"Ich wünschte, Sie changirten, sagte die Für¬ stin ernst. -- Hat Sie der Anblick des jungen Mäd¬ chens nie gerührt? Zuweilen -- wenn ich sah, wie alle Verlockungen und Verführungskünste von ihr abglitten -- ja, zuweilen überkam es mich, ob sie nicht in einem unmittelbaren Schutze steht."
"Die Hand des Schutzengels, den der Himmel ihr gesandt, drücke ich jetzt an meine Lippen. A revoir! Uebrigens habe ich ja auch ein wenig den Engel agirt."
Die Gargazin riß die Hand zurück und ihr stra¬ fender Blick hätte ihn zum Schweigen auffordern sollen, aber er schwieg nicht:
"So war uns die Rolle des Verführers zuge¬ wiesen. Jede Rolle ist gut, wenn man sie nur gut spielt. Sie schaudern, es ist ein frostiger October¬ morgen. Sie werden sich erkälten, Sie sollten sich wieder zur Ruhe legen."
"Ich schaudre, doch ich friere nicht."
Er sah verwundert, als sie nach der Klingel¬ schnur griff.
"Ich will nach der Hedwigskirche. -- Wenn Sie gesündigt, fühlen Sie dann nie das Bedürfniß, Ihr Herz auszuschütten? Haben Sie gar keine Empfin¬ dung, keine Ahnung davon, welche Erleichterung, Wohlthat es ist, so belastet und gedrückt sich in den Staub zu werfen, und im Bekenntniß, in der Beichte zu den Füßen eines plenipotentiaire der Allmacht alles das niederzulegen, und jeden Winkel in uns aus¬ zukehren? Glauben Sie mir, es ist nur schwer, wenn
„Ich wünſchte, Sie changirten, ſagte die Für¬ ſtin ernſt. — Hat Sie der Anblick des jungen Mäd¬ chens nie gerührt? Zuweilen — wenn ich ſah, wie alle Verlockungen und Verführungskünſte von ihr abglitten — ja, zuweilen überkam es mich, ob ſie nicht in einem unmittelbaren Schutze ſteht.“
„Die Hand des Schutzengels, den der Himmel ihr geſandt, drücke ich jetzt an meine Lippen. A revoir! Uebrigens habe ich ja auch ein wenig den Engel agirt.“
Die Gargazin riß die Hand zurück und ihr ſtra¬ fender Blick hätte ihn zum Schweigen auffordern ſollen, aber er ſchwieg nicht:
„So war uns die Rolle des Verführers zuge¬ wieſen. Jede Rolle iſt gut, wenn man ſie nur gut ſpielt. Sie ſchaudern, es iſt ein froſtiger October¬ morgen. Sie werden ſich erkälten, Sie ſollten ſich wieder zur Ruhe legen.“
„Ich ſchaudre, doch ich friere nicht.“
Er ſah verwundert, als ſie nach der Klingel¬ ſchnur griff.
„Ich will nach der Hedwigskirche. — Wenn Sie geſündigt, fühlen Sie dann nie das Bedürfniß, Ihr Herz auszuſchütten? Haben Sie gar keine Empfin¬ dung, keine Ahnung davon, welche Erleichterung, Wohlthat es iſt, ſo belaſtet und gedrückt ſich in den Staub zu werfen, und im Bekenntniß, in der Beichte zu den Füßen eines plénipotentiaire der Allmacht alles das niederzulegen, und jeden Winkel in uns aus¬ zukehren? Glauben Sie mir, es iſt nur ſchwer, wenn
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„Ich wünſchte, Sie changirten, ſagte die Für¬
ſtin ernſt. — Hat Sie der Anblick des jungen Mäd¬
chens nie gerührt? Zuweilen — wenn ich ſah, wie
alle Verlockungen und Verführungskünſte von ihr
abglitten — ja, zuweilen überkam es mich, ob ſie
nicht in einem unmittelbaren Schutze ſteht.“
„Die Hand des Schutzengels, den der Himmel
ihr geſandt, drücke ich jetzt an meine Lippen. A revoir!
Uebrigens habe ich ja auch ein wenig den Engel agirt.“
Die Gargazin riß die Hand zurück und ihr ſtra¬
fender Blick hätte ihn zum Schweigen auffordern
ſollen, aber er ſchwieg nicht:
„So war uns die Rolle des Verführers zuge¬
wieſen. Jede Rolle iſt gut, wenn man ſie nur gut
ſpielt. Sie ſchaudern, es iſt ein froſtiger October¬
morgen. Sie werden ſich erkälten, Sie ſollten ſich
wieder zur Ruhe legen.“
„Ich ſchaudre, doch ich friere nicht.“
Er ſah verwundert, als ſie nach der Klingel¬
ſchnur griff.
„Ich will nach der Hedwigskirche. — Wenn Sie
geſündigt, fühlen Sie dann nie das Bedürfniß, Ihr
Herz auszuſchütten? Haben Sie gar keine Empfin¬
dung, keine Ahnung davon, welche Erleichterung,
Wohlthat es iſt, ſo belaſtet und gedrückt ſich in den
Staub zu werfen, und im Bekenntniß, in der Beichte
zu den Füßen eines plénipotentiaire der Allmacht
alles das niederzulegen, und jeden Winkel in uns aus¬
zukehren? Glauben Sie mir, es iſt nur ſchwer, wenn
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/181>, abgerufen am 24.11.2024.
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