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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, fünftes Capitel.
die Mutter, deren geliebte Züge mich beym ersten An-
blik in deiner Gesichts-Bildung gerührt, und diese Be-
wegung erregt haben, die ich nun für die Stimme der
Natur erkenne. Du kennest mich zu gut, liebenswürdige
Danae, um dir meine Empfindungen in diesem Augen-
blike nicht lebhafter einznbilden, als ich sie beschreiben
könnte. Solche Augenblike sind keiner Beschreibung fä-
hig; für solche Freuden hat die Sprache keine Namen,
die Natur keine Bilder, und die Phantasie selbst keine
Farben. -- Das Beste ist, zu schweigen, und den
Zuhörer seinem eigenen Herzen zu überlassen. Mein
Vater schien durch meine Entzükung, welche sich lange
Zeit nur durch Thränen und sprachlose Umarmungen
und abgebrochene Töne der zärtlichsten Regungen, de-
ren die Natur fähig ist, ausdrüken konnte, doppelt
glüklich zu seyn. Das Vergnügen, womit er mich für
seinen Sohn erkannte, schien ihn selbst wieder in die
glüklichsten Augenblike seiner Jugend zu versezen, und
Erinnerungen wieder aufzuweken, denen mein Anblik
ein neues Leben gab. Da er natürlicher Weise voraus-
sezen konnte, daß ich begierig seyn werde, die Ursa-
chen zu wissen, welche meinen Vater, der mich mit so vie-
lem Vergnügen für seinen Sohn erkannte, hatten bewegen
können, mich so viele Jahre von sich verbannt zu hal-
ten; so gab er mir hierüber alle Erläuterungen, die ich
nur wünschen konnte, durch eine umständliche Erzäh-
lung der Geschichte seiner Liebe zu meiner Mutter.
Seine Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufälliger Weise
in einem Alter angefangen, worinn er noch gänzlich un-

ter
[Agath. I. Th.] X

Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel.
die Mutter, deren geliebte Zuͤge mich beym erſten An-
blik in deiner Geſichts-Bildung geruͤhrt, und dieſe Be-
wegung erregt haben, die ich nun fuͤr die Stimme der
Natur erkenne. Du kenneſt mich zu gut, liebenswuͤrdige
Danae, um dir meine Empfindungen in dieſem Augen-
blike nicht lebhafter einznbilden, als ich ſie beſchreiben
koͤnnte. Solche Augenblike ſind keiner Beſchreibung faͤ-
hig; fuͤr ſolche Freuden hat die Sprache keine Namen,
die Natur keine Bilder, und die Phantaſie ſelbſt keine
Farben. — Das Beſte iſt, zu ſchweigen, und den
Zuhoͤrer ſeinem eigenen Herzen zu uͤberlaſſen. Mein
Vater ſchien durch meine Entzuͤkung, welche ſich lange
Zeit nur durch Thraͤnen und ſprachloſe Umarmungen
und abgebrochene Toͤne der zaͤrtlichſten Regungen, de-
ren die Natur faͤhig iſt, ausdruͤken konnte, doppelt
gluͤklich zu ſeyn. Das Vergnuͤgen, womit er mich fuͤr
ſeinen Sohn erkannte, ſchien ihn ſelbſt wieder in die
gluͤklichſten Augenblike ſeiner Jugend zu verſezen, und
Erinnerungen wieder aufzuweken, denen mein Anblik
ein neues Leben gab. Da er natuͤrlicher Weiſe voraus-
ſezen konnte, daß ich begierig ſeyn werde, die Urſa-
chen zu wiſſen, welche meinen Vater, der mich mit ſo vie-
lem Vergnuͤgen fuͤr ſeinen Sohn erkannte, hatten bewegen
koͤnnen, mich ſo viele Jahre von ſich verbannt zu hal-
ten; ſo gab er mir hieruͤber alle Erlaͤuterungen, die ich
nur wuͤnſchen konnte, durch eine umſtaͤndliche Erzaͤh-
lung der Geſchichte ſeiner Liebe zu meiner Mutter.
Seine Bekanntſchaft mit ihr hatte ſich zufaͤlliger Weiſe
in einem Alter angefangen, worinn er noch gaͤnzlich un-

ter
[Agath. I. Th.] X
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[321/0343] Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. die Mutter, deren geliebte Zuͤge mich beym erſten An- blik in deiner Geſichts-Bildung geruͤhrt, und dieſe Be- wegung erregt haben, die ich nun fuͤr die Stimme der Natur erkenne. Du kenneſt mich zu gut, liebenswuͤrdige Danae, um dir meine Empfindungen in dieſem Augen- blike nicht lebhafter einznbilden, als ich ſie beſchreiben koͤnnte. Solche Augenblike ſind keiner Beſchreibung faͤ- hig; fuͤr ſolche Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die Phantaſie ſelbſt keine Farben. — Das Beſte iſt, zu ſchweigen, und den Zuhoͤrer ſeinem eigenen Herzen zu uͤberlaſſen. Mein Vater ſchien durch meine Entzuͤkung, welche ſich lange Zeit nur durch Thraͤnen und ſprachloſe Umarmungen und abgebrochene Toͤne der zaͤrtlichſten Regungen, de- ren die Natur faͤhig iſt, ausdruͤken konnte, doppelt gluͤklich zu ſeyn. Das Vergnuͤgen, womit er mich fuͤr ſeinen Sohn erkannte, ſchien ihn ſelbſt wieder in die gluͤklichſten Augenblike ſeiner Jugend zu verſezen, und Erinnerungen wieder aufzuweken, denen mein Anblik ein neues Leben gab. Da er natuͤrlicher Weiſe voraus- ſezen konnte, daß ich begierig ſeyn werde, die Urſa- chen zu wiſſen, welche meinen Vater, der mich mit ſo vie- lem Vergnuͤgen fuͤr ſeinen Sohn erkannte, hatten bewegen koͤnnen, mich ſo viele Jahre von ſich verbannt zu hal- ten; ſo gab er mir hieruͤber alle Erlaͤuterungen, die ich nur wuͤnſchen konnte, durch eine umſtaͤndliche Erzaͤh- lung der Geſchichte ſeiner Liebe zu meiner Mutter. Seine Bekanntſchaft mit ihr hatte ſich zufaͤlliger Weiſe in einem Alter angefangen, worinn er noch gaͤnzlich un- ter [Agath. I. Th.] X

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/343>, abgerufen am 23.11.2024.