Adler, Emma: Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795. Wien, 1906.übrig, als ihn zu beklagen und über sein Schicksal zu seufzen. Wäre der Gefangenwärter damals zufällig nüchtern gewesen, als er die Schriften an Herrn v. Gourgue zu übermitteln übernahm, so weiss man nun die Aussichten, die Latude gehabt hätte! Als Herr Legros heimkam, sagte er seiner Frau, dass der Präsident v. Gourgue Latudes Verteidigung nicht übernehmen wolle. Sie war ausser sich. Sie las wieder die Darstellung seines Unglückes durch und war von der Wahrheit des Inhaltes völlig überzeugt. Sie erfüllte sich ganz mit dem Geiste, der jene diktiert hatte; an der Art, wie Latude seine Leiden schilderte, erkannte sie, dass er alle Bitternisse seiner Lage empfand; sie sah ein, dass ein Wahnsinniger sich nie so auszudrücken vermocht hätte, dass er sich nur aufzuregen, umherzuschlagen und sich von den Ketten, die so schwer drückten, zu befreien gesucht hätte, dass er aber nie jene kühne Sprache der Unschuld zu sprechen verstanden hätte, die sich nicht zum Betteln erniedrigen kann wie das Verbrechen. All diese Vorstellungen entflammten sie und klärten sie gleichzeitig auf, so dass sie nicht in denselben Irrtum verfiel wie der Präsident v. Gourgue. Auch die Tatsache, dass man Latude keines Verbrechens beschuldigen konnte, sondern ihn einfach für wahnsinnig, für einen gefährlichen Narren erklärte, machte sie stutzig. Die Lektüre so vieler unmenschlicher Qualen rührte ihre empfindsame Seele und gleichzeitig erfasste sie ein Gefühl unsagbarer Empörung. Anfangs behielt sie alle ihre Pläne für sich, und pflegte während vieler Monate eifrig Nachforschungen, bis es ihr gelang, sich von der Wahrheit des Briefes und der Unschuld des Häftlings zu überzeugen. Dann aber machte sie seine Angelegenheit zu der ihrigen, wobei sie ihre eigenen Pflichten und Sorgen völlig vergass und drei Jahre hindurch keinem andern Gedanken zugänglich war, als den, einen ihr völlig Fremden, einen vom Unglück so sehr verfolgten Menschen zu befreien. Sie hatte weder einflussreiche Verwandte noch übrig, als ihn zu beklagen und über sein Schicksal zu seufzen. Wäre der Gefangenwärter damals zufällig nüchtern gewesen, als er die Schriften an Herrn v. Gourgue zu übermitteln übernahm, so weiss man nun die Aussichten, die Latude gehabt hätte! Als Herr Legros heimkam, sagte er seiner Frau, dass der Präsident v. Gourgue Latudes Verteidigung nicht übernehmen wolle. Sie war ausser sich. Sie las wieder die Darstellung seines Unglückes durch und war von der Wahrheit des Inhaltes völlig überzeugt. Sie erfüllte sich ganz mit dem Geiste, der jene diktiert hatte; an der Art, wie Latude seine Leiden schilderte, erkannte sie, dass er alle Bitternisse seiner Lage empfand; sie sah ein, dass ein Wahnsinniger sich nie so auszudrücken vermocht hätte, dass er sich nur aufzuregen, umherzuschlagen und sich von den Ketten, die so schwer drückten, zu befreien gesucht hätte, dass er aber nie jene kühne Sprache der Unschuld zu sprechen verstanden hätte, die sich nicht zum Betteln erniedrigen kann wie das Verbrechen. All diese Vorstellungen entflammten sie und klärten sie gleichzeitig auf, so dass sie nicht in denselben Irrtum verfiel wie der Präsident v. Gourgue. Auch die Tatsache, dass man Latude keines Verbrechens beschuldigen konnte, sondern ihn einfach für wahnsinnig, für einen gefährlichen Narren erklärte, machte sie stutzig. Die Lektüre so vieler unmenschlicher Qualen rührte ihre empfindsame Seele und gleichzeitig erfasste sie ein Gefühl unsagbarer Empörung. Anfangs behielt sie alle ihre Pläne für sich, und pflegte während vieler Monate eifrig Nachforschungen, bis es ihr gelang, sich von der Wahrheit des Briefes und der Unschuld des Häftlings zu überzeugen. Dann aber machte sie seine Angelegenheit zu der ihrigen, wobei sie ihre eigenen Pflichten und Sorgen völlig vergass und drei Jahre hindurch keinem andern Gedanken zugänglich war, als den, einen ihr völlig Fremden, einen vom Unglück so sehr verfolgten Menschen zu befreien. Sie hatte weder einflussreiche Verwandte noch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="6"/> übrig, als ihn zu beklagen und über sein Schicksal zu seufzen. Wäre der Gefangenwärter damals zufällig nüchtern gewesen, als er die Schriften an Herrn v. Gourgue zu übermitteln übernahm, so weiss man nun die Aussichten, die Latude gehabt hätte!</p> <p>Als Herr Legros heimkam, sagte er seiner Frau, dass der Präsident v. Gourgue Latudes Verteidigung nicht übernehmen wolle. Sie war ausser sich. Sie las wieder die Darstellung seines Unglückes durch und war von der Wahrheit des Inhaltes völlig überzeugt. Sie erfüllte sich ganz mit dem Geiste, der jene diktiert hatte; an der Art, wie Latude seine Leiden schilderte, erkannte sie, dass er alle Bitternisse seiner Lage empfand; sie sah ein, dass ein Wahnsinniger sich nie so auszudrücken vermocht hätte, dass er sich nur aufzuregen, umherzuschlagen und sich von den Ketten, die so schwer drückten, zu befreien gesucht hätte, dass er aber nie jene kühne Sprache der Unschuld zu sprechen verstanden hätte, die sich nicht zum Betteln erniedrigen kann wie das Verbrechen. All diese Vorstellungen entflammten sie und klärten sie gleichzeitig auf, so dass sie nicht in denselben Irrtum verfiel wie der Präsident v. Gourgue.</p> <p>Auch die Tatsache, dass man Latude keines Verbrechens beschuldigen konnte, sondern ihn einfach für wahnsinnig, für einen gefährlichen Narren erklärte, machte sie stutzig. Die Lektüre so vieler unmenschlicher Qualen rührte ihre empfindsame Seele und gleichzeitig erfasste sie ein Gefühl unsagbarer Empörung. Anfangs behielt sie alle ihre Pläne für sich, und pflegte während vieler Monate eifrig Nachforschungen, bis es ihr gelang, sich von der Wahrheit des Briefes und der Unschuld des Häftlings zu überzeugen. Dann aber machte sie seine Angelegenheit zu der ihrigen, wobei sie ihre eigenen Pflichten und Sorgen völlig vergass und drei Jahre hindurch keinem andern Gedanken zugänglich war, als den, einen ihr völlig Fremden, einen vom Unglück so sehr verfolgten Menschen zu befreien. Sie hatte weder einflussreiche Verwandte noch </p> </div> </body> </text> </TEI> [6/0022]
übrig, als ihn zu beklagen und über sein Schicksal zu seufzen. Wäre der Gefangenwärter damals zufällig nüchtern gewesen, als er die Schriften an Herrn v. Gourgue zu übermitteln übernahm, so weiss man nun die Aussichten, die Latude gehabt hätte!
Als Herr Legros heimkam, sagte er seiner Frau, dass der Präsident v. Gourgue Latudes Verteidigung nicht übernehmen wolle. Sie war ausser sich. Sie las wieder die Darstellung seines Unglückes durch und war von der Wahrheit des Inhaltes völlig überzeugt. Sie erfüllte sich ganz mit dem Geiste, der jene diktiert hatte; an der Art, wie Latude seine Leiden schilderte, erkannte sie, dass er alle Bitternisse seiner Lage empfand; sie sah ein, dass ein Wahnsinniger sich nie so auszudrücken vermocht hätte, dass er sich nur aufzuregen, umherzuschlagen und sich von den Ketten, die so schwer drückten, zu befreien gesucht hätte, dass er aber nie jene kühne Sprache der Unschuld zu sprechen verstanden hätte, die sich nicht zum Betteln erniedrigen kann wie das Verbrechen. All diese Vorstellungen entflammten sie und klärten sie gleichzeitig auf, so dass sie nicht in denselben Irrtum verfiel wie der Präsident v. Gourgue.
Auch die Tatsache, dass man Latude keines Verbrechens beschuldigen konnte, sondern ihn einfach für wahnsinnig, für einen gefährlichen Narren erklärte, machte sie stutzig. Die Lektüre so vieler unmenschlicher Qualen rührte ihre empfindsame Seele und gleichzeitig erfasste sie ein Gefühl unsagbarer Empörung. Anfangs behielt sie alle ihre Pläne für sich, und pflegte während vieler Monate eifrig Nachforschungen, bis es ihr gelang, sich von der Wahrheit des Briefes und der Unschuld des Häftlings zu überzeugen. Dann aber machte sie seine Angelegenheit zu der ihrigen, wobei sie ihre eigenen Pflichten und Sorgen völlig vergass und drei Jahre hindurch keinem andern Gedanken zugänglich war, als den, einen ihr völlig Fremden, einen vom Unglück so sehr verfolgten Menschen zu befreien. Sie hatte weder einflussreiche Verwandte noch
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