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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Stoff, Vorbild eigentlich einen Gegenstand bezeichnet, der dem Künstler klar
als Object gegenübersteht und ihm eine bereits bestimmte, obwohl im Ver-
hältniß zur Kunstaufgabe noch rohe Form entgegenbringt, wogegen das
Gefühlsleben nicht nur mit der Subjectivität dessen, der es darstellen soll,
verwachsen, sondern auch in seiner Formbestimmtheit vor der Darstellung
so dunkel ist, daß sie der Künstler selbst erst ahnt, indem er nun ganz
anders woher jene Form entlehnt, an welcher ursprünglich durch Zufall
die Fähigkeit entdeckt worden ist, das Gefühl auszudrücken, und die er nun
zu diesem Zweck selbständig weiter formt. Wendet man sich nun nach
der andern Seite, nach diesem "Anderswoher", so ist man geneigt, den
Begriff des Naturvorbilds auf sie anzuwenden, wir haben aber gezeigt,
daß er hier nicht hergehört, weil die Tonwelt in der Natur nicht ein
Ganzes von Inhalt und bestimmter Form ist, das der Künstler nur zu ideali-
siren hätte; will man ihn dennoch auf diese Seite übertragen, so kann
man es nur mit der ausdrücklichen Verwahrung, daß man dießmal unter
Stoff nur Anlaß zur Entdeckung einer frei zu bildenden, dem Seelenleben
dunkel entsprechenden Formwelt und benütztes, verwendetes Vehikel versteht.
Entschieden zutreffend ist für die erstere Seite, wo das Innere, das Gefühl
als Stoff bezeichnet wird, nur das negative Merkmal des Begriffs, daß
der Stoff vor seiner Bearbeitung immer ein relativ Rohes, Formloses ist,
indem die innere Stimmung vor diesem Uebergang in die klare Form,
auch abgesehen von dem spezifischen Dunkel ihrer Organisation überhaupt
noch ungeordnet, mit allen Mängeln und Zufälligkeiten behaftet bleibt,
durch welche das Naturschöne auch als sichtbarer Gegenstand der andern
Künste stets getrübt ist. -- Noch bleibt übrig, den Begriff des Stoffes
oder Süjets in einem andern Sinne zu nehmen: so nämlich, daß der von
einer Kunst schon verarbeitete Stoff einer andern noch einmal Stoff wird
(vergl. §. 543). Nun erhält der Musiker ein Süjet vom Dichter, eine
Stimmung ist ihm von diesem (in Lied, Operntext u. s. w.) vorempfunden,
also objectiv gegeben. Allein dieß ist ein unendlich loseres Verhältniß,
als im Stofftausch anderer Künste. Der Musiker übersetzt den Stoff nicht
etwa aus dem innerlich sichtbar Vorgestellten in das äußerlich Sichtbare,
also zwar in eine andere Kunst, aber eine solche, die mit der Stoffquelle
noch das Element des Bildes gemein hat, oder aus dem Epischen in das
Dramatische, also einen andern Zweig derselben Kunst, sondern in eine
absolut neue Form, welche, wie wir sehen werden, mit dem Inhalte, den
ihr die Poesie leiht, nicht in jenes congruente Verhältniß tritt, das einfach
als künstlerische Umbildung eines Stoffes bezeichnet werden könnte. Vergl.
über dieß Verhältniß, sowie über die ganze Frage die treffenden Bemer-
kungen von Hanslick a.a.O. S. 49 ff., 83 ff.


Stoff, Vorbild eigentlich einen Gegenſtand bezeichnet, der dem Künſtler klar
als Object gegenüberſteht und ihm eine bereits beſtimmte, obwohl im Ver-
hältniß zur Kunſtaufgabe noch rohe Form entgegenbringt, wogegen das
Gefühlsleben nicht nur mit der Subjectivität deſſen, der es darſtellen ſoll,
verwachſen, ſondern auch in ſeiner Formbeſtimmtheit vor der Darſtellung
ſo dunkel iſt, daß ſie der Künſtler ſelbſt erſt ahnt, indem er nun ganz
anders woher jene Form entlehnt, an welcher urſprünglich durch Zufall
die Fähigkeit entdeckt worden iſt, das Gefühl auszudrücken, und die er nun
zu dieſem Zweck ſelbſtändig weiter formt. Wendet man ſich nun nach
der andern Seite, nach dieſem „Anderswoher“, ſo iſt man geneigt, den
Begriff des Naturvorbilds auf ſie anzuwenden, wir haben aber gezeigt,
daß er hier nicht hergehört, weil die Tonwelt in der Natur nicht ein
Ganzes von Inhalt und beſtimmter Form iſt, das der Künſtler nur zu ideali-
ſiren hätte; will man ihn dennoch auf dieſe Seite übertragen, ſo kann
man es nur mit der ausdrücklichen Verwahrung, daß man dießmal unter
Stoff nur Anlaß zur Entdeckung einer frei zu bildenden, dem Seelenleben
dunkel entſprechenden Formwelt und benütztes, verwendetes Vehikel verſteht.
Entſchieden zutreffend iſt für die erſtere Seite, wo das Innere, das Gefühl
als Stoff bezeichnet wird, nur das negative Merkmal des Begriffs, daß
der Stoff vor ſeiner Bearbeitung immer ein relativ Rohes, Formloſes iſt,
indem die innere Stimmung vor dieſem Uebergang in die klare Form,
auch abgeſehen von dem ſpezifiſchen Dunkel ihrer Organiſation überhaupt
noch ungeordnet, mit allen Mängeln und Zufälligkeiten behaftet bleibt,
durch welche das Naturſchöne auch als ſichtbarer Gegenſtand der andern
Künſte ſtets getrübt iſt. — Noch bleibt übrig, den Begriff des Stoffes
oder Süjets in einem andern Sinne zu nehmen: ſo nämlich, daß der von
einer Kunſt ſchon verarbeitete Stoff einer andern noch einmal Stoff wird
(vergl. §. 543). Nun erhält der Muſiker ein Süjet vom Dichter, eine
Stimmung iſt ihm von dieſem (in Lied, Operntext u. ſ. w.) vorempfunden,
alſo objectiv gegeben. Allein dieß iſt ein unendlich loſeres Verhältniß,
als im Stofftauſch anderer Künſte. Der Muſiker überſetzt den Stoff nicht
etwa aus dem innerlich ſichtbar Vorgeſtellten in das äußerlich Sichtbare,
alſo zwar in eine andere Kunſt, aber eine ſolche, die mit der Stoffquelle
noch das Element des Bildes gemein hat, oder aus dem Epiſchen in das
Dramatiſche, alſo einen andern Zweig derſelben Kunſt, ſondern in eine
abſolut neue Form, welche, wie wir ſehen werden, mit dem Inhalte, den
ihr die Poeſie leiht, nicht in jenes congruente Verhältniß tritt, das einfach
als künſtleriſche Umbildung eines Stoffes bezeichnet werden könnte. Vergl.
über dieß Verhältniß, ſowie über die ganze Frage die treffenden Bemer-
kungen von Hanslick a.a.O. S. 49 ff., 83 ff.


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[817/0055] Stoff, Vorbild eigentlich einen Gegenſtand bezeichnet, der dem Künſtler klar als Object gegenüberſteht und ihm eine bereits beſtimmte, obwohl im Ver- hältniß zur Kunſtaufgabe noch rohe Form entgegenbringt, wogegen das Gefühlsleben nicht nur mit der Subjectivität deſſen, der es darſtellen ſoll, verwachſen, ſondern auch in ſeiner Formbeſtimmtheit vor der Darſtellung ſo dunkel iſt, daß ſie der Künſtler ſelbſt erſt ahnt, indem er nun ganz anders woher jene Form entlehnt, an welcher urſprünglich durch Zufall die Fähigkeit entdeckt worden iſt, das Gefühl auszudrücken, und die er nun zu dieſem Zweck ſelbſtändig weiter formt. Wendet man ſich nun nach der andern Seite, nach dieſem „Anderswoher“, ſo iſt man geneigt, den Begriff des Naturvorbilds auf ſie anzuwenden, wir haben aber gezeigt, daß er hier nicht hergehört, weil die Tonwelt in der Natur nicht ein Ganzes von Inhalt und beſtimmter Form iſt, das der Künſtler nur zu ideali- ſiren hätte; will man ihn dennoch auf dieſe Seite übertragen, ſo kann man es nur mit der ausdrücklichen Verwahrung, daß man dießmal unter Stoff nur Anlaß zur Entdeckung einer frei zu bildenden, dem Seelenleben dunkel entſprechenden Formwelt und benütztes, verwendetes Vehikel verſteht. Entſchieden zutreffend iſt für die erſtere Seite, wo das Innere, das Gefühl als Stoff bezeichnet wird, nur das negative Merkmal des Begriffs, daß der Stoff vor ſeiner Bearbeitung immer ein relativ Rohes, Formloſes iſt, indem die innere Stimmung vor dieſem Uebergang in die klare Form, auch abgeſehen von dem ſpezifiſchen Dunkel ihrer Organiſation überhaupt noch ungeordnet, mit allen Mängeln und Zufälligkeiten behaftet bleibt, durch welche das Naturſchöne auch als ſichtbarer Gegenſtand der andern Künſte ſtets getrübt iſt. — Noch bleibt übrig, den Begriff des Stoffes oder Süjets in einem andern Sinne zu nehmen: ſo nämlich, daß der von einer Kunſt ſchon verarbeitete Stoff einer andern noch einmal Stoff wird (vergl. §. 543). Nun erhält der Muſiker ein Süjet vom Dichter, eine Stimmung iſt ihm von dieſem (in Lied, Operntext u. ſ. w.) vorempfunden, alſo objectiv gegeben. Allein dieß iſt ein unendlich loſeres Verhältniß, als im Stofftauſch anderer Künſte. Der Muſiker überſetzt den Stoff nicht etwa aus dem innerlich ſichtbar Vorgeſtellten in das äußerlich Sichtbare, alſo zwar in eine andere Kunſt, aber eine ſolche, die mit der Stoffquelle noch das Element des Bildes gemein hat, oder aus dem Epiſchen in das Dramatiſche, alſo einen andern Zweig derſelben Kunſt, ſondern in eine abſolut neue Form, welche, wie wir ſehen werden, mit dem Inhalte, den ihr die Poeſie leiht, nicht in jenes congruente Verhältniß tritt, das einfach als künſtleriſche Umbildung eines Stoffes bezeichnet werden könnte. Vergl. über dieß Verhältniß, ſowie über die ganze Frage die treffenden Bemer- kungen von Hanslick a.a.O. S. 49 ff., 83 ff.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 817. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/55>, abgerufen am 23.11.2024.