Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die
schlesische Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich ein¬
gesargt im tiefen weißen Winterschnee. Bei diesem
Wetter waren die winkligen Gassen trotz der Weihnachts¬
zeit noch stiller, noch menschenleerer als sonst, und in den
Häusern brannten die Lampen hinter fest zugezogenen
Vorhängen.

Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten
Laternenschein nicht gerade viel erkennen, aber das sah
ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade
die alte charakteristische Stadtphysiognomie sich im Lauf
der Jahre verjüngt zu haben schien. Schon vermißte
ich an den schmalen alten Häusern hier und da das
köstlichste Giebelwerk, und überall hatte die schlechte Glätte
billiger Modernisierung begonnen, die verfallende Schön¬
heit zu ersetzen. Auch Brieg ging also vorwärts! es
war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf
dessen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fort¬
schritt des Lebens mit seinen praktischen Anforderungen,
der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene,
hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem
Wege geräumt.

Als ich bei unsern großen, einförmigen Anstalts¬
gebäuden anlangte, sah ich ganz nah am Eingang unsers
Hauses einen Mann stehn, im weiten Mantel und eine
Fellmütze auf dem Kopfe.

Er stand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen,
während ich mich am Parkgitter des Irrenhauses entlang
ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenschein fiel
ihm in den Rücken, so daß seine Züge im Dunkeln

daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die
ſchleſiſche Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich ein¬
geſargt im tiefen weißen Winterſchnee. Bei dieſem
Wetter waren die winkligen Gaſſen trotz der Weihnachts¬
zeit noch ſtiller, noch menſchenleerer als ſonſt, und in den
Häuſern brannten die Lampen hinter feſt zugezogenen
Vorhängen.

Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten
Laternenſchein nicht gerade viel erkennen, aber das ſah
ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade
die alte charakteriſtiſche Stadtphyſiognomie ſich im Lauf
der Jahre verjüngt zu haben ſchien. Schon vermißte
ich an den ſchmalen alten Häuſern hier und da das
köſtlichſte Giebelwerk, und überall hatte die ſchlechte Glätte
billiger Moderniſierung begonnen, die verfallende Schön¬
heit zu erſetzen. Auch Brieg ging alſo vorwärts! es
war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf
deſſen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fort¬
ſchritt des Lebens mit ſeinen praktiſchen Anforderungen,
der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene,
hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem
Wege geräumt.

Als ich bei unſern großen, einförmigen Anſtalts¬
gebäuden anlangte, ſah ich ganz nah am Eingang unſers
Hauſes einen Mann ſtehn, im weiten Mantel und eine
Fellmütze auf dem Kopfe.

Er ſtand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen,
während ich mich am Parkgitter des Irrenhauſes entlang
ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenſchein fiel
ihm in den Rücken, ſo daß ſeine Züge im Dunkeln

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0124" n="120"/><fw type="pageNum" place="top">&#x2014; 120 &#x2014;<lb/></fw>daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die<lb/>
&#x017F;chle&#x017F;i&#x017F;che Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich ein¬<lb/>
ge&#x017F;argt im tiefen weißen Winter&#x017F;chnee. Bei die&#x017F;em<lb/>
Wetter waren die winkligen Ga&#x017F;&#x017F;en trotz der Weihnachts¬<lb/>
zeit noch &#x017F;tiller, noch men&#x017F;chenleerer als &#x017F;on&#x017F;t, und in den<lb/>
Häu&#x017F;ern brannten die Lampen hinter fe&#x017F;t zugezogenen<lb/>
Vorhängen.</p><lb/>
        <p>Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten<lb/>
Laternen&#x017F;chein nicht gerade viel erkennen, aber das &#x017F;ah<lb/>
ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade<lb/>
die alte charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Stadtphy&#x017F;iognomie &#x017F;ich im Lauf<lb/>
der Jahre verjüngt zu haben &#x017F;chien. Schon vermißte<lb/>
ich an den &#x017F;chmalen alten Häu&#x017F;ern hier und da das<lb/>&#x017F;tlich&#x017F;te Giebelwerk, und überall hatte die &#x017F;chlechte Glätte<lb/>
billiger Moderni&#x017F;ierung begonnen, die verfallende Schön¬<lb/>
heit zu er&#x017F;etzen. Auch Brieg ging al&#x017F;o vorwärts! es<lb/>
war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fort¬<lb/>
&#x017F;chritt des Lebens mit &#x017F;einen prakti&#x017F;chen Anforderungen,<lb/>
der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene,<lb/>
hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem<lb/>
Wege geräumt.</p><lb/>
        <p>Als ich bei un&#x017F;ern großen, einförmigen An&#x017F;talts¬<lb/>
gebäuden anlangte, &#x017F;ah ich ganz nah am Eingang un&#x017F;ers<lb/>
Hau&#x017F;es einen Mann &#x017F;tehn, im weiten Mantel und eine<lb/>
Fellmütze auf dem Kopfe.</p><lb/>
        <p>Er &#x017F;tand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen,<lb/>
während ich mich am Parkgitter des Irrenhau&#x017F;es entlang<lb/>
ihm mehr und mehr näherte. Der Laternen&#x017F;chein fiel<lb/>
ihm in den Rücken, &#x017F;o daß &#x017F;eine Züge im Dunkeln<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0124] — 120 — daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die ſchleſiſche Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich ein¬ geſargt im tiefen weißen Winterſchnee. Bei dieſem Wetter waren die winkligen Gaſſen trotz der Weihnachts¬ zeit noch ſtiller, noch menſchenleerer als ſonſt, und in den Häuſern brannten die Lampen hinter feſt zugezogenen Vorhängen. Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten Laternenſchein nicht gerade viel erkennen, aber das ſah ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade die alte charakteriſtiſche Stadtphyſiognomie ſich im Lauf der Jahre verjüngt zu haben ſchien. Schon vermißte ich an den ſchmalen alten Häuſern hier und da das köſtlichſte Giebelwerk, und überall hatte die ſchlechte Glätte billiger Moderniſierung begonnen, die verfallende Schön¬ heit zu erſetzen. Auch Brieg ging alſo vorwärts! es war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf deſſen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fort¬ ſchritt des Lebens mit ſeinen praktiſchen Anforderungen, der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene, hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem Wege geräumt. Als ich bei unſern großen, einförmigen Anſtalts¬ gebäuden anlangte, ſah ich ganz nah am Eingang unſers Hauſes einen Mann ſtehn, im weiten Mantel und eine Fellmütze auf dem Kopfe. Er ſtand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen, während ich mich am Parkgitter des Irrenhauſes entlang ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenſchein fiel ihm in den Rücken, ſo daß ſeine Züge im Dunkeln

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/124
Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/124>, abgerufen am 24.11.2024.