Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Elfter Gesang.
Meinen umschlingenden Armen; und stärker ergriff mich die Wehmut.
Und ich redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:

Meine Mutter, warum entfliehst du meiner Umarmung? 210
Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Händen umschlungen,
Unser trauriges Herz durch Thränen einander erleichtern?
Oder welches Gebild' hat die furchtbare Persefoneia
Mir gesandt, damit ich noch mehr mein Elend beseufze?

Also sprach ich; mir gab die trefliche Mutter zur Antwort: 215
Mein geliebtester Sohn, unglücklichster aller, die leben!
Ach! sie teuschet dich nicht, Zeus Tochter Persofoneia!
Sondern dies ist das Loos der Menschen, wann sie gestorben.
Denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden;
Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret 220
Alles, sobald der Geist die weißen Gebeine verlaßen.
Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe.
Aber nun eile geschwinde zum Lichte zurück, und behalte
Alles, damit du es einst der lieben Gattin erzählest.

Also besprachen wir uns mit einander. Siehe da kamen 225
Viele Seelen, gesandt von der furchtbaren Persefoneia,
Alle Gemahlinnen einst und Töchter der edelsten Helden.
Diese versammelten sich um das schwarze Blut in der Grube.
Jezo sann ich umher, wie ich jedwede befragte.
Aber von allen Entwürfen gefiel mir dieser am beßten: 230
Eilend zog ich das lange Schwert von der nervichten Hüfte,
Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken.
Also nahten sie sich nach einander; jede besonders
Meldete mir ihr Geschlecht; und so befragt' ich sie alle.

Jezo erblickt' ich zuerst die edelentsproßene Türo, 235

Elfter Geſang.
Meinen umſchlingenden Armen; und ſtaͤrker ergriff mich die Wehmut.
Und ich redte ſie an, und ſprach die gefluͤgelten Worte:

Meine Mutter, warum entfliehſt du meiner Umarmung? 210
Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Haͤnden umſchlungen,
Unſer trauriges Herz durch Thraͤnen einander erleichtern?
Oder welches Gebild' hat die furchtbare Perſefoneia
Mir geſandt, damit ich noch mehr mein Elend beſeufze?

Alſo ſprach ich; mir gab die trefliche Mutter zur Antwort: 215
Mein geliebteſter Sohn, ungluͤcklichſter aller, die leben!
Ach! ſie teuſchet dich nicht, Zeus Tochter Perſofoneia!
Sondern dies iſt das Loos der Menſchen, wann ſie geſtorben.
Denn nicht Fleiſch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden;
Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret 220
Alles, ſobald der Geiſt die weißen Gebeine verlaßen.
Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe.
Aber nun eile geſchwinde zum Lichte zuruͤck, und behalte
Alles, damit du es einſt der lieben Gattin erzaͤhleſt.

Alſo beſprachen wir uns mit einander. Siehe da kamen 225
Viele Seelen, geſandt von der furchtbaren Perſefoneia,
Alle Gemahlinnen einſt und Toͤchter der edelſten Helden.
Dieſe verſammelten ſich um das ſchwarze Blut in der Grube.
Jezo ſann ich umher, wie ich jedwede befragte.
Aber von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten: 230
Eilend zog ich das lange Schwert von der nervichten Huͤfte,
Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken.
Alſo nahten ſie ſich nach einander; jede beſonders
Meldete mir ihr Geſchlecht; und ſo befragt' ich ſie alle.

Jezo erblickt' ich zuerſt die edelentſproßene Tuͤro, 235

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0219" n="213"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Elfter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Meinen um&#x017F;chlingenden Armen; und &#x017F;ta&#x0364;rker ergriff mich die Wehmut.<lb/>
Und ich redte &#x017F;ie an, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte:</p><lb/>
        <p>Meine Mutter, warum entflieh&#x017F;t du meiner Umarmung? <note place="right">210</note><lb/>
Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Ha&#x0364;nden um&#x017F;chlungen,<lb/>
Un&#x017F;er trauriges Herz durch Thra&#x0364;nen einander erleichtern?<lb/>
Oder welches Gebild' hat die furchtbare Per&#x017F;efoneia<lb/>
Mir ge&#x017F;andt, damit ich noch mehr mein Elend be&#x017F;eufze?</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach ich; mir gab die trefliche Mutter zur Antwort: <note place="right">215</note><lb/>
Mein geliebte&#x017F;ter Sohn, unglu&#x0364;cklich&#x017F;ter aller, die leben!<lb/>
Ach! &#x017F;ie teu&#x017F;chet dich nicht, Zeus Tochter Per&#x017F;ofoneia!<lb/>
Sondern dies i&#x017F;t das Loos der Men&#x017F;chen, wann &#x017F;ie ge&#x017F;torben.<lb/>
Denn nicht Flei&#x017F;ch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden;<lb/>
Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret <note place="right">220</note><lb/>
Alles, &#x017F;obald der Gei&#x017F;t die weißen Gebeine verlaßen.<lb/>
Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe.<lb/>
Aber nun eile ge&#x017F;chwinde zum Lichte zuru&#x0364;ck, und behalte<lb/>
Alles, damit du es ein&#x017F;t der lieben Gattin erza&#x0364;hle&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o be&#x017F;prachen wir uns mit einander. Siehe da kamen <note place="right">225</note><lb/>
Viele Seelen, ge&#x017F;andt von der furchtbaren Per&#x017F;efoneia,<lb/>
Alle Gemahlinnen ein&#x017F;t und To&#x0364;chter der edel&#x017F;ten Helden.<lb/>
Die&#x017F;e ver&#x017F;ammelten &#x017F;ich um das &#x017F;chwarze Blut in der Grube.<lb/>
Jezo &#x017F;ann ich umher, wie ich jedwede befragte.<lb/>
Aber von allen Entwu&#x0364;rfen gefiel mir die&#x017F;er am beßten: <note place="right">230</note><lb/>
Eilend zog ich das lange Schwert von der nervichten Hu&#x0364;fte,<lb/>
Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken.<lb/>
Al&#x017F;o nahten &#x017F;ie &#x017F;ich nach einander; jede be&#x017F;onders<lb/>
Meldete mir ihr Ge&#x017F;chlecht; und &#x017F;o befragt' ich &#x017F;ie alle.</p><lb/>
        <p>Jezo erblickt' ich zuer&#x017F;t die edelent&#x017F;proßene Tu&#x0364;ro, <note place="right">235</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0219] Elfter Geſang. Meinen umſchlingenden Armen; und ſtaͤrker ergriff mich die Wehmut. Und ich redte ſie an, und ſprach die gefluͤgelten Worte: Meine Mutter, warum entfliehſt du meiner Umarmung? Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Haͤnden umſchlungen, Unſer trauriges Herz durch Thraͤnen einander erleichtern? Oder welches Gebild' hat die furchtbare Perſefoneia Mir geſandt, damit ich noch mehr mein Elend beſeufze? 210 Alſo ſprach ich; mir gab die trefliche Mutter zur Antwort: Mein geliebteſter Sohn, ungluͤcklichſter aller, die leben! Ach! ſie teuſchet dich nicht, Zeus Tochter Perſofoneia! Sondern dies iſt das Loos der Menſchen, wann ſie geſtorben. Denn nicht Fleiſch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden; Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret Alles, ſobald der Geiſt die weißen Gebeine verlaßen. Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe. Aber nun eile geſchwinde zum Lichte zuruͤck, und behalte Alles, damit du es einſt der lieben Gattin erzaͤhleſt. 215 220 Alſo beſprachen wir uns mit einander. Siehe da kamen Viele Seelen, geſandt von der furchtbaren Perſefoneia, Alle Gemahlinnen einſt und Toͤchter der edelſten Helden. Dieſe verſammelten ſich um das ſchwarze Blut in der Grube. Jezo ſann ich umher, wie ich jedwede befragte. Aber von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten: Eilend zog ich das lange Schwert von der nervichten Huͤfte, Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken. Alſo nahten ſie ſich nach einander; jede beſonders Meldete mir ihr Geſchlecht; und ſo befragt' ich ſie alle. 225 230 Jezo erblickt' ich zuerſt die edelentſproßene Tuͤro, 235

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/219
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/219>, abgerufen am 23.11.2024.