann, ſo nannt’ ich meinen Geſundheitszuſtand als „das Hauptſächliche.“ Verſtehen Sie nun? Ihnen, liebe Golda, ſchreibe ich dies, damit Sie ſich faſſen mögen, in Ihrem Men- ſchenverkehr ein Exempel vor ſich ſehen von Einer Perſon, die Sie ſehr auszeichnen, mich; damit Sie nicht glauben, ich wolle Sie nur immer tröſten, und tröſte nicht auch mich. Man kann nicht viel von den Menſchen fordern; ſie ſind alle in zu ſchlechter Lage; verkehrt in Verkehrtheit hineingeboren; ihre phyſiſchen Naturen ſchon verzwickt, falſch gemiſcht, und ver- ſtümmelt; in eine Natur hinein geboren — nicht des Defizits der politiſch-geſelligen Welt in allem Sinn, zu gedenken — hinein, wozu ſie nicht Gaben genug haben ſie zu verſtehen, und alſo, zu gebrauchen: wenn die nicht lügen, und prah- len, ſo iſt das alles was man von ihnen fordren kann; weil dies zu leer, ennuyant und albern iſt: kränken müſſen ſie ſich untereinander, wie mißverſtehen. Wir beide mit einge- rechnet. Darüber aber, müſſen wir uns für unſere Rechnung, nicht wegſetzen; ſondern, ſehr fleißig nachſehen. Welches ich II. 27

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/425
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/425>, abgerufen am 29.11.2024.