Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Karl Henckell. Und dennoch bet' ich Voll süßen Grauens Zu deiner Hoheit, Mutter Natur Und schlürfe durstend An deinen vollen, Nährenden Brüsten Milch des Lebens. So leb' denn wohl, du Stätte -- So leb' denn wohl, du Stätte, die dem Müden, Dem Schmerzgeschüttelten noch Labung bot, Traumsüßer Ruhe frohbewegten Frieden Nach qualdurchstürmter, herzensbanger Noth! Ein Hirsch nach Wasser streif' ich auf der Erde, Der durstgequält um kühle Letzung schreit, Verhöhnt, verstoßen von der Bruderheerde, Gehetzt durch grauenvolle Einsamkeit. Wo war ein Ort, da Balsam sich ergossen In meiner Wunden tausendfält'gen Brand? Wann schlug die Stunde je, da ich erschlossen Das stets umsonst gesuchte Eden fand? Der Wahrheit treu seit meinem ersten Fühlen Brach ich zusammen, oft ein irrend Kind, Was konnte mir die Flammenstirne kühlen, Dem tausend Formen tausend Sphinxe sind? Zum Fremdling dieser Erde ward erschaffen, Wen tiefstes Geistessehnen ganz erfüllt, Von Ort zu Ort muß er sich einsam raffen, Vom Trauerflor der Schweigsamkeit verhüllt. Vor Götzenbildern sieht er niedersinken Der Lichtgebor'nen wahnbethörte Schaar, Die Lüge sieht er durch die Menge hinken In schillerndem, vielfaltigem Talar. Er will ein Retter, will ein Heiland werden Und weist empor den Pfad aus Nacht zum Licht, Er trägt des Kreuzes heilige Beschwerden Und kämpft voran, bis Schwert und Leben bricht. Karl Henckell. Und dennoch bet’ ich Voll ſüßen Grauens Zu deiner Hoheit, Mutter Natur Und ſchlürfe durſtend An deinen vollen, Nährenden Brüſten Milch des Lebens. So leb’ denn wohl, du Stätte — So leb’ denn wohl, du Stätte, die dem Müden, Dem Schmerzgeſchüttelten noch Labung bot, Traumſüßer Ruhe frohbewegten Frieden Nach qualdurchſtürmter, herzensbanger Noth! Ein Hirſch nach Waſſer ſtreif’ ich auf der Erde, Der durſtgequält um kühle Letzung ſchreit, Verhöhnt, verſtoßen von der Bruderheerde, Gehetzt durch grauenvolle Einſamkeit. Wo war ein Ort, da Balſam ſich ergoſſen In meiner Wunden tauſendfält’gen Brand? Wann ſchlug die Stunde je, da ich erſchloſſen Das ſtets umſonſt geſuchte Eden fand? Der Wahrheit treu ſeit meinem erſten Fühlen Brach ich zuſammen, oft ein irrend Kind, Was konnte mir die Flammenſtirne kühlen, Dem tauſend Formen tauſend Sphinxe ſind? Zum Fremdling dieſer Erde ward erſchaffen, Wen tiefſtes Geiſtesſehnen ganz erfüllt, Von Ort zu Ort muß er ſich einſam raffen, Vom Trauerflor der Schweigſamkeit verhüllt. Vor Götzenbildern ſieht er niederſinken Der Lichtgebor’nen wahnbethörte Schaar, Die Lüge ſieht er durch die Menge hinken In ſchillerndem, vielfaltigem Talar. Er will ein Retter, will ein Heiland werden Und weiſt empor den Pfad aus Nacht zum Licht, Er trägt des Kreuzes heilige Beſchwerden Und kämpft voran, bis Schwert und Leben bricht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <pb facs="#f0292" n="274"/> <fw place="top" type="header">Karl Henckell.</fw><lb/> <l>Und dennoch bet’ ich</l><lb/> <l>Voll ſüßen Grauens</l><lb/> <l>Zu deiner Hoheit,</l><lb/> <l>Mutter Natur</l><lb/> <l>Und ſchlürfe durſtend</l><lb/> <l>An deinen vollen,</l><lb/> <l>Nährenden Brüſten</l><lb/> <l>Milch des Lebens.</l> </lg> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">So leb’ denn wohl, du Stätte —</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>So leb’ denn wohl, du Stätte, die dem Müden,</l><lb/> <l>Dem Schmerzgeſchüttelten noch Labung bot,</l><lb/> <l>Traumſüßer Ruhe frohbewegten Frieden</l><lb/> <l>Nach qualdurchſtürmter, herzensbanger Noth!</l><lb/> <l>Ein Hirſch nach Waſſer ſtreif’ ich auf der Erde,</l><lb/> <l>Der durſtgequält um kühle Letzung ſchreit,</l><lb/> <l>Verhöhnt, verſtoßen von der Bruderheerde,</l><lb/> <l>Gehetzt durch grauenvolle Einſamkeit.</l><lb/> <l>Wo war ein Ort, da Balſam ſich ergoſſen</l><lb/> <l>In meiner Wunden tauſendfält’gen Brand?</l><lb/> <l>Wann ſchlug die Stunde je, da ich erſchloſſen</l><lb/> <l>Das ſtets umſonſt geſuchte Eden fand?</l><lb/> <l>Der Wahrheit treu ſeit meinem erſten Fühlen</l><lb/> <l>Brach ich zuſammen, oft ein irrend Kind,</l><lb/> <l>Was konnte mir die Flammenſtirne kühlen,</l><lb/> <l>Dem tauſend Formen tauſend Sphinxe ſind?</l><lb/> <l>Zum Fremdling dieſer Erde ward erſchaffen,</l><lb/> <l>Wen tiefſtes Geiſtesſehnen ganz erfüllt,</l><lb/> <l>Von Ort zu Ort muß er ſich einſam raffen,</l><lb/> <l>Vom Trauerflor der Schweigſamkeit verhüllt.</l><lb/> <l>Vor Götzenbildern ſieht er niederſinken</l><lb/> <l>Der Lichtgebor’nen wahnbethörte Schaar,</l><lb/> <l>Die Lüge ſieht er durch die Menge hinken</l><lb/> <l>In ſchillerndem, vielfaltigem Talar.</l><lb/> <l>Er will ein Retter, will ein Heiland werden</l><lb/> <l>Und weiſt empor den Pfad aus Nacht zum Licht,</l><lb/> <l>Er trägt des Kreuzes heilige Beſchwerden</l><lb/> <l>Und kämpft voran, bis Schwert und Leben bricht.</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [274/0292]
Karl Henckell.
Und dennoch bet’ ich
Voll ſüßen Grauens
Zu deiner Hoheit,
Mutter Natur
Und ſchlürfe durſtend
An deinen vollen,
Nährenden Brüſten
Milch des Lebens.
So leb’ denn wohl, du Stätte —
So leb’ denn wohl, du Stätte, die dem Müden,
Dem Schmerzgeſchüttelten noch Labung bot,
Traumſüßer Ruhe frohbewegten Frieden
Nach qualdurchſtürmter, herzensbanger Noth!
Ein Hirſch nach Waſſer ſtreif’ ich auf der Erde,
Der durſtgequält um kühle Letzung ſchreit,
Verhöhnt, verſtoßen von der Bruderheerde,
Gehetzt durch grauenvolle Einſamkeit.
Wo war ein Ort, da Balſam ſich ergoſſen
In meiner Wunden tauſendfält’gen Brand?
Wann ſchlug die Stunde je, da ich erſchloſſen
Das ſtets umſonſt geſuchte Eden fand?
Der Wahrheit treu ſeit meinem erſten Fühlen
Brach ich zuſammen, oft ein irrend Kind,
Was konnte mir die Flammenſtirne kühlen,
Dem tauſend Formen tauſend Sphinxe ſind?
Zum Fremdling dieſer Erde ward erſchaffen,
Wen tiefſtes Geiſtesſehnen ganz erfüllt,
Von Ort zu Ort muß er ſich einſam raffen,
Vom Trauerflor der Schweigſamkeit verhüllt.
Vor Götzenbildern ſieht er niederſinken
Der Lichtgebor’nen wahnbethörte Schaar,
Die Lüge ſieht er durch die Menge hinken
In ſchillerndem, vielfaltigem Talar.
Er will ein Retter, will ein Heiland werden
Und weiſt empor den Pfad aus Nacht zum Licht,
Er trägt des Kreuzes heilige Beſchwerden
Und kämpft voran, bis Schwert und Leben bricht.
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