der Sack'schen Familienstiftung zu Glogau, zum Unterricht für Stiftsberechtigte." Sie hatten eben die Presse verlassen. "Die Lectüre soll mich heut Nacht erquicken!" sagte Bovillard und steckte das Heft in die Tasche.
Er maß die Schritte von der Quadriga bis zu Prinz Heinrichs Palais; sieben Mal hatte er die Länge der Linden gemessen und nichts gesehen, als welke Blätter. Die Gesichter, denen er begegnete, die Blätter, die der Staubwind um seine Füße kräu¬ selte, verschmolzen sich. Seine Phantasie schweifte in eine Wüste; er grübelte, warum die Natur ihnen die Quellen versagt, warum keine Erdbeben die Sahara erschüttern; Vulcane erheben sich doch aus dem Meere.
Er saß in einer Weinstube. Er hörte viele Stimmen. Viele Stimmen machen eine Stimmung. Männer der Wissenschaft zu seiner Linken, Männer der Praxis zur Rechten, Männer der Kunst kamen, als das Theater aus war. Man sprach links und rechts vom Fortschritt. Wie viel öffentliche Vor¬ lesungen befriedigten nicht die Wißbegier! Klaproth über Chemie für Jedermann, Fischer über Expe¬ rimentalphysik und der gelehrte Bendavid las gar über Geschmackslehre! Aber dann brauste der Streit von der Rechten zur Linken, und im Centrum über das Stück des Tages: "Die Organe des Gehirns." Wer war größer, Kotzebue oder Iffland? Kotzebue, der mit beißender Kritik, mit übersprudelnder Laune, die neue Chimäre der Wissenschaft geißelte, der Gall
der Sack'ſchen Familienſtiftung zu Glogau, zum Unterricht für Stiftsberechtigte.“ Sie hatten eben die Preſſe verlaſſen. „Die Lectüre ſoll mich heut Nacht erquicken!“ ſagte Bovillard und ſteckte das Heft in die Taſche.
Er maß die Schritte von der Quadriga bis zu Prinz Heinrichs Palais; ſieben Mal hatte er die Länge der Linden gemeſſen und nichts geſehen, als welke Blätter. Die Geſichter, denen er begegnete, die Blätter, die der Staubwind um ſeine Füße kräu¬ ſelte, verſchmolzen ſich. Seine Phantaſie ſchweifte in eine Wüſte; er grübelte, warum die Natur ihnen die Quellen verſagt, warum keine Erdbeben die Sahara erſchüttern; Vulcane erheben ſich doch aus dem Meere.
Er ſaß in einer Weinſtube. Er hörte viele Stimmen. Viele Stimmen machen eine Stimmung. Männer der Wiſſenſchaft zu ſeiner Linken, Männer der Praxis zur Rechten, Männer der Kunſt kamen, als das Theater aus war. Man ſprach links und rechts vom Fortſchritt. Wie viel öffentliche Vor¬ leſungen befriedigten nicht die Wißbegier! Klaproth über Chemie für Jedermann, Fiſcher über Expe¬ rimentalphyſik und der gelehrte Bendavid las gar über Geſchmackslehre! Aber dann brauſte der Streit von der Rechten zur Linken, und im Centrum über das Stück des Tages: „Die Organe des Gehirns.“ Wer war größer, Kotzebue oder Iffland? Kotzebue, der mit beißender Kritik, mit überſprudelnder Laune, die neue Chimäre der Wiſſenſchaft geißelte, der Gall
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der Sack'ſchen Familienſtiftung zu Glogau, zum
Unterricht für Stiftsberechtigte.“ Sie hatten eben
die Preſſe verlaſſen. „Die Lectüre ſoll mich heut
Nacht erquicken!“ ſagte Bovillard und ſteckte das
Heft in die Taſche.
Er maß die Schritte von der Quadriga bis zu
Prinz Heinrichs Palais; ſieben Mal hatte er die
Länge der Linden gemeſſen und nichts geſehen, als
welke Blätter. Die Geſichter, denen er begegnete,
die Blätter, die der Staubwind um ſeine Füße kräu¬
ſelte, verſchmolzen ſich. Seine Phantaſie ſchweifte in
eine Wüſte; er grübelte, warum die Natur ihnen die
Quellen verſagt, warum keine Erdbeben die Sahara
erſchüttern; Vulcane erheben ſich doch aus dem Meere.
Er ſaß in einer Weinſtube. Er hörte viele
Stimmen. Viele Stimmen machen eine Stimmung.
Männer der Wiſſenſchaft zu ſeiner Linken, Männer
der Praxis zur Rechten, Männer der Kunſt kamen,
als das Theater aus war. Man ſprach links und
rechts vom Fortſchritt. Wie viel öffentliche Vor¬
leſungen befriedigten nicht die Wißbegier! Klaproth
über Chemie für Jedermann, Fiſcher über Expe¬
rimentalphyſik und der gelehrte Bendavid las gar
über Geſchmackslehre! Aber dann brauſte der Streit
von der Rechten zur Linken, und im Centrum über
das Stück des Tages: „Die Organe des Gehirns.“
Wer war größer, Kotzebue oder Iffland? Kotzebue,
der mit beißender Kritik, mit überſprudelnder Laune,
die neue Chimäre der Wiſſenſchaft geißelte, der Gall
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/325>, abgerufen am 29.11.2024.
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