geschieht, was nur entfallen, nicht vergessen werden kann, was nicht ruht, bis es das Höhere hervorgebracht, das ist erhört. Wohl wuste ich das lange nicht, viele werden es mir nie glau- ben, denn jeglicher muß selbst im Schweis seines Angesichts den Kreis der Zeit um und um bis zum Anfange in sich durchlaufen, ehe er weiß, wie es mit ihr steht und wie mit ihm! -- Was ich unsre Zeit nenne, was in allen lebt, als Methode, was keinem ein Wunder, das fängt mir in der Welt der Nachgedan- ken mit Kirchenliedern an, lange von mir nicht gehört, bleiben sie mir doch gegenwärtig. Ich hörte sie als Kind von meiner Wärterin beym Ausfegen der Zimmer, das in gleichem Zuge sie begleite, mir ward dabey ganz still, ich muste oft an sie denken, jezt mögen Kinder sie seltener hören, und ich weiß nicht, was sie statt ihrer denken mögen. Nachher hörte ich in geselligen Kreisen allerley Lieder in Schulzens Melodieen, wie sie damals in raschen Pulsen des Erwachens sich verbreiteten, mein Hofmeister rühmte sie nächst Gellert, mir war es nur ums Ausschreien darin zu thun, die Langeweile der Welt küm- merte mich nicht. Jezt muß ich sagen, sie sind nicht ohne Bey- stand gewesen gegen das damalige Streben zu Krankheit und Vernichtung (die Sentimentalität *), es war doch darin ein
*) Ich verstehe hier unter Sentimentalität das Nachahmen und Aufsuchen des Gefühls, das Schauspielen mit dem Edelsten, was nur im Spiele damit verloren gehen kann, nicht verstehe ich darunter jene Sentimen- talität, das menschliche Gefühl wie es im Einzelnen sich ausdrückt, wo- gegen die Neuntödter, die philosophischen Schüler wohl schreiben (auch wohl wirken, wenn kein lebendiger Volksgeist es aufhebt), und darinn zusammen kommen, mit der ersten schimpflichen Sentimentalität zu demselben Mittelpunkte, zur Seligkeit eines Steins in Unempfänglich- keit und Unfruchtbarkeit der Lust. Keine Schule ist hiemit besonders bestimmt, sondern alle, denn wie die Begeisterung der Pythia mit Er- mattung verbunden, so den Philosophen die Schüler. Die Philosophen
geſchieht, was nur entfallen, nicht vergeſſen werden kann, was nicht ruht, bis es das Hoͤhere hervorgebracht, das iſt erhoͤrt. Wohl wuſte ich das lange nicht, viele werden es mir nie glau- ben, denn jeglicher muß ſelbſt im Schweis ſeines Angeſichts den Kreis der Zeit um und um bis zum Anfange in ſich durchlaufen, ehe er weiß, wie es mit ihr ſteht und wie mit ihm! — Was ich unſre Zeit nenne, was in allen lebt, als Methode, was keinem ein Wunder, das faͤngt mir in der Welt der Nachgedan- ken mit Kirchenliedern an, lange von mir nicht gehoͤrt, bleiben ſie mir doch gegenwaͤrtig. Ich hoͤrte ſie als Kind von meiner Waͤrterin beym Ausfegen der Zimmer, das in gleichem Zuge ſie begleite, mir ward dabey ganz ſtill, ich muſte oft an ſie denken, jezt moͤgen Kinder ſie ſeltener hoͤren, und ich weiß nicht, was ſie ſtatt ihrer denken moͤgen. Nachher hoͤrte ich in geſelligen Kreiſen allerley Lieder in Schulzens Melodieen, wie ſie damals in raſchen Pulſen des Erwachens ſich verbreiteten, mein Hofmeiſter ruͤhmte ſie naͤchſt Gellert, mir war es nur ums Ausſchreien darin zu thun, die Langeweile der Welt kuͤm- merte mich nicht. Jezt muß ich ſagen, ſie ſind nicht ohne Bey- ſtand geweſen gegen das damalige Streben zu Krankheit und Vernichtung (die Sentimentalitaͤt *), es war doch darin ein
*) Ich verſtehe hier unter Sentimentalitaͤt das Nachahmen und Aufſuchen des Gefuͤhls, das Schauſpielen mit dem Edelſten, was nur im Spiele damit verloren gehen kann, nicht verſtehe ich darunter jene Sentimen- talitaͤt, das menſchliche Gefuͤhl wie es im Einzelnen ſich ausdruͤckt, wo- gegen die Neuntoͤdter, die philoſophiſchen Schuͤler wohl ſchreiben (auch wohl wirken, wenn kein lebendiger Volksgeiſt es aufhebt), und darinn zuſammen kommen, mit der erſten ſchimpflichen Sentimentalitaͤt zu demſelben Mittelpunkte, zur Seligkeit eines Steins in Unempfaͤnglich- keit und Unfruchtbarkeit der Luſt. Keine Schule iſt hiemit beſonders beſtimmt, ſondern alle, denn wie die Begeiſterung der Pythia mit Er- mattung verbunden, ſo den Philoſophen die Schuͤler. Die Philoſophen
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[426[436]/0445]
geſchieht, was nur entfallen, nicht vergeſſen werden kann, was
nicht ruht, bis es das Hoͤhere hervorgebracht, das iſt erhoͤrt.
Wohl wuſte ich das lange nicht, viele werden es mir nie glau-
ben, denn jeglicher muß ſelbſt im Schweis ſeines Angeſichts den
Kreis der Zeit um und um bis zum Anfange in ſich durchlaufen,
ehe er weiß, wie es mit ihr ſteht und wie mit ihm! — Was
ich unſre Zeit nenne, was in allen lebt, als Methode, was
keinem ein Wunder, das faͤngt mir in der Welt der Nachgedan-
ken mit Kirchenliedern an, lange von mir nicht gehoͤrt, bleiben
ſie mir doch gegenwaͤrtig. Ich hoͤrte ſie als Kind von meiner
Waͤrterin beym Ausfegen der Zimmer, das in gleichem Zuge
ſie begleite, mir ward dabey ganz ſtill, ich muſte oft an ſie
denken, jezt moͤgen Kinder ſie ſeltener hoͤren, und ich weiß
nicht, was ſie ſtatt ihrer denken moͤgen. Nachher hoͤrte ich in
geſelligen Kreiſen allerley Lieder in Schulzens Melodieen, wie
ſie damals in raſchen Pulſen des Erwachens ſich verbreiteten,
mein Hofmeiſter ruͤhmte ſie naͤchſt Gellert, mir war es nur
ums Ausſchreien darin zu thun, die Langeweile der Welt kuͤm-
merte mich nicht. Jezt muß ich ſagen, ſie ſind nicht ohne Bey-
ſtand geweſen gegen das damalige Streben zu Krankheit und
Vernichtung (die Sentimentalitaͤt *), es war doch darin ein
*) Ich verſtehe hier unter Sentimentalitaͤt das Nachahmen und Aufſuchen
des Gefuͤhls, das Schauſpielen mit dem Edelſten, was nur im Spiele
damit verloren gehen kann, nicht verſtehe ich darunter jene Sentimen-
talitaͤt, das menſchliche Gefuͤhl wie es im Einzelnen ſich ausdruͤckt, wo-
gegen die Neuntoͤdter, die philoſophiſchen Schuͤler wohl ſchreiben (auch
wohl wirken, wenn kein lebendiger Volksgeiſt es aufhebt), und darinn
zuſammen kommen, mit der erſten ſchimpflichen Sentimentalitaͤt zu
demſelben Mittelpunkte, zur Seligkeit eines Steins in Unempfaͤnglich-
keit und Unfruchtbarkeit der Luſt. Keine Schule iſt hiemit beſonders
beſtimmt, ſondern alle, denn wie die Begeiſterung der Pythia mit Er-
mattung verbunden, ſo den Philoſophen die Schuͤler. Die Philoſophen
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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 426[436]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/445>, abgerufen am 26.06.2024.
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