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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842.

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Vorwort.
nicht als die Ursache, sondern stets nur als der Effect einer
Ursache angesehen werden.

So hat die Medizin, nach dem Vorbilde der aristotelischen
Philosophie, sich Vorstellungen geschaffen über Ernährung und
Blutbildung, man hat die Speisen classificirt in nahrhafte und
nichtnahrhafte; aber auf Beobachtungen gestützt, denen die
wesentlichsten Erfordernisse zu richtigen Schlüssen mangelten,
konnten diese Theorien nicht als Ausdrücke der Wahrheit gelten.

In welcher Klarheit erscheinen uns jetzt die Beziehungen
der Speisen zu den Zwecken, zu welchen sie im Thierkörper
dienen, seitdem die organische Chemie ihre quantitative Unter-
suchungsmethode auf ihre Ermittelung in Anwendung brachte!

Wenn eine magere 4 Pfund wiegende Gans in 36 Ta-
gen, während welchen sie mit 24 Pfund Welschkorn (Mays)
gemästet worden ist, 5 Pfund über ihr ursprüngliches Ge-
wicht zunimmt und man 31/2 Pfund reines Fett aus ihr ge-
winnt, so kann dieses Fett nicht fertig gebildet in der Nah-
rung gewesen sein, da diese noch nicht den tausendsten Theil
an Fett oder fettähnlichen Materien enthält. Und wenn eine
gewisse Anzahl Bienen, deren Gewicht man genau kennt,
mit reinem, wachsfreiem Honig gefüttert, für je 20 Theile
verbrauchten Honigs einen Theil Wachs liefern, ohne daß
sich sonst in ihrem Gesundheitszustande oder in ihrem Ge-
wichte etwas ändert, so kann man über die Erzeugung von
Fett in dem Thierkörper aus Zucker nicht im Zweifel sein.

Ganz ähnlich wie bei der Entscheidung der Frage über
die Fettbildung, verhält es sich mit der Erforschung des Ur-

Vorwort.
nicht als die Urſache, ſondern ſtets nur als der Effect einer
Urſache angeſehen werden.

So hat die Medizin, nach dem Vorbilde der ariſtoteliſchen
Philoſophie, ſich Vorſtellungen geſchaffen über Ernährung und
Blutbildung, man hat die Speiſen claſſificirt in nahrhafte und
nichtnahrhafte; aber auf Beobachtungen geſtützt, denen die
weſentlichſten Erforderniſſe zu richtigen Schlüſſen mangelten,
konnten dieſe Theorien nicht als Ausdrücke der Wahrheit gelten.

In welcher Klarheit erſcheinen uns jetzt die Beziehungen
der Speiſen zu den Zwecken, zu welchen ſie im Thierkörper
dienen, ſeitdem die organiſche Chemie ihre quantitative Unter-
ſuchungsmethode auf ihre Ermittelung in Anwendung brachte!

Wenn eine magere 4 Pfund wiegende Gans in 36 Ta-
gen, während welchen ſie mit 24 Pfund Welſchkorn (Mays)
gemäſtet worden iſt, 5 Pfund über ihr urſprüngliches Ge-
wicht zunimmt und man 3½ Pfund reines Fett aus ihr ge-
winnt, ſo kann dieſes Fett nicht fertig gebildet in der Nah-
rung geweſen ſein, da dieſe noch nicht den tauſendſten Theil
an Fett oder fettähnlichen Materien enthält. Und wenn eine
gewiſſe Anzahl Bienen, deren Gewicht man genau kennt,
mit reinem, wachsfreiem Honig gefüttert, für je 20 Theile
verbrauchten Honigs einen Theil Wachs liefern, ohne daß
ſich ſonſt in ihrem Geſundheitszuſtande oder in ihrem Ge-
wichte etwas ändert, ſo kann man über die Erzeugung von
Fett in dem Thierkörper aus Zucker nicht im Zweifel ſein.

Ganz ähnlich wie bei der Entſcheidung der Frage über
die Fettbildung, verhält es ſich mit der Erforſchung des Ur-

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[XII/0018] Vorwort. nicht als die Urſache, ſondern ſtets nur als der Effect einer Urſache angeſehen werden. So hat die Medizin, nach dem Vorbilde der ariſtoteliſchen Philoſophie, ſich Vorſtellungen geſchaffen über Ernährung und Blutbildung, man hat die Speiſen claſſificirt in nahrhafte und nichtnahrhafte; aber auf Beobachtungen geſtützt, denen die weſentlichſten Erforderniſſe zu richtigen Schlüſſen mangelten, konnten dieſe Theorien nicht als Ausdrücke der Wahrheit gelten. In welcher Klarheit erſcheinen uns jetzt die Beziehungen der Speiſen zu den Zwecken, zu welchen ſie im Thierkörper dienen, ſeitdem die organiſche Chemie ihre quantitative Unter- ſuchungsmethode auf ihre Ermittelung in Anwendung brachte! Wenn eine magere 4 Pfund wiegende Gans in 36 Ta- gen, während welchen ſie mit 24 Pfund Welſchkorn (Mays) gemäſtet worden iſt, 5 Pfund über ihr urſprüngliches Ge- wicht zunimmt und man 3½ Pfund reines Fett aus ihr ge- winnt, ſo kann dieſes Fett nicht fertig gebildet in der Nah- rung geweſen ſein, da dieſe noch nicht den tauſendſten Theil an Fett oder fettähnlichen Materien enthält. Und wenn eine gewiſſe Anzahl Bienen, deren Gewicht man genau kennt, mit reinem, wachsfreiem Honig gefüttert, für je 20 Theile verbrauchten Honigs einen Theil Wachs liefern, ohne daß ſich ſonſt in ihrem Geſundheitszuſtande oder in ihrem Ge- wichte etwas ändert, ſo kann man über die Erzeugung von Fett in dem Thierkörper aus Zucker nicht im Zweifel ſein. Ganz ähnlich wie bei der Entſcheidung der Frage über die Fettbildung, verhält es ſich mit der Erforſchung des Ur-

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Zitationshilfe: Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842, S. XII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_physiologie_1842/18>, abgerufen am 27.04.2024.