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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842.

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Respiration und Ernährung.

Was hat die Psyche, was hat Bewußtsein und Geist mit
der Entwickelung des menschlichen Fötus, mit der des Fö-
tus im Hühnerei zu schaffen? gewiß nicht mehr als sie An-
theil nimmt an der Entwickelung des Samens einer Pflanze!
Suchen wir vor der Hand die nicht psychischen Erscheinun-
gen auf ihre letzten Ursachen zurückzuführen, und hüten wir
uns vor Schlüssen, ehe wir eine Grundlage haben. Wir
kennen genau den Mechanismus des Auges, allein weder
die Anatomie, noch Chemie wird uns jemals Aufschluß ge-
ben, wie der Lichtstrahl zum Bewußtsein gelangt. Die Na-
turforschung hat eine bestimmte Grenze, die sie nicht über-
schreiten darf, sie muß sich stets daran erinnern, daß mit al-
len Entdeckungen nicht in Erfahrung gebracht werden kann,
was Licht, Elektricität und Magnetismus für Dinge sind,
eben weil der menschliche Geist nur Vorstellungen hat für
Dinge, welche Materialität besitzen. Wir können aber die
Gesetze ihres Zustands der Ruhe und der Bewegung erfor-
schen, eben weil sie sich in Erscheinungen äußern. So kön-
nen zweifellos die Gesetze des Lebens und Alles, was sie
stört, befördert oder ändert, erforscht werden, ohne daß man
jemals wissen wird, was das Leben ist; so führte die Er-
forschung der Gesetze des Falles und der Bewegung der
Himmelskörper auf eine vorher nie gedachte Vorstellung über
ihre Ursache. Diese Vorstellung konnte in ihrer Klarheit
nicht entstehen ohne die Kenntniß der Erscheinungen, aus
denen sie sich entwickelte; an und für sich ist ja die Schwer-
kraft, wie das Licht für einen Blindgebornen, ein bloßes Wort.


Reſpiration und Ernährung.

Was hat die Pſyche, was hat Bewußtſein und Geiſt mit
der Entwickelung des menſchlichen Fötus, mit der des Fö-
tus im Hühnerei zu ſchaffen? gewiß nicht mehr als ſie An-
theil nimmt an der Entwickelung des Samens einer Pflanze!
Suchen wir vor der Hand die nicht pſychiſchen Erſcheinun-
gen auf ihre letzten Urſachen zurückzuführen, und hüten wir
uns vor Schlüſſen, ehe wir eine Grundlage haben. Wir
kennen genau den Mechanismus des Auges, allein weder
die Anatomie, noch Chemie wird uns jemals Aufſchluß ge-
ben, wie der Lichtſtrahl zum Bewußtſein gelangt. Die Na-
turforſchung hat eine beſtimmte Grenze, die ſie nicht über-
ſchreiten darf, ſie muß ſich ſtets daran erinnern, daß mit al-
len Entdeckungen nicht in Erfahrung gebracht werden kann,
was Licht, Elektricität und Magnetismus für Dinge ſind,
eben weil der menſchliche Geiſt nur Vorſtellungen hat für
Dinge, welche Materialität beſitzen. Wir können aber die
Geſetze ihres Zuſtands der Ruhe und der Bewegung erfor-
ſchen, eben weil ſie ſich in Erſcheinungen äußern. So kön-
nen zweifellos die Geſetze des Lebens und Alles, was ſie
ſtört, befördert oder ändert, erforſcht werden, ohne daß man
jemals wiſſen wird, was das Leben iſt; ſo führte die Er-
forſchung der Geſetze des Falles und der Bewegung der
Himmelskörper auf eine vorher nie gedachte Vorſtellung über
ihre Urſache. Dieſe Vorſtellung konnte in ihrer Klarheit
nicht entſtehen ohne die Kenntniß der Erſcheinungen, aus
denen ſie ſich entwickelte; an und für ſich iſt ja die Schwer-
kraft, wie das Licht für einen Blindgebornen, ein bloßes Wort.


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[7/0031] Reſpiration und Ernährung. Was hat die Pſyche, was hat Bewußtſein und Geiſt mit der Entwickelung des menſchlichen Fötus, mit der des Fö- tus im Hühnerei zu ſchaffen? gewiß nicht mehr als ſie An- theil nimmt an der Entwickelung des Samens einer Pflanze! Suchen wir vor der Hand die nicht pſychiſchen Erſcheinun- gen auf ihre letzten Urſachen zurückzuführen, und hüten wir uns vor Schlüſſen, ehe wir eine Grundlage haben. Wir kennen genau den Mechanismus des Auges, allein weder die Anatomie, noch Chemie wird uns jemals Aufſchluß ge- ben, wie der Lichtſtrahl zum Bewußtſein gelangt. Die Na- turforſchung hat eine beſtimmte Grenze, die ſie nicht über- ſchreiten darf, ſie muß ſich ſtets daran erinnern, daß mit al- len Entdeckungen nicht in Erfahrung gebracht werden kann, was Licht, Elektricität und Magnetismus für Dinge ſind, eben weil der menſchliche Geiſt nur Vorſtellungen hat für Dinge, welche Materialität beſitzen. Wir können aber die Geſetze ihres Zuſtands der Ruhe und der Bewegung erfor- ſchen, eben weil ſie ſich in Erſcheinungen äußern. So kön- nen zweifellos die Geſetze des Lebens und Alles, was ſie ſtört, befördert oder ändert, erforſcht werden, ohne daß man jemals wiſſen wird, was das Leben iſt; ſo führte die Er- forſchung der Geſetze des Falles und der Bewegung der Himmelskörper auf eine vorher nie gedachte Vorſtellung über ihre Urſache. Dieſe Vorſtellung konnte in ihrer Klarheit nicht entſtehen ohne die Kenntniß der Erſcheinungen, aus denen ſie ſich entwickelte; an und für ſich iſt ja die Schwer- kraft, wie das Licht für einen Blindgebornen, ein bloßes Wort.

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Zitationshilfe: Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_physiologie_1842/31>, abgerufen am 26.04.2024.