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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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fällige als Bedingung des Individuellen zu sehr von oben herab angesehen
hat, allein was er immer hätte thun mögen, diese Lücke auszufüllen, er
hätte auch das Zufällige in das rein Allgemeine zurücknehmen und auflösen
müssen. Diese Auflösung ist aber kein Weglassen der "wunderbaren Ver-
schlingung" des einzelnen Werks. Die Wissenschaft weist nach, aus
wie vielerlei Sphären der behandelte Stoff seine Eigenheit zog, sie weist
nach, aus wie vielerlei in diesem Falle so und nicht anders zusammen-
wirkenden Bedingungen die Persönlichkeit des Künstlers ihre Bestimmtheit
zog, sie kann auch anzuführen wissen, wie es kam, daß ihn irgend
ein Stoff anlockte (z. B. den Shakespeare die damals erschienenen
Novellensammlungen). Diese Sphären, Bedingungen, nach unserem Aus-
druck Gattungen, sind aber freilich selbst ebenfalls Allgemeinheiten. Allein
hier sind wir an der Grenze; etwas Anderes, als ein Zusammen-
treten von Solchem, was allgemeiner Art ist, kann an dem Diesen
nicht aufgewiesen werden und was Hettner (a. a. O. S. 18, 19)
von L. Feuerbach gegen den ersten Abschnitt von Hegels Phäno-
menologie aufnimmt, ist keine Instanz, weil es nur sagt, daß das
Diese ein Erfülltes sey; denn das Erfüllende ist selbst allgemeiner Art.

Weiße, der dieselbe Polemik übt (System d. Aesth. §. 12--15)
hat sich hiezu den Standpunkt gewonnen, indem er zum voraus die
Erscheinung, in welcher die Gattungs-Allgemeinheit ihre Abstractheit
auslöscht, für ein Mehr erklärt hat, was "durch Wissenschaft, Philo-
sophie und Kritik auf keine Weise ersetzt werden könne". Jene All-
gemeinheit nennt er, wie wir zu §. 5 u. 15 sahen, Wahrheit, das
Schöne daher aufgehobene Wahrheit. Im jetzigen Zusammenhang müßte
nun eben die "wunderbare Verschlingung" der Zufälligkeit im einzelnen
Schönen dieses Mehr seyn. Allein ein solches Mehr hat jede Wirklich-
keit, jedes Naturwesen, jede Persönlichkeit, jeder Staat, und das All-
gemeine bewirkt sich in jeder Sphäre, indem es das Dunkel dieser
Verschlingung mit seiner Macht durcharbeitet. Das Schöne verhält
sich nur darin anders, daß es bis zu einem Punkte der Zufälligkeit
mehr Recht läßt, als alle andern Sphären, von einem andern Punkte
an aber, wie sich zeigen wird, sie tiefer ausscheidet. Die Wahrheit
als Wissenschaft nun hat keineswegs blos das getrennt Allgemeine, sondern
gerade seine Mischungs-Verhältnisse in der Einzelheit zu durchdringen und
ist daher nicht nur mehr, als eine Abstraction des ersteren, sondern auch
als das Wahre in dem Sinne, wie es ihr Gegenstand ist, d. h. als das
Allgemeine an sich in den Verbindungen, die es in der Realität mit anderem

fällige als Bedingung des Individuellen zu ſehr von oben herab angeſehen
hat, allein was er immer hätte thun mögen, dieſe Lücke auszufüllen, er
hätte auch das Zufällige in das rein Allgemeine zurücknehmen und auflöſen
müſſen. Dieſe Auflöſung iſt aber kein Weglaſſen der „wunderbaren Ver-
ſchlingung“ des einzelnen Werks. Die Wiſſenſchaft weist nach, aus
wie vielerlei Sphären der behandelte Stoff ſeine Eigenheit zog, ſie weist
nach, aus wie vielerlei in dieſem Falle ſo und nicht anders zuſammen-
wirkenden Bedingungen die Perſönlichkeit des Künſtlers ihre Beſtimmtheit
zog, ſie kann auch anzuführen wiſſen, wie es kam, daß ihn irgend
ein Stoff anlockte (z. B. den Shakespeare die damals erſchienenen
Novellenſammlungen). Dieſe Sphären, Bedingungen, nach unſerem Aus-
druck Gattungen, ſind aber freilich ſelbſt ebenfalls Allgemeinheiten. Allein
hier ſind wir an der Grenze; etwas Anderes, als ein Zuſammen-
treten von Solchem, was allgemeiner Art iſt, kann an dem Dieſen
nicht aufgewieſen werden und was Hettner (a. a. O. S. 18, 19)
von L. Feuerbach gegen den erſten Abſchnitt von Hegels Phäno-
menologie aufnimmt, iſt keine Inſtanz, weil es nur ſagt, daß das
Dieſe ein Erfülltes ſey; denn das Erfüllende iſt ſelbſt allgemeiner Art.

Weiße, der dieſelbe Polemik übt (Syſtem d. Aeſth. §. 12—15)
hat ſich hiezu den Standpunkt gewonnen, indem er zum voraus die
Erſcheinung, in welcher die Gattungs-Allgemeinheit ihre Abſtractheit
auslöſcht, für ein Mehr erklärt hat, was „durch Wiſſenſchaft, Philo-
ſophie und Kritik auf keine Weiſe erſetzt werden könne“. Jene All-
gemeinheit nennt er, wie wir zu §. 5 u. 15 ſahen, Wahrheit, das
Schöne daher aufgehobene Wahrheit. Im jetzigen Zuſammenhang müßte
nun eben die „wunderbare Verſchlingung“ der Zufälligkeit im einzelnen
Schönen dieſes Mehr ſeyn. Allein ein ſolches Mehr hat jede Wirklich-
keit, jedes Naturweſen, jede Perſönlichkeit, jeder Staat, und das All-
gemeine bewirkt ſich in jeder Sphäre, indem es das Dunkel dieſer
Verſchlingung mit ſeiner Macht durcharbeitet. Das Schöne verhält
ſich nur darin anders, daß es bis zu einem Punkte der Zufälligkeit
mehr Recht läßt, als alle andern Sphären, von einem andern Punkte
an aber, wie ſich zeigen wird, ſie tiefer ausſcheidet. Die Wahrheit
als Wiſſenſchaft nun hat keineswegs blos das getrennt Allgemeine, ſondern
gerade ſeine Miſchungs-Verhältniſſe in der Einzelheit zu durchdringen und
iſt daher nicht nur mehr, als eine Abſtraction des erſteren, ſondern auch
als das Wahre in dem Sinne, wie es ihr Gegenſtand iſt, d. h. als das
Allgemeine an ſich in den Verbindungen, die es in der Realität mit anderem

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[121/0135] fällige als Bedingung des Individuellen zu ſehr von oben herab angeſehen hat, allein was er immer hätte thun mögen, dieſe Lücke auszufüllen, er hätte auch das Zufällige in das rein Allgemeine zurücknehmen und auflöſen müſſen. Dieſe Auflöſung iſt aber kein Weglaſſen der „wunderbaren Ver- ſchlingung“ des einzelnen Werks. Die Wiſſenſchaft weist nach, aus wie vielerlei Sphären der behandelte Stoff ſeine Eigenheit zog, ſie weist nach, aus wie vielerlei in dieſem Falle ſo und nicht anders zuſammen- wirkenden Bedingungen die Perſönlichkeit des Künſtlers ihre Beſtimmtheit zog, ſie kann auch anzuführen wiſſen, wie es kam, daß ihn irgend ein Stoff anlockte (z. B. den Shakespeare die damals erſchienenen Novellenſammlungen). Dieſe Sphären, Bedingungen, nach unſerem Aus- druck Gattungen, ſind aber freilich ſelbſt ebenfalls Allgemeinheiten. Allein hier ſind wir an der Grenze; etwas Anderes, als ein Zuſammen- treten von Solchem, was allgemeiner Art iſt, kann an dem Dieſen nicht aufgewieſen werden und was Hettner (a. a. O. S. 18, 19) von L. Feuerbach gegen den erſten Abſchnitt von Hegels Phäno- menologie aufnimmt, iſt keine Inſtanz, weil es nur ſagt, daß das Dieſe ein Erfülltes ſey; denn das Erfüllende iſt ſelbſt allgemeiner Art. Weiße, der dieſelbe Polemik übt (Syſtem d. Aeſth. §. 12—15) hat ſich hiezu den Standpunkt gewonnen, indem er zum voraus die Erſcheinung, in welcher die Gattungs-Allgemeinheit ihre Abſtractheit auslöſcht, für ein Mehr erklärt hat, was „durch Wiſſenſchaft, Philo- ſophie und Kritik auf keine Weiſe erſetzt werden könne“. Jene All- gemeinheit nennt er, wie wir zu §. 5 u. 15 ſahen, Wahrheit, das Schöne daher aufgehobene Wahrheit. Im jetzigen Zuſammenhang müßte nun eben die „wunderbare Verſchlingung“ der Zufälligkeit im einzelnen Schönen dieſes Mehr ſeyn. Allein ein ſolches Mehr hat jede Wirklich- keit, jedes Naturweſen, jede Perſönlichkeit, jeder Staat, und das All- gemeine bewirkt ſich in jeder Sphäre, indem es das Dunkel dieſer Verſchlingung mit ſeiner Macht durcharbeitet. Das Schöne verhält ſich nur darin anders, daß es bis zu einem Punkte der Zufälligkeit mehr Recht läßt, als alle andern Sphären, von einem andern Punkte an aber, wie ſich zeigen wird, ſie tiefer ausſcheidet. Die Wahrheit als Wiſſenſchaft nun hat keineswegs blos das getrennt Allgemeine, ſondern gerade ſeine Miſchungs-Verhältniſſe in der Einzelheit zu durchdringen und iſt daher nicht nur mehr, als eine Abſtraction des erſteren, ſondern auch als das Wahre in dem Sinne, wie es ihr Gegenſtand iſt, d. h. als das Allgemeine an ſich in den Verbindungen, die es in der Realität mit anderem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/135>, abgerufen am 23.11.2024.