Essenzfläschchen aus der Tasche gezogen und tupfte, vorsichtig Tropfen davon auf den Finger gießend, über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre Glossen, es waren keine freundliche. Ein Glück für die Ohnmächtige, daß sie nichts davon hörte. Ihr Begleiter hörte und verstand sie, aber keine Miene, kein Blick verrieth eine innere Bewegung.
Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war, lüftete er vorsichtig das Tuch, das sie um sich ge¬ schlungen: "In der That ein Prachtwerk der Schöp¬ ferin. Fast zu schön, um es zu verschwenden, setzte er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verschwen¬ deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer Raritätensammlung."
Erst die Tropfen aus dem letzten Fläschchen, die er noch behutsamer anwandte, brachten die Wirkung, die er beabsichtigt, hervor. Es mußte eine sehr starke, gefährliche Essenz sein, denn nur, nachdem er verdrießlich nach der Uhr und der Sonne gesehen, und die Schläferin ohne daß sie erwachte, stark am Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapsel und den Stöpsel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬ ven, die der Retter nicht beabsichtigt hatte. Sie er¬ hob sich und sprach in Extase. Es war das schöne Metall der Stimme, das vorhin fast berauschend in's Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein
Eſſenzfläſchchen aus der Taſche gezogen und tupfte, vorſichtig Tropfen davon auf den Finger gießend, über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre Gloſſen, es waren keine freundliche. Ein Glück für die Ohnmächtige, daß ſie nichts davon hörte. Ihr Begleiter hörte und verſtand ſie, aber keine Miene, kein Blick verrieth eine innere Bewegung.
Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war, lüftete er vorſichtig das Tuch, das ſie um ſich ge¬ ſchlungen: „In der That ein Prachtwerk der Schöp¬ ferin. Faſt zu ſchön, um es zu verſchwenden, ſetzte er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verſchwen¬ deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer Raritätenſammlung.“
Erſt die Tropfen aus dem letzten Fläſchchen, die er noch behutſamer anwandte, brachten die Wirkung, die er beabſichtigt, hervor. Es mußte eine ſehr ſtarke, gefährliche Eſſenz ſein, denn nur, nachdem er verdrießlich nach der Uhr und der Sonne geſehen, und die Schläferin ohne daß ſie erwachte, ſtark am Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapſel und den Stöpſel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬ ven, die der Retter nicht beabſichtigt hatte. Sie er¬ hob ſich und ſprach in Extaſe. Es war das ſchöne Metall der Stimme, das vorhin faſt berauſchend in's Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein
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Eſſenzfläſchchen aus der Taſche gezogen und tupfte,
vorſichtig Tropfen davon auf den Finger gießend,
über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre
Gloſſen, es waren keine freundliche. Ein Glück für
die Ohnmächtige, daß ſie nichts davon hörte. Ihr
Begleiter hörte und verſtand ſie, aber keine Miene,
kein Blick verrieth eine innere Bewegung.
Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner
ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war,
lüftete er vorſichtig das Tuch, das ſie um ſich ge¬
ſchlungen: „In der That ein Prachtwerk der Schöp¬
ferin. Faſt zu ſchön, um es zu verſchwenden, ſetzte
er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verſchwen¬
deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer
Raritätenſammlung.“
Erſt die Tropfen aus dem letzten Fläſchchen, die
er noch behutſamer anwandte, brachten die Wirkung,
die er beabſichtigt, hervor. Es mußte eine ſehr
ſtarke, gefährliche Eſſenz ſein, denn nur, nachdem er
verdrießlich nach der Uhr und der Sonne geſehen,
und die Schläferin ohne daß ſie erwachte, ſtark am
Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapſel und
den Stöpſel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre
Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre
Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬
ven, die der Retter nicht beabſichtigt hatte. Sie er¬
hob ſich und ſprach in Extaſe. Es war das ſchöne
Metall der Stimme, das vorhin faſt berauſchend in's
Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/324>, abgerufen am 24.11.2024.
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