Die Königin hatte schweigend dagesessen. Jetzt öffnete sie die Lippen: "Weshalb, meine Freunde, weil wir traurig sind und Millionen mit uns, sollen Alle trauern! Hat die Vorsehung es nicht so gefügt, daß, während es hier Nacht ist, jenseits der Erde die Sonne scheint, und wir wissen, daß, wenn es dort dunkelt, hier der Tag anbricht. Wenn wir Alle in Finsterniß und Trauer vergingen, wie sollte der Hoff¬ nungsstrahl uns erleuchten! Freuen wir uns doch, daß nicht alle Herzen brechen, daß sie sogar noch lachen können, während wir blutige Thränen weinen. Die heute ausruhen, sind morgen wach. -- Ich will es als eine gute Vorbedeutung nehmen, daß wir eine Hochzeit, Lachende und Frohe sahen beim Abschied aus Berlin. Wir werden es wiedersehn."
Als sie, um von der Höhe einen letzten Scheide¬ blick auf die Königsstadt zu werfen, den Kopf aus dem Fenster steckte, theilte sich der Herbstnebel am Horizont und die Sonne strahlte aus dem blauen Firmament. Sie horchte auf die Lerchen in der Luft. Ob sie das Lied verstand? Es war kein letzter Seufzer des Mohrenkönigs, als er sein Wehe mir, Alhama! auf dem Berge sang, von dem er zum letzten Mal sein geliebtes Granada sah.
Druck von Eduard Krause in Berlin.
Die Königin hatte ſchweigend dageſeſſen. Jetzt öffnete ſie die Lippen: „Weshalb, meine Freunde, weil wir traurig ſind und Millionen mit uns, ſollen Alle trauern! Hat die Vorſehung es nicht ſo gefügt, daß, während es hier Nacht iſt, jenſeits der Erde die Sonne ſcheint, und wir wiſſen, daß, wenn es dort dunkelt, hier der Tag anbricht. Wenn wir Alle in Finſterniß und Trauer vergingen, wie ſollte der Hoff¬ nungsſtrahl uns erleuchten! Freuen wir uns doch, daß nicht alle Herzen brechen, daß ſie ſogar noch lachen können, während wir blutige Thränen weinen. Die heute ausruhen, ſind morgen wach. — Ich will es als eine gute Vorbedeutung nehmen, daß wir eine Hochzeit, Lachende und Frohe ſahen beim Abſchied aus Berlin. Wir werden es wiederſehn.“
Als ſie, um von der Höhe einen letzten Scheide¬ blick auf die Königsſtadt zu werfen, den Kopf aus dem Fenſter ſteckte, theilte ſich der Herbſtnebel am Horizont und die Sonne ſtrahlte aus dem blauen Firmament. Sie horchte auf die Lerchen in der Luft. Ob ſie das Lied verſtand? Es war kein letzter Seufzer des Mohrenkönigs, als er ſein Wehe mir, Alhama! auf dem Berge ſang, von dem er zum letzten Mal ſein geliebtes Granada ſah.
Druck von Eduard Krauſe in Berlin.
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Die Königin hatte ſchweigend dageſeſſen. Jetzt
öffnete ſie die Lippen: „Weshalb, meine Freunde,
weil wir traurig ſind und Millionen mit uns, ſollen
Alle trauern! Hat die Vorſehung es nicht ſo gefügt,
daß, während es hier Nacht iſt, jenſeits der Erde die
Sonne ſcheint, und wir wiſſen, daß, wenn es dort
dunkelt, hier der Tag anbricht. Wenn wir Alle in
Finſterniß und Trauer vergingen, wie ſollte der Hoff¬
nungsſtrahl uns erleuchten! Freuen wir uns doch,
daß nicht alle Herzen brechen, daß ſie ſogar noch lachen
können, während wir blutige Thränen weinen. Die
heute ausruhen, ſind morgen wach. — Ich will es
als eine gute Vorbedeutung nehmen, daß wir eine
Hochzeit, Lachende und Frohe ſahen beim Abſchied
aus Berlin. Wir werden es wiederſehn.“
Als ſie, um von der Höhe einen letzten Scheide¬
blick auf die Königsſtadt zu werfen, den Kopf aus
dem Fenſter ſteckte, theilte ſich der Herbſtnebel am
Horizont und die Sonne ſtrahlte aus dem blauen
Firmament. Sie horchte auf die Lerchen in der Luft.
Ob ſie das Lied verſtand? Es war kein letzter Seufzer
des Mohrenkönigs, als er ſein Wehe mir, Alhama!
auf dem Berge ſang, von dem er zum letzten Mal
ſein geliebtes Granada ſah.
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/394>, abgerufen am 24.11.2024.
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