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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 3. Heidelberg, 1808.

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denheit zu urtheilen. Sollte aber jemand die verschiedenen
Ausdrücke und ungewohnten Redensarten dieser Lieder nach
den Lehrsätzen irgend einer Religion prüfen, und die uner-
forschlichen Wege Gottes mit dem kanonisirten Maaßstabe
der sogenannten Orthodoxie abcirkeln wollen, der wird diese
Ehle an beiden Enden zu kurz finden. Viele werden auch
die hierinn befindlichen Lieder nicht verstehen, viele können
ihnen nicht anstehen. Der in der Welt nur Vergnügen
oder nur Melancholie, oder die Zeit zu vertreiben suchet,
und darum diese Liedlein herlallen wollte, der wird Zeug-
niß darin finden, die seine eitle Ertheiligung bestrafen. So
hat man auch nicht die Meinung, daß man durch Ausge-
bung so vieler Lieder die Weise einiger Werkheiligen billigen
wolle, die entweder für sich allein, oder in Gesellschaft mit
andern, so viele Lieder nach einander daher singen, und
meinen Gott damit einen Dienst zu thun, da doch die äus-
sere Stimme nur ein Ausdruck der inneren Begierde und
Andacht, und dienet mehr zum Dienste dessen, der selbst
anbetet, als eigentlich zum Dienste Gottes. Manche Seele
sitzet oft von aussen unter den Sängern, da sie der Geist
von innen ins Klagehaus führet, äussere menschliche Satzun-
gen gehen oft ganz gegen die inneren Wirkungen des Geistes;
dagegen geschieht gar oft, daß die allergeheimsten Freunde
Gottes inwendig von dem Geiste so getrieben werden, daß
ihre Aeusserung ein Gesang. Das göttliche Wesen ist kein
tönend Erz, noch eine klingende Schelle, aber ein solches
Singen ist kräftig, nicht nur sich selbst in heiliger Andacht
zu erhalten, sondern auch andere, die es hören, zur wah-
ren Andacht zu erwecken. Ja prüfet es und erfahret es,
und der Geist wird zeugen, daß Geist Wahrheit sey!


denheit zu urtheilen. Sollte aber jemand die verſchiedenen
Ausdruͤcke und ungewohnten Redensarten dieſer Lieder nach
den Lehrſaͤtzen irgend einer Religion pruͤfen, und die uner-
forſchlichen Wege Gottes mit dem kanoniſirten Maaßſtabe
der ſogenannten Orthodoxie abcirkeln wollen, der wird dieſe
Ehle an beiden Enden zu kurz finden. Viele werden auch
die hierinn befindlichen Lieder nicht verſtehen, viele koͤnnen
ihnen nicht anſtehen. Der in der Welt nur Vergnuͤgen
oder nur Melancholie, oder die Zeit zu vertreiben ſuchet,
und darum dieſe Liedlein herlallen wollte, der wird Zeug-
niß darin finden, die ſeine eitle Ertheiligung beſtrafen. So
hat man auch nicht die Meinung, daß man durch Ausge-
bung ſo vieler Lieder die Weiſe einiger Werkheiligen billigen
wolle, die entweder fuͤr ſich allein, oder in Geſellſchaft mit
andern, ſo viele Lieder nach einander daher ſingen, und
meinen Gott damit einen Dienſt zu thun, da doch die aͤuſ-
ſere Stimme nur ein Ausdruck der inneren Begierde und
Andacht, und dienet mehr zum Dienſte deſſen, der ſelbſt
anbetet, als eigentlich zum Dienſte Gottes. Manche Seele
ſitzet oft von auſſen unter den Saͤngern, da ſie der Geiſt
von innen ins Klagehaus fuͤhret, aͤuſſere menſchliche Satzun-
gen gehen oft ganz gegen die inneren Wirkungen des Geiſtes;
dagegen geſchieht gar oft, daß die allergeheimſten Freunde
Gottes inwendig von dem Geiſte ſo getrieben werden, daß
ihre Aeuſſerung ein Geſang. Das goͤttliche Weſen iſt kein
toͤnend Erz, noch eine klingende Schelle, aber ein ſolches
Singen iſt kraͤftig, nicht nur ſich ſelbſt in heiliger Andacht
zu erhalten, ſondern auch andere, die es hoͤren, zur wah-
ren Andacht zu erwecken. Ja pruͤfet es und erfahret es,
und der Geiſt wird zeugen, daß Geiſt Wahrheit ſey!


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[205/0215] denheit zu urtheilen. Sollte aber jemand die verſchiedenen Ausdruͤcke und ungewohnten Redensarten dieſer Lieder nach den Lehrſaͤtzen irgend einer Religion pruͤfen, und die uner- forſchlichen Wege Gottes mit dem kanoniſirten Maaßſtabe der ſogenannten Orthodoxie abcirkeln wollen, der wird dieſe Ehle an beiden Enden zu kurz finden. Viele werden auch die hierinn befindlichen Lieder nicht verſtehen, viele koͤnnen ihnen nicht anſtehen. Der in der Welt nur Vergnuͤgen oder nur Melancholie, oder die Zeit zu vertreiben ſuchet, und darum dieſe Liedlein herlallen wollte, der wird Zeug- niß darin finden, die ſeine eitle Ertheiligung beſtrafen. So hat man auch nicht die Meinung, daß man durch Ausge- bung ſo vieler Lieder die Weiſe einiger Werkheiligen billigen wolle, die entweder fuͤr ſich allein, oder in Geſellſchaft mit andern, ſo viele Lieder nach einander daher ſingen, und meinen Gott damit einen Dienſt zu thun, da doch die aͤuſ- ſere Stimme nur ein Ausdruck der inneren Begierde und Andacht, und dienet mehr zum Dienſte deſſen, der ſelbſt anbetet, als eigentlich zum Dienſte Gottes. Manche Seele ſitzet oft von auſſen unter den Saͤngern, da ſie der Geiſt von innen ins Klagehaus fuͤhret, aͤuſſere menſchliche Satzun- gen gehen oft ganz gegen die inneren Wirkungen des Geiſtes; dagegen geſchieht gar oft, daß die allergeheimſten Freunde Gottes inwendig von dem Geiſte ſo getrieben werden, daß ihre Aeuſſerung ein Geſang. Das goͤttliche Weſen iſt kein toͤnend Erz, noch eine klingende Schelle, aber ein ſolches Singen iſt kraͤftig, nicht nur ſich ſelbſt in heiliger Andacht zu erhalten, ſondern auch andere, die es hoͤren, zur wah- ren Andacht zu erwecken. Ja pruͤfet es und erfahret es, und der Geiſt wird zeugen, daß Geiſt Wahrheit ſey!

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Zitationshilfe: Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 3. Heidelberg, 1808, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn03_1808/215>, abgerufen am 18.05.2024.