theilen wollte alle Genüsse. Sie war so zaghaft; eine junge Stiftsdame, die sich fürchtete, das Tischgebet laut herzusagen; sie sagte mir oft, daß sie sich fürchtete, weil die Reihe an ihr war; sie wollte vor den Stifts- damen das Benedicite nicht laut hersagen; unser Zu- sammenleben war schön, es war die erste Epoche, in der ich mich gewahr ward; -- sie hatte mich zuerst aufgesucht, in Offenbach, sie nahm mich bei der Hand und forderte, ich solle sie in der Stadt besuchen; nach- her waren wir alle Tage beisammen, bei ihr lernte ich die ersten Bücher mit Verstand lesen, sie wollte mich Geschichte lehren, sie merkte aber bald, daß ich zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt war, als daß mich die Vergangenheit hätte lange fesseln können; -- wie gern ging ich zu ihr! ich konnte sie keinen Tag mehr missen, ich lief alle Nachmittag zu ihr; wenn ich an die Thür des Stift's kam, da sah' ich durch das Schlüsselloch, bis nach ihrer Thür, bis mir aufgethan ward; -- ihre kleine Wohnung war ebner Erde nach dem Garten; vor dem Fenster stand eine Silberpappel, auf die klet- terte ich während dem Vorlesen; bei jedem Kapitel er- stieg ich einen höheren Ast und las von oben herun- ter; -- sie stand am Fenster und hörte zu, und sprach zu mir hinauf, und dann und wann sagte sie: Bettine,
theilen wollte alle Genüſſe. Sie war ſo zaghaft; eine junge Stiftsdame, die ſich fürchtete, das Tiſchgebet laut herzuſagen; ſie ſagte mir oft, daß ſie ſich fürchtete, weil die Reihe an ihr war; ſie wollte vor den Stifts- damen das Benedicite nicht laut herſagen; unſer Zu- ſammenleben war ſchön, es war die erſte Epoche, in der ich mich gewahr ward; — ſie hatte mich zuerſt aufgeſucht, in Offenbach, ſie nahm mich bei der Hand und forderte, ich ſolle ſie in der Stadt beſuchen; nach- her waren wir alle Tage beiſammen, bei ihr lernte ich die erſten Bücher mit Verſtand leſen, ſie wollte mich Geſchichte lehren, ſie merkte aber bald, daß ich zu ſehr mit der Gegenwart beſchäftigt war, als daß mich die Vergangenheit hätte lange feſſeln können; — wie gern ging ich zu ihr! ich konnte ſie keinen Tag mehr miſſen, ich lief alle Nachmittag zu ihr; wenn ich an die Thür des Stift's kam, da ſah' ich durch das Schlüſſelloch, bis nach ihrer Thür, bis mir aufgethan ward; — ihre kleine Wohnung war ebner Erde nach dem Garten; vor dem Fenſter ſtand eine Silberpappel, auf die klet- terte ich während dem Vorleſen; bei jedem Kapitel er- ſtieg ich einen höheren Aſt und las von oben herun- ter; — ſie ſtand am Fenſter und hörte zu, und ſprach zu mir hinauf, und dann und wann ſagte ſie: Bettine,
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theilen wollte alle Genüſſe. Sie war ſo zaghaft; eine
junge Stiftsdame, die ſich fürchtete, das Tiſchgebet laut
herzuſagen; ſie ſagte mir oft, daß ſie ſich fürchtete,
weil die Reihe an ihr war; ſie wollte vor den Stifts-
damen das Benedicite nicht laut herſagen; unſer Zu-
ſammenleben war ſchön, es war die erſte Epoche, in
der ich mich gewahr ward; — ſie hatte mich zuerſt
aufgeſucht, in Offenbach, ſie nahm mich bei der Hand
und forderte, ich ſolle ſie in der Stadt beſuchen; nach-
her waren wir alle Tage beiſammen, bei ihr lernte ich
die erſten Bücher mit Verſtand leſen, ſie wollte mich
Geſchichte lehren, ſie merkte aber bald, daß ich zu ſehr
mit der Gegenwart beſchäftigt war, als daß mich die
Vergangenheit hätte lange feſſeln können; — wie gern
ging ich zu ihr! ich konnte ſie keinen Tag mehr miſſen,
ich lief alle Nachmittag zu ihr; wenn ich an die Thür
des Stift's kam, da ſah' ich durch das Schlüſſelloch,
bis nach ihrer Thür, bis mir aufgethan ward; — ihre
kleine Wohnung war ebner Erde nach dem Garten;
vor dem Fenſter ſtand eine Silberpappel, auf die klet-
terte ich während dem Vorleſen; bei jedem Kapitel er-
ſtieg ich einen höheren Aſt und las von oben herun-
ter; — ſie ſtand am Fenſter und hörte zu, und ſprach
zu mir hinauf, und dann und wann ſagte ſie: Bettine,
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/108>, abgerufen am 21.11.2024.
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